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2020a: DIE GEISTIGE BEDEUTUNG EUROPAS ALS PHILOSOPHISCHER BEGRIFF

2020a: DIE GEISTIGE BEDEUTUNG EUROPAS ALS PHILOSOPHISCHER BEGRIFF

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2020a

(FEbruar)

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 DIE GEISTIGE BEDEUTUNG EUROPAS
ALS PHILOSOPHISCHER BEGRIFF

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Aufsatz auf Deutsch
(Or. Italienisch)

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Link zum gedruckten Text 
(Italienisch)

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Digitaler Text: siehe hier unten

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Abstract
Europe has always been the philosophical and political centre of the world. On its territory are elaborated those theories, which then give life to the various social, economic and political systems worldwide. So it was last for liberalism and communism. The reason for this lies in the fact that the European territory was the seat of the birth and development of philosophical thought, from which theories originated. 
The first part of the essay deals with the question of whether Europe has not given the world a synthetic theory of mediation between liberalism, which is based on the individual, and communism, which instead puts the state first. In the philosophical thought that originates in Kant and finds its highest expression in Hegel, the positive response to this question is identified. In particular, Hegel’s ethicalpolitical philosophy, appropriately interpreted and actualized, seems to be decisive in this regard.
The second part of the essay, reflecting on the concept of Europe, as this continental state structure, having no clear boundaries clearly delineated, is intended as an open state, therefore a world state that as such corresponds to the philosophical concept of state. Thus, Europe has the historical sense of constituting itself as a philosophical state founded on peace and interhuman recognition and as such has a very high historical mission yet to be accomplished.

Keywords: European Identity, Cosmopolitanism, World State, Capitalism, Socialism, Communism.

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1. Das Problem des Verzichts auf die nationale Souveränität und der philosophische Sinn Europas  

Der europäische Einigungsprozess befindet sich in einer offensichtlichen Krise, die uns einlädt, über seinen philosophischen Sinn nachzudenken. Aus rein politischer Sicht muss in der Tat gesagt werden, dass am Ende wahrscheinlich viele, wenn nicht sogar alle Staaten, die der Europäischen Union angehören, nicht damit einverstanden sein werden, vollständig auf ihre nationale Souveränität zu verzichten. Dies wird jedoch notwendig sein, wenn früher oder später der Schritt von einer Wirtschaftsunion zu einer richtigen politischen Union gelingen soll.

Wenn wir also wollen, dass die einzelnen europäischen Staaten eines Tages eine so schwierige und zumindest zunächst schmerzhafte Wahl treffen, ist es notwendig, eine Motivation zu identifizieren, die stärker ist als die der Wirtschaft und die der Politik. 

Nur eine philosophische Motivation kann diese Anforderungen erfüllen, da eine wirtschaftliche Motivation bei vielen Staaten, welche als Nationalstaaten bereits einen gewissen Wohlstand erreicht haben, nicht genügen könnte.

Aus diesem Grund ist das eigentliche Problem des gegenwärtigen europäischen Einigungsprozesses weniger auf wirtschaftlicher oder politischer Ebene, sondern vielmehr im kulturellen, spirituellen und daher letztendlich philosophischen Bereich zu suchen.

2. Der Begriff ‘Europa’

Um die Frage zu beantworten, ob es einen philosophischen Sinn für Europa gibt, ist es notwendig, zuerst über das Konzept von ‘Europa’ nachzudenken.

Mit diesem Begriff ist weniger das geografische Gebiet gemeint, bestehend aus den verschiedenen Ländern, die der Gemeinschaft angehören, sondern vielmehr bezieht er sich auf das, was sie aus historischer, insbesondere kulturhistorischer Sicht und durch Traditionen und Mentalitäten verbindet. Es ist, kurz gesagt, dieses unsichtbare Etwas, das weder materieller Art noch aus wirtschaftlicher Sicht quantifizierbar ist oder aus politischer Sicht identifiziert werden kann. Stattdessen verbirgt es sich und lebt in den Köpfen der europäischen BürgerInnen.

