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Weltstaatlickheit und Migration

Weltstaatlickheit und Migration

 

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Weltstaatlichkeit und Migration

Weltweite autonome Grenzüberquerungen: 
ein Zeichen für oder gegen die Entstehung von Weltstaatlichkeit?

von 

Olivia Diosegi

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Inhaltsverzeichnis


1. Einleitung.

2. Die Kreise des souveränen Nationalstaates 

3. Die Entstehung von Weltstaatlichkeit 

4. Analyse: Migration und Staatlichkeit 

    4.1 Migration als Challenger staatlicher Souveränität?

    4.2 Staatsbürgerlichkeit und Weltstaatlichkeit 

5. Fazit 

6. Literaturverzeichnis 

     

1.Einleitung

Die Entstehung und Wünschbarkeit eines Weltstaates sind spätestens seit Kants „Zum ewigen Frieden“ von 1795 Teil politischer und philosophischer Debatten. Obwohl wir heute keinesfalls in einem Weltstaat leben, sind sich Nationalstaaten, durch die von der Globalisierung geschaffenen Abhängigkeiten, näher als je zuvor. Auch die 2015 verabschiedete „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ der Vereinten Nationen spricht von „Unserer Welt“ und „einer Welt“ und erkennt an, dass die großen Probleme und Entwicklungsziele von heute und morgen, nicht durch die Politik einzelner Nationalstaaten, sondern nur als Kollektiv lösbar sind. „Wir sind entschlossen, die für die Umsetzung der Agenda benötigten Mittel durch eine mit neuem Leben erfüllte Globale Partnerschaft für nachhaltige Entwicklung zu mobilisieren, die auf einem Geist verstärkter globaler Solidarität gründet“ (Vereinte Nationen 2015: 2). Die Theorie und realpolitische Umsetzung liegen hierbei noch weit auseinander. Dennoch, in der globalisierten Welt sind die Nationalstaaten abhängig von einander und anderen globalen Akteuren. Grenzübergreifender Güter- und Warenverkehr, Finanzströme und internationale Abkommen lassen die Grenzen des Nationalstaates verschwimmen. Eine Ausnahme zu der zunehmenden Öffnung der Grenzen stellt die Migration da. Vor allem in den letzten Jahren haben die Staaten Europas oder beispielsweise auch die USA, durch massive Grenzkontrollen, trotz aller gemeinschaftlichen Zielsetzungen deutlich gemacht, dass nationale Grenzen durchaus noch existieren. Es stellt sich die Frage: Sind die zunehmenden migrantischen Bewegungen in der Welt, die sich über die Grenzkontrollen hinwegsetzen, ein Anzeichen für die Erosion des Nationalstaates und ein weiterer Schritt in Richtung Weltgemeinschaft oder zeigt der erbitterte Versuch der Staaten ihre Grenzen zu schützen nur, wie wenig bereit die Staaten tatsächlich sind ihre Souveränität auch nur teilweise aufzugeben und sich als Teil einer Weltgemeinschaft zu verstehen? 

Im Folgenden werde ich zunächst einige Gedanken zur Nationalstaatlichkeit und Souveränität und die veränderten Bedingungen für Staaten in Zeiten der Globalisierung ausführen. Im Anschluss werde ich kurz die politische und philosophische Debatte um den Weltstaat bzw. Weltstaatlichkeit umreißen. Ich werde erklären warum ich in meiner Fragestellung von „Weltstaatlichkeit“ und nicht „Weltstaat“ spreche und diskutieren welche Indizien es für die Entstehung einer solchen Weltstaatlichkeit gibt. Anschließend werde ich mich mit dem Thema Migration im Kontext von Weltstaatlichkeit und Nationalstaatlichkeit beschäftigen und diskutieren ob die Umstände der internationalen Migration als „Challenger von Nationalstaatlichkeit“ verstanden werden können und was dies für die Entwicklung von Weltstaatlichkeit bedeutet. 