Unter diesem tieferen Gesichtspunkt präsentiert sich Europa als das kulturelle Umfeld, das alle philosophischen, politischen und wirtschaftlichen Vorstellungen zum Leben gedacht hat, welche die moderne und zeitgenössische Welt stark geprägt haben und das Leben der menschlichen Gemeinschaft auf dem Planeten Erde bis heute bestimmen.

3. Kulturelle Zentralität Europas in der Welt im philosophisch-politischen Sinn

3a. Die zwei entgegengesetzten Lehren: Kapitalismus und Kommunismus

Die erste dieser Lehren ist die, die ab 1989 aus dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Sieger hervorging und dadurch dazu bestimmt ist, nicht nur in den Ländern der ‘westlichen Welt’, sondern weltweit zu dominieren: Es handelt sich um die individualistisch-liberale Auffassung des Staates und der Wirtschaft, kurz gesagt, das kapitalistische sozio-ökonomische System.

Ihr Gründungsvater ist der schottische Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler Adam Smith mit seinem 1776 erschienenen Hauptwerk Eine Untersuchung über Natur und Wesen des Volkswohlstandes.[1]

Seine Theorie basiert auf der Grundannahme des Menschen als ‘homo oeconomicus’ und hat damit zu der Einschätzung geführt, dass das Individuum ausschließlich im Sinne seines individuellen Wohlbefindens handelt, wie ein Tier, welches im wilden und natürlichen Zustand zuerst an sich selbst oder sogar nur an sich selbst denkt. Der Theorie von Adam Smith zufolge würde dieses Verhalten jedoch nicht zu einer sozialen Unordnung führen, also zum Hobbes-Krieg im Sinne eines jeder gegen jeden, sondern zu seinem Gegenteil, nämlich zu sozialer Ordnung. Dies wäre das Ergebnis unsichtbarer, selbstregulierender Marktgesetze.

Ausgehend von dieser doppelten philosophischen und wirtschaftlichen Voraussetzung soll der Staat laut Smith die einzelnen Wirtschaftssubjekte frei handeln lassen und die Wirtschaft so wenig wie möglich behindern. Ganz im Gegenteil soll seine Tätigkeit nämlich genau darin bestehen, die Wirtschaft zu fördern und jene Verhaltensweisen zu bekämpfen, die ein Hindernis für die freie Wirtschaftstätigkeit darstellen.

Fast hundert Jahre später widersprach dieser Theorie die sehr heftige Kritik von Karl Marx, die er vor allem im Werk Das Kapital (1867) zum Ausdruck brachte.[2] Der anschließende Aufbau eines entsprechenden Gesellschaftsmodells nach seinen Vorstellungen ab 1917 in Russland und später auch in anderen Gebieten der Erde führte zu einer Teilung der Welt in zwei entgegengesetzte Lager.

Das kommunistische Modell steht, wie bekannt, in völligem Gegensatz zu dem kapitalistischen Gesellschaftsmodell. Beim kommunistischen Modell beherrscht der Staat die Wirtschaft vollständig (Planwirtschaft). Philosophische Grundlage dafür ist die marxistische philosophische Auffassung der sozialen und nicht egoistischen Natur des Menschen (also des Menschen als soziales und nicht als wirtschaftliches Wesen).

3b. Die Zentralität Europas bei der Entwicklung grundlegender politischer Theorien

Auch wenn sich das kapitalistische System der Wirtschaft auf dem gesamten Planeten nach 1989 zu behaupten scheint (Globalisierung), bleibt nicht nur die Aufteilung der Welt in zwei grundlegend unterschiedliche Arten von sozio-ökonomischen Organisationen bestehen, sondern es wurde des Weiteren auch Smiths Annahme der Selbstregulierung des Marktes von der Geschichte selbst weitgehend widerlegt. Staaten müssen schon seit mehr als einem Jahrhundert massiv in das kapitalistische sozio-ökonomische System eingreifen, um eine gewisse soziale Harmonie zu wahren. Dies geschieht beispielsweise durch den Einsatz von Gewerkschaften und seit einiger Zeit auch durch den Schutz der Natur vor industrieller Verschmutzung und Ausbeutung der Ressourcen.