2.Die Krise des souveränen Nationalstaates

Der folgende Abschnitt bietet eine kurze Übersicht zu der Rolle der Nationalstaaten im internationalen System, in dem sie agieren und wie sich die die zunehmende Globalisierung auf sie auswirkt.
In den Internationalen Beziehungen gibt es zahlreiche Theorien darüber, wie sich Nationalstaaten auf der internationalen Ebene verhalten. Max Weber definiert den Staat als „[...] diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes- dies: das „Gebiet“, gehört zum Merkmal – das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht“ (Weber 1972: 822). Folglich sieht Weber eine unmittelbare Verbindung zwischen Staatlichkeit und Territorialität (vgl. Krell 2009: 81). Neben der Territorialität ist über den Nationalstaat oft beschrieben worden, „dass ihm eine „Gemeinschaft“ zugrunde liegt, die eine Gemeinschaft der Normen und der Werte, tiefsitzender Reaktionsmuster und Einstellungen ist“ (Stichweh 2007: 32). Wenn also als Folge internationaler Annäherungsprozesse Grenzen stetig zunehmend verschwimmen, so könnte dies als ein Verlust von Staatlichkeit aufgefasst werden. In der heutigen Phase, die Kaul (vgl. 2008: 153) als „Global Governance 3“ beschreibt, steht die territoriale Souveränität zwar weiterhin außer Frage, dennoch ändert sich die Bedeutung von politischer Souveränität. „Die Handlungsperspektiven [...] gehen weit über den traditionellen Nationalstaat hinaus. Damit aber scheint globalisierte Aktivität nicht länger durch den Nationalstaat zähmbar zu sein, dessen konstitutives Prinzip in der territorialen Begrenzung [...] liegt“ (Heise 2005: 230).

Mit der wachsenden Bedeutung von globalen Themen, Interdependenzen und Herausforderungen hat sich die Rolle des Nationalstaates gewandelt, hin zu einem verhandelnden und regulierenden Staat, der auf der Weltbühne in einem anarchischen System agiert (vgl. Albert 2007: 9). „Kapital- und Warenströme, das Internet, Klimawandel, gentechnisch veränderte Lebensmittel: In all diesen Bereichen wurden in den vergangenen Jahren wichtige Schritte in Richtung global Governance und Regimebildung erreicht [...]“ (Rother 2010: 410). Die Internationalisierung stellt die Staaten vor die Herausforderung ihre territoriale Souveränität zu wahren, während sie gleichzeitig empfänglich sein müssen für internationale Handels- und Finanzströme, denn die Globalisierung erschwert die Bereitstellung von Gütern innerhalb des Nationalstaates (vgl. Heise 2005: 230). Das Verständnis von „Staat“ hat sich über Jahrhunderte immer wieder gewandelt. Der durch Territorialität definierte Nationalstaat scheint am Ende seiner Entwicklung angekommen, doch das bedeutet nicht zwangsläufig die Entstehung eines Weltstaates (vgl. Voigt 2018: 5).

3.Die Entstehung von Weltstaatlichkeit

Ein Weltstaat im Sinne eines globalen Nationalstaates mit einer Weltregierung existiert nicht. Ob eine Entstehung eines solchen Weltstaates in der Zukunft möglich und wünschenswert ist, wird auf philosophischer Ebene spätestens seit Kants „Zum ewigen Frieden“ diskutiert. Aus politischer Sicht ist man heute noch immer weit entfernt von einem Weltstaat, im Sinne eines weltweiten Nationalstaats mit einer Weltregierung zu sprechen (vgl. Albert 2007: 9). Das Verhältnis von Nationalstaatlichkeit und dem internationalen System wurde im Abschnitt zuvor bereits erläutert. Der Wunsch nach territorialer Kontrolle und einer scheinbaren Kollektivität stehen dabei im Konflikt mit der zunehmenden Globalisierung und globalen Zusammenarbeit. Der Folgende Abschnitt diskutiert die zunehmende Entwicklung von Weltstaatlichkeit.

Immanuel Kant erkannte in seinen Gedanken zu einem Zusammenschluss von Staaten, die Diskrepanz zwischen dem was nötig wäre, um Frieden zu schaffen, nämlich eine Weltrepublik zu etablieren und der realistischen Umsetzbarkeit einer solchen. Da die Staaten in der Praxis nicht willens seien ihre Souveränität aufzugeben bliebe laut Kant nur ein loser Völkerbund um zumindest temporären Frieden zu ermöglichen (vgl. Wagner 2014). Da ein Weltstaat als Ersatz für Nationalstaaten, in weiter Ferne scheint und die Wünschbarkeit dessen (u.a. von Kant) kritisch betrachtet wird, möchte ich hier erstmal von der Erreichung von Weltstaatlichkeit sprechen. Also der Entwicklung eines Gefühls der Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit zur gesamten Welt. Weltstaatlichkeit und Weltbürger*innen soll dabei als Ergänzung zur nationalen Identität verstanden werden, denn die existiert eben nach wie vor. Weltstaatlichkeit wie es auch bei der Europäische Union der Fall ist, impliziert kein Verschwinden von Nationalstaatlichkeit (vgl. Albert 2007: 11). In diesem Sinne könnte man von einem „Mehrebensystem ineinander geschachtelter Staatlichkeit“ sprechen (Stichweh 2007: 28). Da Weltstaatlichkeit also nebenher existieren kann, könnten sich theoretisch Indizien für eine zunehmende Entstehung von Weltstaatlichkeit finden lassen. Auch die Europäische Union ist kein Staat, sondern ein System sui generis, das die Zugehörigkeit zu einer nationalen und europäischen Gesellschaft ermöglicht. Die Europäische Identität kämpft dabei allerdings ständig um ich Bestehen gegenüber nationalen Identifikationsmustern und regionalen Zugehörigkeiten.

Auch die Vereinten Nationen brechen mit der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ 1948 mit nationaler Gemeinschaftlichkeit auf und ergänzen sie durch das Ziel eines universellen Rechts, welches ausnahmslos für alle Menschen der Erde gelten soll. Kant beschreibt in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ eine ähnliche Entwicklung einer globalen Gemeinschaft, die dazu führt, „daß die Rechtsverletzungen an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird“ (Kant 1795: 217). Für die Annäherung zu einer Weltgemeinschaft benötigt es ein kollektives Interesse. Die UNO begründet sich auf dem Schutz der Menschenrechte und dem Ziel der Generierung von möglichst dauerhaftem Frieden. Auch die EU basiert auf einer Wertegemeinschaft und dem Interesse nach Frieden und Zusammenarbeit. Regionale Integration kann somit als Annäherung zu Weltstaatlichkeit verstanden werden (vgl. Philosophy for Future 2020). Die Frage nach der Entwicklung einer Weltgemeinschaft oder Weltkultur ist eine höchst sensible und komplizierte. Bei Alexander Wendt führt das unausweichlichen Ringen der Staaten um Anerkennung und einer daraus formenden kollektiven Identität als logische Konsequenz zum Weltstaat (Albert 2007: 14). Einige Autoren verweisen auf das Fehlen eines „Weltdemos“, dass über die Existenz einer Weltöffentlichkeit hinaus geht. Über die Möglichkeit der Herausbildung eines globalen Demos ist man sich uneinig (vgl. Barišić 2018: 18). Aus philosophischer Sicht besteht die Lösung der fehlenden gemeinschaftlichen Identität in der Gründung einer weltphilosophischen Parteibewegung, die sich supranational über Grenzen hinweg für das Schicksal der Menschheit einsetzt (vgl. Philosophy for Future 2020).
Für die Entstehung eines Weltstaates stellt sich die Frage, ob ein Staatenbund und supranationale Organisation wie die UNO die Leistungen des Nationalstaates auf globaler Ebene wiederholen kann, ein Problem, an dem einst der Völkerbund scheiterte (vgl. Stichweh 2007: 33). Die Vereinten Nationen haben einige Erfolge im Bereich Sicherheit, Frieden und Menschenrechte vorzuweisen, stehen allerdings vor einem inneren Paradoxon. Die UNO hat Weltstaatlichkeit geschaffen indem sie die Staaten der Welt zusammengebracht und gemeinsamen Zielen und Verträgen verpflichtet hat. Allerdings sind es eben diese Staaten, die den Vereinten Nationen ihre Macht verleihen. Die häufige Handlungsohnmacht der UNO resultiert aus widersprüchlichen Richtlinien (zum Beispiel das Interventionsverbot gegenüber der „Responsibility to protect“) und der Tatsache, dass die Nationalstaaten über Handlungen entscheiden, und die Entscheidungen meist mit Blick auf die eigenen nationalen Interessen treffen (zum Beispiel durch ständige Blockaden von Mitgliedern des Sicherheitsrates). In diesem Sinne könnte vielleicht auch die Agenda 2030 verstanden werden, derer die Nationalstaaten der Welt sich verpflichteten. Sie unterschrieben Maßnahmen zu der Entwicklung einer gerechten und gemeinschaftlichen Welt, derer ein Verständnis von Weltgemeinschaft unterliegt, doch sie ratifizierten diese als Nationalstaaten. Dennoch gilt, wo Nationalstaaten Souveränität abgeben und politische Macht auf die internationale Ebene verlagern, wird ein Schritt zu Weltstaatlichkeit getan. „So verstehen neuere soziologische und politikwissenschaftliche Annäherungsversuche an das Thema den Weltstaat dezidiert als eine Manifestation einer globalen Staatlichkeit, die sich zu anderen - wenngleich nicht notwendigerweise allen - Formen von Staatlichkeit inklusiv verhält“ (Albert 2007: 14).