Andererseits jedoch, zurückkommend auf die Frage nach der kulturellen Zentralität Europas, ist es wichtig zu beachten, dass auch der Kommunismus aus Europa stammt. Somit ist nicht nur der Kapitalismus, sondern auch der Kommunismus, wenn man die zwei philosophischen, politischen und wirtschaftlichen Konzepte in den beiden gebräuchlichen Begriffen zusammenzufasst, in Europa entstanden. Kurz gesagt, der europäische Kontinent hat der Welt beide Theorien gegeben, sowohl die kapitalistische als auch ihr mögliches Gegenteil, die kommunistische, also jene Theorie, die eine radikale Alternative zum westlichen kapitalistischen Projekt aufzubauen versucht.

Ausgehend von diesen Prämissen lässt sich aus dieser kurzen Skizze der letzten zweieinhalb Jahrhunderte der Geschichte als erste Konsequenz ableiten, dass Europa vor allem unter kulturellen Gesichtspunkten als Ort gilt, an dem die philosophische, sozio-ökonomische und daher auch politische Organisation der menschlichen Gemeinschaft auf weltweiter Ebene gedacht wird.

Versuchen wir nun, diesbezüglich folgende Aspekte zu vertiefen:

  - Erstens, warum genau Europa dieser Ort der Bildung des konzeptuellen Kerns ist, welcher die internationale politische Organisation der Welt regierte und immer noch regiert;

  - Zweitens, ob Europa diese entscheidende Funktion der philosophisch-politischen Führung der Menschheit heute und in naher Zukunft noch immer ausüben kann.

4. Der Grund für die philosophisch-politische Zentralität Europas in der Welt

In Bezug auf die erste Frage kann nur eine Antwort gegeben werden: Europa hat diese universelle Funktion erfüllen können, weil es der geografische Ort der Philosophie war, d.h. der Entwicklung des Geistes, der in mindestens 2500 Jahren in sich die Fähigkeit entwickelt hat, die Welt, in der er lebt, zu verstehen und folglich ein Ideal in Form eines gesellschaftspolitischen Lebensprojektes zu formulieren.

Die immense philosophische Arbeit, die von Hunderten und sogar Tausenden von PhilosophInnen ausgeführt wurde (obwohl wir uns nur an ein paar Dutzend davon erinnern), mündete in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in die Lehre der Aufklärung. Dies war ein tiefgreifender Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit, den Immanuel Kant, zweifellos einer der größten Denker in der Geschichte der Menschheit, folgenderweise treffend bezeichnete:

"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit (...)“.[3]

Tatsächlich wird dem Menschen mit der Aufklärung bewusst, dass er in seinem Wesen ‘Verstand’ ist und dass dieser Verstand aus theoretischer Sicht die Welt verstehen kann (auch wenn er dies laut Kant nur auf eine subjektive bzw.  intersubjektive Weise tut, und erst später Schelling und Hegel, den Gedanken Kants kritisch weiterführend, die Fähigkeit des Menschen begründeten, zu einer objektiven Erkenntnis der Wirklichkeit zu gelangen). Aus moralischer Sicht wird dem Menschen bewusst, dass er in voller Autonomie und Unabhängigkeit von jeglicher religiöser Autorität das Gute verwirklichen kann (und muss).