Die Entwicklung von Weltstaatlichkeit nimmt auch dann zu, wenn einzelne Nationalstaaten sich dagegen zu wehren versuchen. Dazu gehört zum Beispiel, dass die Staaten der Welt sich zu der Gründung einer internationalen Strafgerichtsbarkeit entschieden haben, und das obwohl einer der vermeintlich mächtigsten Staaten der Welt, die USA, die Errichtung des Strafgerichtshof in Den Haag zu verhindern suchten (vgl. Albert 2007: 16).
In der Europäischen Union sehen wir zwar ein verschwimmen von Grenzen innerhalb Europas, aber dennoch eine Abschottung nach außen hin. Die zunehmende Globalisierung möglich zu machen und gleichzeitig die eigene Souveränität zu wahren stellt die Nationalstaaten vor ein Dilemma, das sich zum Beispiel vermehrt beim Thema Migrationspolitik äußert. Ob die zunehmenden migrantischen Bewegungen und der Kontrollverlust der Grenzregime als Indiz für eine Entwicklung zu Weltstaatlichkeit verstanden werden kann soll im Folgenden diskutiert werden.

4.Analyse: Migration und Staatlichkeit

4.1 Migration als Challenger der staatlichen Souverät

Migration ist ein Prozess, der keinesfalls neu ist, jedoch haben im Zuge der Globalisierung weltweite Migrationsbewegungen zugenommen und das Interesse an Migrationspolitik geweckt (vgl. Benz u. Schwenken 2005: 364). Besonders seit dem Sommer der Migration 2016 als Millionen Migrant*innen ihren Weg nach Europa fanden, dominiert die Migrationspolitik öffentliche Debatten.

Politik in Zeiten der Globalisierung ist geprägt vom Abwägen zwischen der Öffnung gegenüber globalen Märkten und der von Kontrolle von nationalen Interessen. Für die Nationalstaaten resultieren daraus besondere Herausforderungen. „Die staatlich verfasste ‘Volkssouveränität’ erscheint im Globalisierungsdiskurs prekär“ (Benz u. Schwenken 2005: 366). Dabei verhalten sich Staaten scheinbar anders gegenüber Migranten*innen als beispielsweise gegenüber Waren- und Finanzströmen. Wo Grenzen verschwimmen sehen Nationalstaaten ihre Souveränität in Gefahr. „Die Globalisierung veränderte das Spannungsfeld von Migration und Nationalstaat in ganz besonderer Weise. Sie brache alte ‘volkswirtschaftliche’ Strukturen auf und sprengte die Territorialität nationalen Rechts“ (Straubhaar 2003: 76). Vor allem die ungeregelte Grenzüberquerung von Migrant*innen wird als eine Gefahr für die staatliche Souveränität betrachtet. Im Folgenden soll diskutiert werden ob das 

Verhältnis von Staat und Migration für oder gegen eine Entwicklung von Weltstaatlichkeit spricht.

„Zum einen kann Migration als Globalisierungsphänomen par excellence angesehen werden, das durch seinen transnationalen Charakter das „Container-Modell“ des Nationalstaates in Frage stellt. Zum anderen werden aber die entry- und exit-Regeln für diesen Container als Kernkompetenz des Nationalstaates angesehen- und Migrationskontrolle als letzte Bastion staatlicher Souveränität“ (Rother 2010: 411). Migrationsbewegungen als eine Folge von Globalisierung, steht in einem Spannungsverhältnis mit der Rolle von Kontrolle und Macht über die sich der Nationalstaat traditionell definiert. Bei der Migrationskontrollpolitik geht es um das Verhältnis von Migration und Staat und den Wandel der Bedeutung von Staatlichkeit (vgl. Benz u. Schwenken 2005: 366). Die besondere Aggressivität die vor allem ungeregelter Migration von staatlicher Seite entgegenkommt hängt also zusammen mit dem Wunsch der Nationalstaaten ihre territoriale Souveränität zu wahren, obwohl sie diese an anderer Stelle ja teilweise bereits (mehr oder weniger) freiwillig abgetreten haben.

Dass Nationalstaaten so unwillig sind weitere Souveränität abzugeben scheint erstmal gegen die Entstehung von Weltstaatlichkeit zu sprechen. Vor allem weil es grade, wenn es um Migrant*innen mit Fluchthintergrund geht im Interesse des humanitären „einen Welt“ Gedanken wäre, Menschen aus aller Welt gleichermaßen zu behandeln und aufzunehmen. Eine Weltgemeinschaft, die sich um alle Mitglieder*innnen sorgt ist eine zentrale Voraussetzung für Weltstaatlichkeit und einen hypothetischen zukünftigen Weltstaat. Der moderne Staat begründet seine geschlossene Territorialität auf der Existenz einer kulturellen Geschlossenheit, die aus heutiger Sicht als höchst unrealistisch erscheint (vgl. Stichweh 2007: 29). Wenn also als Folge internationaler Annäherungsprozesse und Interdependenzen Grenzen immer weiter verschwimmen, so wird dies als ein Verlust von Kontrolle und Souveränität des Staates aufgefasst. Aber es wird auch deutlich, dass an anderer Stelle der Prozess der Internationalisierung und globalen interdependenten Vernetzung schon so weit fortgeschritten ist, dass ein Souveränitätsverlust für den Nationalstaat unausweichlich scheint. Migrationskontrolle ist für den „Container Nationalstaat“ die letzte Bastion staatlicher Souveränität (vgl. Rother 2010: 409).