Während bis zu Kant, oder jedenfalls bis zur Aufklärung, das gesellschaftliche Leben auf dem europäischen Kontinent von der Religion komplett geleitet war, begann die Situation ab diesem Zeitpunkt anders zu werden: Die Philosophie, also das freie und undogmatische Denken, nahm die Organisation des Staates in die eigenen Hände. Die letzten beiden Jahrhunderte, das neunzehnte und das zwanzigste Jahrhundert, wurden in der Tat von der Philosophie geprägt, und zwar von den Philosophien, die um die Orientierung der Politik und somit um die Organisation der menschlichen Gemeinschaft auf dem Planeten Erde kämpften.

Wir haben also bereits die erste Antwort auf die Frage gefunden, warum Europa der Ort ist, an dem zumindest bis heute die sozio-ökonomischen Modelle der politischen Organisation der Menschheit entworfen wurden. Hauptgrund dafür ist, dass Europa der Sitz der Entwicklung des freien, philosophischen Denkens gewesen ist. Es handelt sich um  die zentrale Rolle Europas in der Entwicklung der Philosophiegeschichte, die sich, von Griechenland ausgehend, im Laufe der Jahrhunderte in anderen europäischen Ländern wie Italien, Spanien, Frankreich, England usw. allmählich entwickelt hat, bis sie dann zwischen dem späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert, ihren – zumindest vorübergehenden – Abschluss in Deutschland fand.

In dieser Hinsicht ist die von Bertrando Spaventa vorgeschlagene Konzeption der Geschichte der Philosophie sehr interessant und aufschlussreich. Der italienische Philosoph plädiert für die Idee einer ‘Zirkulation der europäischen Philosophie’, nach der die Philosophie nach ihrer Migration Richtung Nordeuropa früher oder später zu ihren Ursprungsorten, d.h. in Süditalien und in Griechenland zurückkehren wird.[4]

5. Die Zukunft der philosophisch-politischen Zentralität Europas in der Welt 

Wir kommen nun zur zweiten Frage, ob Europa seine kulturelle und intellektuelle Rolle als Ort, an dem die soziale, wirtschaftliche und politische Organisation der Menschheit gedacht wird, noch erfüllen kann.

Um diese Frage zu beantworten, versuchen wir zunächst, die aktuelle Situation der Menschheit zu verstehen. Allgemein kann man sagen, dass die rund 250 Jahre intensive Entwicklung des Kapitalismus, einschließlich des Versuchs, ihn durch den Kommunismus zu überwinden, mit Sicherheit die zwei schrecklichsten Jahrhunderte in der Geschichte der Menschheit gewesen sind. Gerade die Entwicklung der militärischen Technik, die offensichtlich aufgrund der industriellen Entwicklung Folge des kapitalistischen Gedankens war, hat dem Menschen tödliche Waffen in die Hand gegeben, die Schmerz und Tod in vorher unvorstellbaren Dimensionen verursacht haben. Erst der Einsatz der Atombombe 1945 verhinderte in den darauffolgenden Jahrzehnten nach dem Prinzip der Abschreckung den Beginn eines dritten Weltkrieges mit absolut unvorhersehbaren Folgen auf planetarischer Ebene.

Wenn wir die Entwicklung des kapitalistischen Gedankens in den letzten zwei Jahrhunderten betrachten, können wir nur eine grundsätzlich negative Bilanz ziehen. Auch wenn materielles Wohlergehen das durchschnittliche Leben des Menschen, zumindest in der westlichen Welt, verlängert und die Lebensqualität und damit die Möglichkeiten der individuellen Verwirklichung eindeutig verbessert hat, ist es aber auf der anderen Seite auch wahr, dass der Preis, der weltweit für diesen unbestreitbaren materiellen Fortschritt gezahlt wurde und noch heute gezahlt wird, enorm hoch ist. Man könnte dazu auch sagen, dass ‘Glück’ für einige Menschen gesteigert wurde, so wie es die Absicht der schottischen Philosophie war, von der Adam Smith ausging ist, andere Menschen dafür allerdings einen sehr hohen Preis bezahlt haben (und immer noch zahlen).