Der verzweifelte Versuch der Nationalstaaten Kontrolle über Migrationsbewegungen (zurück-)zuerlangen zeigt, dass sie nicht bereit sind den „eine Welt“ Gedanke umzusetzen. Es zeigt aber auch, dass es möglicherweise nicht in ihrer Hand liegt. „Die heutige Weltordnung lässt sich mit dem souveränitätsbasierten Modell der Einzelstaatenwelt nicht mehr ausreichend erfassen. Dafür haben sich auf der normativen Ebene, auf der Ebene der Institutionalisierung und auf der Ebene der Akteure zu viele bedeutende staatenübergreifende Veränderungen ergeben“ (Krell u. Schlotter 2015).

Der analytische Ansatz der „Autonomie der Migration“, der seinen Ursprung im italienischen Operaismus hat (vgl. Benz u. Schwenken 2005: 367), geht davon aus, dass die Staaten die Kontrolle über Migrationsprozesse bereits verloren haben. Der Analyseansatz nimmt einen Perspektivwechsel vor und setzt das Handeln der Migrant*innen in den Mittelpunkt, die durch ihre eigens motivierten Bewegungen den Migrationsfluss bestimmen. Das Handeln der Migrant*innen wird damit zu einer politischen Praxis, die durch die Praxis der Grenzüberwindung den Nationalstaat und seine vermeintlich Kontrollhoheit herausfordert (vgl. Benz u. Schwenken 2005: 367). Folgt man der Autonomie der Migration, dann sind migrantische Bewegungen eine klare Herausforderung des Prinzips von Staatensouveränität und territorialer Kontrolle. Die zunehmende Militarisierung der Grenzen und Intensivierung von Kontrollen wird dabei als Reaktion auf die Autonomie der Migration verstanden, die aber Migrationsflüsse schlussendlich nicht verhindern kann (vgl. Benz u. Schwenken 2005: 369). Dass die Handlungsmacht hier beim Menschen und nicht beim Staat liegt, ist ein Indiz für die zunehmende Erosion des Nationalstaates und die Unausweichlichkeit der Entstehung von mehr Weltstaatlichkeit. Bisher bleibt die Hoffnung auf eine solidarischere Welt wie sie in der Agenda 2030 beschrieben wird „zutiefst kontaminiert“ (Krell u. Schlotter 2015), doch Migrant*innen die Grenzen mit dem Ziel eines besseren Lebens überqueren, fordern ihr Recht auf Solidarität ein.

 4.2 Staatsbürgerlichkeit und Weltstaatlichkeit

Die Tatsache, dass durch das Prinzip der Staatsbürgerschaft Menschen bestimmten Nationen zugeordnet werden, die für sie verantwortlich sind, steht der Idee der Weltstaatlichkeit im Weg. Nationale Identifikationsmuster können zwar parallel bestehen, wie es auch in Europa der Fall ist, wenn aber Staatsbürgerschaft die Zugehörigkeit bzw. Ausgrenzung zu einer bestimmten Gruppe bedeutet, behindert dies die Entstehung einer kollektiven globale Gemeinschaft. Weltstaatlichkeit benötigt somit das Verständnis des Menschen als Weltbürger*innen. Die Europäische Union hat durch ihre innere Grenzpolitik Nationalstaatlichkeit teilweise aufgebrochen und Grenzen verschwimmen lassen wie an kaum einem anderen Ort. Nach außen hin grenzt sich die „Festung Europa“ allerdings massiv ab. Weltbürgerlichkeit wird somit durch die Existenz von Grenzen verhindert.


Kants Forderung nach dem Weltbürgerrecht, beschreibt das Recht alle Gegenden der Erde besuchen zu dürfen und dort als Gast empfangen zu werden, das als eine Art moralisches Recht überall dort gilt, wo es nicht mit dem Bodenrecht eines anderen in Konflikt gerät (vgl. Nusser 2004: 356). Kants Beschreibung des Weltbürgerrechts als eine Art Naturrecht (vgl. Nusser 2004: 356) bei gleichzeitiger Gültigkeit einer Art Rechts der territorialen Souveränität, ist besonders spannend. Es spiegelt den heutigen Konflikt zwischen den universell geltenden Menschenrechten und der Souveränität der Staaten wider, die sich das Recht vorbehalten ihre Grenzen zu kontrollieren. Migranti*innen, die unkontrolliert Grenzen überqueren, fordern das Staatbürgerkonstrukt heraus: „Non-citizens, it would seem, call into question the ‘limits of the sovereign state’. By crossing borders, particularly if they do so without proper documentation or permission, they suggest, that the barrier may be a figment of our imagination or perhaps an unrealizable dream” (Bosworth 2008: 210). Wenn sich laut Weber der Staat über sein territoriales Machtmonopol definiert (vgl. Weber 1972: 822), scheint es eine logische Konsequenz des Nationalstaates seine externen Grenzen deutlich definieren zu wollen. Dies steht jedoch im Konflikt mit der zunehmenden Öffnung der Staaten gegenüber der globalisierten Welt. Als im Sommer 2016 Millionen Migrant*innen Europas Grenzen passierten, reagierte nicht nur die Politik, sondern auch die Zivilgesellschaft, in deren Bewusstsein die Migrant*innen rückten. Sie erzeugten somit bei den Menschen innerhalb Europas eine Auseinandersetzung mit dem Rest der Welt, eine Art Zwangskonfrontation mit Menschen aus aller Welt.

Das Problem der Staatsbürgerschaft und der unausweichlichen Zusammengehörigkeit von Bürger*in und Staat wurde bereits von Hannah Arendt kritisiert, die in dem Schicksal Staatenloser (meist Flüchtlinge) den Zustand absoluter Rechtslosigkeit sah, der auch durch die Menschenrechte nicht verbessert werden konnte, da diese eben auch vom Staat selbst geschützt und praktiziert werden müssten. In einem System souveräner Nationalstaaten kann laut Arendt nur ein Angehöriger eines Nationalstaates dessen Schutz genießen (vgl. Förster 2009). „[W]er immer einmal die Rechte, die in der Staatsbürgerschaft garantiert waren, verloren hatte, blieb rechtlos“ (Arendt 2001: 560 zitiert in Förster 2009). Die Menschenrechte sind von ihrem Charakter her universell und sollten auf der ganzen Welt dieselbe Gültigkeit haben, faktisch hängen sie aber wie jedes Recht mit dem Nationalstaat zusammen, der diese achtet oder nicht. Die Flüchtlinge und Staatenlose offenbaren für Arendt die „Zerrüttung des Nationalstaates“ (Arendt: 436 in Schulze Wessel 2016: 27). Die wachsende Zahl an Staatenlose sah Arendt als Bedrohung für die gesamte Menschheit an (vgl. Schulze Wessel 2016: 27). Eine gemeinsame Welt muss sich auf der Gemeinschaft der Menschen begründen. Solange Menschenrechte an Staaten geknüpft sind und Zugehörigkeit zu einem Staat den Rechtstatus definiert scheint eine solidarische Weltgemeinschaft fern. „Zivilgesellschaft und Weltöffentlichkeit allein, können nicht die Rolle des Demos übernehmen“ (Barišić 2018: 18). Migrant*innen tragen jedoch Weltstaatlichkeit unweigerlich mit sich, wenn sie staatliche Grenzen passieren.

Die Globalisierung macht Staatsbürgerschaft zu einer Art „Klubmitgliedschaft“, die es den Nationalstaaten ermöglicht bestimmte Güter nur mit „Mitglieder*innen“ des Klubs zu teilen und nicht-Mitglieder zum Beispiel Migrant*innen außenvorzulassen (vgl. Straubhaar 2003: 80). Die daraus resultierende Exklusivität ist ein klares Anzeichen gegen die Entstehung von Weltstaatlichkeit. Es gibt keine ethischen Gründe einige Individuen als Zweck an sich selbst zu betrachten und andere nicht (vgl. Philosophy for Future 2020 b). Nationalstaaten müssten folglich allen Menschen dieselben Rechte einräumen, um die Universalität der Menschenrechte tatsächlich zu generieren bzw. alternativ Menschenrechtspolitik an die Weltebene delegieren. Dies würde wiederum zu einer zunehmenden Entwicklung von Weltstaatlichkeit führen. Nationalstaaten müssten als Konsequenz auf Teile ihrer Souveränität verzichten, wenn es um Themen geht, die das öffentliche Leben der gesamten Menschheit betreffen (vgl. Philosophy for Future 2020b). Staatsbürgerschaftkonstrukte und Migrationskontrollpolitik passen in diese Entwicklung nicht rein und behindern sie zum Zweck des Macht- und Kontrollerhalts des Nationalstaats, Migrationsbewegungen wiederum fordern sie heraus und leisten einen Beitrag zu zunehmender Weltstaatlichkeit.