An dieser Stelle müssen wir uns fragen, ob wir bereit sind, diesen Preis auch in Zukunft weiter zu zahlen, denn es ist sinnlos, sich selbst vorzutäuschen, dass die Zeit der Kriege im Jahr 1945 zu Ende ging. Es gibt leider weltweit lokale Konfliktsituationen, die androhen, früher oder später zu einem Krieg auszuarten, der mehr als nur lokal sein könnte.

Zu dieser leider immer bestehenden Möglichkeit eines Krieges, welcher sich von einem lokalen zu einem weltweiten entwickeln kann, kommt dann die immer wiederkehrende Frage des Terrorismus hinzu. Da es bereits seit einiger Zeit zur Entwicklung chemischer Waffen gekommen ist, werden aufgrund der  unvermeidlichen und unaufhaltsamen Entwicklung der Technik irgendwann noch viel zerstörerischere Waffen im Besitz von Terroristen sein. Dies ist nicht bloß wahrscheinlich, sondern sicher.

Dazu kommen dann die zunehmenden Fragen bezüglich der Umwelt und der Nachhaltigkeit, da der Kapitalismus die Natur als Mittel und Objekt behandelt hat und die Menschen seit einigen Jahrzehnten begonnen haben, dafür die Rechnung zu zahlen. Es scheint, dass sich die Menschen erst am Anfang der Bezahlung der Rechnung befinden.

Fragen wir uns also: Kann Europa etwas unternehmen, um die künftige Geschichte der Menschheit auf den Weg des weltweiten Friedens zu lenken? Und kann Europa durch eine vernünftige weltweite Friedenspolitik die Möglichkeit eines katastrophalen Konflikts wenn nicht komplett aus der Welt bannen, zumindest unwahrscheinlich machen?

Dabei entsteht eine zusätzliche Frage: Ist es möglich, dass Europa und seine Philosophiegeschichte nur das kapitalistische  Konzept ausgearbeitet hat, welches stark auf dem Individuum basiert, sowie das kommunistische, das genau im Gegensatz zum ersten eindeutig auf den Staat ausgerichtet ist, es aber nicht geschafft hat, auch eine ausgewogene Auffassung der Beziehung zwischen Individuum und Staat  hervorzubringen?

Eine solche in Bezug auf das Verhältnis zwischen Staat und Individuum ausgewogene Theorie sollte in der Lage sein, sowohl die berechtigten Ansprüche des Individuums auf seine eigene materielle und geistige Verwirklichung zu berücksichtigen, als auch die Notwendigkeit, dass der Staat eine solche individuelle Verwirklichung konsequent leitet, um zu verhindern, dass Individuen, die mit egoistischen und individualistischen Zwecken agieren, eine Bedrohung für die Gemeinschaft werden, indem sie andere Individuen unterdrücken, die ihrerseits eher zu einem offenen sozialen Verhalten und weniger zum Individualismus tendieren.

Dieser kulturelle und spirituelle Aspekt ist wesentlich, wie der englische Historiker Arnold Toynbee in seinem wertvollen Werk Menschheit und Mutter Erde – Die Geschichte der großen Zivilisationen insbesondere in Bezug auf die Umweltproblematik warnt (sein Argument hat aber eine allgemeine Geltung):

In den letzten beiden Jahrhunderten vergrößerte der Mensch seine materielle Macht derart, dass er eine Bedrohung für das Fortbestehen der Biosphäre wurde, doch haben seine geistlichen und sittlichen Kräfte nicht zugenommen. Die Kluft zwischen diesen und seiner materiellen Macht ist ständig größer geworden. Diese wachsende Diskrepanz ist beunruhigend. Die Vermehrung der geistigen und sittlichen Kräfte des Menschen wäre jedoch die einzige denkbare Veränderung im Zustand der Biosphäre, die sie und in ihr den Menschen selber vor der Zerstörung aus Habgier schützen könnte, einer Habgier, die jetzt imstande ist, ihre eigenen Absichten zu vereiteln.“[5]