5.Fazit

Die vorangegangene Diskussion über (Welt-)Staatlichkeit und Migration hat zweierlei gezeigt. Zum einen ist deutlich geworden, dass die Nationalstaaten in ihrer prekären Situation ihre Souveränität nicht freiwillig aufgeben und es sich viel um ein Prozess handelt, der sich genauso wie die Globalisierung aus den zunehmenden Interdependenzen und Vernetzung entwickelt. Zweitens wird deutlich, dass die Staaten nur begrenzt Kontrolle über diesen Prozess haben.

Migrationsbewegungen leisten einen entscheidenden Beitrag dabei Grenzen weiter verschwimmen zu lassen und zu einer voranschreitenden Entstehung von Weltstaatlichkeit beizutragen. Es sind die Nationalstaaten gewesen, die die Agenda 2030 ratifiziert haben und sich verpflichtet haben auf der „gemeinsamen Reise [...] niemanden zurückzulassen“ (Vereinte Nationen 2015: 3). Aktuell wird Weltstaatlichkeit vor allem auf dem Papier gelebt, realpolitisch versuchen die Staaten weiterhin so viel Kontrolle wie möglich zu behalten. „Was fehlt, ist eine entsprechende Selbstbeschreibung des politischen Systems der Weltgesellschaft. Deren Entstehung ist gegenwärtig nicht zu beobachten. Die Möglichkeit ihrer Herausbildung erscheint aber alles andere als abwegig“ (Albert 2007: 19). Migrant*innen die die Kontrollfähigkeit von Nationalstaaten herausfordern leisten einen zentralen Beitrag zu der Entstehung einer Weltgesellschaft, die mit nationalen Zugehörigkeiten aufbricht und gleichzeitig kulturelle Vielfalt verbreitet, sodass zunehmende Weltstaatlichkeit als logischer nächster Schritt erscheint. Dabei schließt Weltstaatlichkeit die Existenz regionaler Zugehörigkeiten nicht aus, solange diese sich ebenso inklusiv verhalten.

Es scheint unzureichend bloß von Weltgemeinschaft zu reden, großen Teilen der Menschen aber gleichzeitig den Zugang zur eigenen Gemeinschaft zu verwehren. Es stellt sich die Frage, wie lange eine Politik haltbar ist, die von Gemeinschaft und einer Welt spricht, real-politisch aber nicht bereit ist, die nötigen Konsequenzen zu ziehen um eben Ziele wie die Agenda 2030 und den Schutz der Menschenrechte zu mehr als nur Symbolpolitik zu machen. Eine gemeinsame Welt muss sich auf der Gemeinschaft der Menschen begründen. Indem man einzelnen Individuen den Zugang verwehrt, verhindert man, dass sich eine Weltgemeinschaft tatsächlich entwickeln kann. „Zivilgesellschaft und Weltöffentlichkeit allein, können nicht die Rolle des Demos übernehmen“ (Barišić 2018: 18).

Die Nationalstaaten sind augenscheinlich noch nicht bereit für die „eine gemeinsame Welt“ die nötigen politischen Konsequenzen zu ziehen. Zugleich bedeutet die Autonomie der Migration jedoch auch, dass alte Strukturen auf die Probe gestellt werden und das Ziele wie sie in der Agenda 2030 formuliert wurden nur gemeinsam umsetzbar sind und dies auch zunehmenden eingefordert wird. Was fehlt ist aktuell die Beziehung „zwischen materieller und kommunikativer Globalisierung auf der einen und politischer oder gar moralischer Vergemeinschaftung auf der anderen Seite“ (Krell u. Schlotter 2015).

6. Literaturverzeichnis

Albert, Mathias (2007): Einleitung: Weltstaat und Weltstaatlichkeit: Neubestimmungen des Politischen in der Weltgesellschaft in: Weltstaat und Weltstaatlichkeit. Beobachtungen globaler politischer Strukturbilder, Albert, Mathias u. Rudolf Stichweh (Hrsg.), S. 9-23

Barišić, Pavo (2018): Reichweite und Aporien kosmopolitischer Demokratie in: Kosmopolitische Demokratie: Ottmann, Henning u. Barišić, Pavo (Hrsg.), Nomos, 1. Auflage, Baden-Baden, S. 13-36

Benz, Martina u. Schwenken, Helen (2005): Jenseits von Autonomie und Kontrolle: Migration als eigensinnige Praxis: PROKLA Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaften, Heft 140, 35. Jg., 2005, Nr. 3, S. 363-377 [online] https://doi.org/10.32387/prokla.v35i140.589 (letzter Zugriff 12.09.20)

Bosworth, Mary (2008): Border Control and the Limits of the Sovereign State: Social & Legal Studies, SAGE Publications, Los Angeles, Vol. 17 (2), S. 199-215 [online] https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/0964663908089611 (letzter Zugriff 12.09.20)

Förster, Jürgen (2009): Das Recht auf Rechte und das Engagement für eine gemeinsame Welt. Hannah Arendts Reflexionen über die Menschenrechte in: Zeitschrift für politisches Denken, Bd. 5, Nr. 1, [online] http://www.hannaharendt.net/index.php/han/article/view/146/258 (letzter Zugriff 11.09.20) (letzter Zugriff 13.09.20)

Heise, Arne (2005): European Economic Governace - Wirtschaftspolitik jenseits der Nationalstaaten: Wirtschaftsdienst Nr. 4, S. 230-237 [online] https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s10273-005-358-y.pdf (letzter Zugriff 13.09.20)

Kant, Immanuel (1795): Zum ewigen Frieden, Ein philosophischer Entwurf: DB Sonderband: 100 Werke der Philosophie, Kant-W Bd. 11, S. 195-251 [online] https://homepage.univie.ac.at/benjamin.opratko/ip2020/kant.pdf (letzter Zugriff 11.09.20)

Kaul, Inga (2008): Auf dem Weg zum Weltstaat?, Global Governance 3: Am Beginn einer neuen Ära internationaler Kooperation: IP Juli/August 2008, S. 146-153 [online] https://www.ingekaul.net/wp-content/uploads/2014/01/Auf-dem-Weg-zum-Weltstaat.pdf (letzter Zugriff 10.09.20)

Krell, Gert (2009): Weltbilder und Weltordnung, Einführung in die Theorie der internationalen Beziehungen, 4. Auflage, Baden-Baden

Krell, Gert u. Schlotter, Peter (2015): Weltbilder und Weltordnung in den internationalen Beziehungen, Weltstaat und Global Governance: Politik und Zeitgeschichte APUZ 41-42/2015, Bundeszentrale für politische Bildung [online] https://www.bpb.de/apuz/212827/weltbilder-und-weltordnung-in-den-internationalen-beziehungen?p=2 

Nusser, Karl-Heinz (2004): Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ und der Weltstaat in: Die neue Ordnung, Nr. 5/2004, Oktober, 58. Jahrgang, S. 353-364

Philosophy For Future (2020): Kosmopolitische Weltzukunft- Eingang und Hauptprinzipien [online] https://www.philosophyforfuture.org/de/news-46/kosmopolitische-weltzukunft.html (letzter Zugriff 10.09.20)

Philosophy For Future (2020b): Kosmopolitische Weltpolitik - Eingang und Hauptprinzip [online] https://www.philosophyforfuture.org/de/news-6/kosmopolitische-weltpolitik.html (letzter Zugriff 15.09.20)

Rother, Stefan (2010): „Inseln der Überzeugung“ nicht in Sicht: Der Nationalstaat, NGOs und die globale Governance von Migration: Zeitschrift für Politikwissenschaften 20. Jahrgang, Heft 3-4, S. 409-439 [online] https://doi.org/10.5771/1430-6387-2010-3-4-409 (letzter Zugriff 09.09.20)

Schulze Wessel, Julia (2016): Flüchtlinge als Figuren totaler Exklusion: Hannah Arendt in: Grenzfiguren – Zur politischen Theorie des Flüchtlings, S. 24-54 [online] https://doi.org/10.14361/9783839437568-002 (letzter Zugriff 14.09.20)

Stichweh, Rudolf (2007): Dimensionen des Weltstaats im System der Weltpolitik in: Weltstaat und Weltstaatlichkeit. Beobachtungen globaler politischer Strukturbilder, Albert, Mathias u. Rudolf Stichweh (Hrsg.), S. 26-36

Straubhaar, Thomas (2003): Wird die Staatsangehörigkeit zu einer Klubmitgliedschaft? In: Migration im Spannungsfeld von Globalisierung und Nationalstaat, Sonderheft 22, S. 76-89

Vereinte Nationen (2015): Resolution der Generalversammlung, verabschiedet am 25. September 2015

Voigt, Rüdiger (2018): Editorial in: Kosmopolitische Demokratie: Ottmann, Henning u. Barišić, Pavo (Hrsg.), Nomos, 1. Auflage, Baden-Baden, S. 5-6

Wagner, Helmut (2014): Das Kant Dilemma- Sein „Weltstaat“. Wie lässt sich heute eine Weltgemeinschaft denken? [online] http://www.kant-online.ru/en/?p=502 (letzter Zugriff 11.09.20)

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