6. Die philosophisch-politische Konzeption der Überwindung der Dichotomien ‘Kapitalismus-Kommunismus’, ‘Individuum-Staat’

Immer bei Immanuel Kant als Bezugsphilosophen, der von den Studenten seiner Zeit ‘Vater Kant’ genannt wurde und deren Mentor war, finden wir einen sehr wichtigen Gedanken, der unter der Annahme des Prinzips der Vernunft und des Ideals der Freiheit in einer aufgeklärten Gesellschaft den Weg für ein friedliches und respektvolles Zusammenleben ebnet. Es handelt sich um den zweiten kategorischen Imperativ, der wie folgt lautet:

„Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als auch in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“[6]

In diesem Prinzip identifiziert Kant die Betrachtung des anderen Menschen als Zweck und niemals nur als Mittel als Grundregel ethischen Handelns. Dies ist ein historisch sehr wichtiger Gedanke, da er den Übergang von der aufklärerischen und damit auch liberalen englischen Konzeption einer empiristischen und individualistischen Denk- und Lebensweise zu einer zunächst transzendentalen (Kant), später dann idealistischen (Fichte, Hegel) Auffassung der ‘Anerkennung’ bildet.

In der idealistischen Auffassung der Anerkennung, die sicherlich im hegelschen philosophischen System ihren synthetischen Moment erfuhr, finden wir tatsächlich eine ethische Lehre, aus der auch eine sozio-ökonomische und politische Theorie abgeleitet wird. Diese ist in der Lage, das richtige Gleichgewicht zwischen dem Recht des Individuums auf persönliche Verwirklichung und dem Recht des Staates und der Gesellschaft zu finden, weil diese Verwirklichung nicht gegen, sondern für den Staat und für die Gesellschaft geschieht, wenn sie innerhalb jener Institutionen erfolgt.

Der zweite kantische Imperativ markiert daher den Wendepunkt von einer rein individualistischen Sichtweise der Ethik zu einer intersubjektiven, sozial und gemeinschaftlich orientierten Sichtweise. Der hegelsche Ethikbegriff, wie der Philosoph in der Philosophie des objektiven Geistes als Sektion der Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften entwickelt, stellt den Höhepunkt dieser Entwicklung der idealistischen Philosophie dar, die genau darauf abzielte, die Spaltung zwischen Individuum und Staat zu überwinden.[7]

Der Stuttgarter Philosoph findet im Begriff der »absoluten Sittlichkeit« auf eine sehr überzeugende und begründete Weise das richtige Gleichgewicht zwischen Freiheit des Einzelnen und dem Bedarf nach einer Harmonisierung der vielen individuellen Freiheiten im Ganzen des  Staates, zu dem sie alle gehören und aus dem sie alle hervorgehen. Nur innerhalb einer ‘absoluten Sittlichkeit’  kann sich auf der einen Seite der oder die Einzelne tatsächlich verwirklichen, auf der anderen Seite kann die Staatsgemeinschaft allen, unabhängig von den zufälligen Bedingungen ihrer Geburt, ein würdiges Leben garantieren.

Auf der Grundlage von logisch-metaphysischen Argumenten, die wir hier nicht detailliert darstellen können und denen der Philosoph jahrzehntelange Studien widmete, die dann in die Wissenschaft der Logik (1812-16) mündeten,[8] identifiziert Hegel den Sinn des Lebens des Individuums und damit seine irdische Verwirklichung in den intersubjektiven Institutionen, in denen seine Würde als Mensch anerkannt wird (Mann oder Frau in der Familie, Berufstätiger in der bürgerlichen Gesellschaft und BürgerIn im Staatsleben).

Diese sind die drei Hauptinstitutionen des menschlichen Zusammenlebens. Jede dieser Institutionen basiert auf einem ethischen Wert: Die Familie auf Liebe, die bürgerliche Gesellschaft auf Arbeit, der Staat auf Menschlichkeit. In der Familie verwirklicht sich der Mensch als Ehemann oder Ehefrau, Vater oder Mutter, Sohn oder Tochter usw.; in der bürgerlichen Gesellschaft als Berufstätiger; im Staat ist der Mensch schließlich als BürgerIn verwirklicht.

Was diese Institutionen verbindet, ist das Element der Kreativität: Die Familie ist eine Schöpfung des Individuums; in der Arbeit ist er oder sie ebenso kreativ und trägt dazu bei, jene Güter zu produzieren, die die Mitmenschen brauchen; zum Schluss  ist auch der Staat eine politische Schöpfung, die als solche sowohl das Leben der Familie und damit der Einzelnen, die Teil davon sind, als auch die gesamte Organisation der Arbeitswelt, also der bürgerlichen Gesellschaft, regelt und möglich macht.

Das kantische rein formale Ideal der Beziehung zwischen Menschen als gegenseitiger Zweck findet in der hegelschen Auffassung der ‘absoluten Sittlichkeit’ seinen vollständigen philosophischen Ausdruck: In der Familie sind die Ehepartner Zweck füreinander und die Kinder Zweck für die Eltern sowie umgekehrt sollen diese Zweck für ihre Kinder sein, wenn die Kinder selbst erwachsen werden. In der Arbeitswelt sollen die Berufstätigen die Produktion eines Gutes bzw. eines Dienstes zum Zweck haben, welches der Gemeinschaft dient. Niemals darf der individuelle Profit Ziel der Arbeit sein, das ist ein logischer Fehler. Die Arbeit muss immer das Gemeinwohl zum Zweck haben, denn auch die Produktion jener Waren, die wir selbst brauchen, ist Ziel der anderen Berufstätigen. Somit kriegen wir über das Prinzip der Gegenseitigkeit alles zurück, was wir für die Mitmenschen beruflich leisten. Im Staat ist der Beitrag, den die BürgerInnen zur politischen Ebene leisten, passiv durch die Teilnahme an den demokratischen Wahlen, aber auch aktiv, wenn man sich wählen lässt. Aber auch nur mit dem eigenen Verhalten wirkt der Mensch als BürgerIn in allen Angelegenheiten des öffentlichen Lebens mit und trägt somit dazu bei, dass der Staat gut funktioniert. Dies bedeutet, dass man das Leben des Staates und damit das eigene sowie das von den anderen MitbürgerInnen der Gegenwart und der Zukunft, also auch der nächsten Generationen, zum eigenen Zweck machen soll. Und das ist ein wichtiger Aspekt der eigenen kreativen Selbstverwirklichung.

Dieser Auffassung Hegels der ‘absoluten Sittlichkeit’ liegt das Begriffspaar ‘Vernunft’ und ‘Freiheit’ zugrunde, wie es auch bei der kapitalistischen Auffassung der Fall ist. ‘Freiheit’ und  ‘Vernunft’ werden von Hegel aber nicht als etwas Individuelles und Egoistisches angesehen, sondern als etwas Soziales. Hegels Entdeckung, die offensichtlich auf Kants zweitem kategorischem Imperativ beruht, besteht darin, dass das Glück des Individuums, seine Selbstverwirklichung, nur in den sozialen Institutionen der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates möglich ist. Nur wenn der Mensch andere Menschen als Zweck hat, findet er (oder sie) die eigene Anerkennung als Einzelwesen, in den verschiedenen Funktionen, die er oder sie in der Gesellschaft ausübt und in den verschiedenen Rollen, die er oder sie dabei einnimmt.

Diese ethischen Werte, die die Selbstverwirklichung der Menschen durch die gegenseitige Anerkennung ermöglichen, beruhen auch auf einer körperlichen Grundlage und sind deshalb nicht nur ideell, sondern auch materiell: Sie ermöglichen nicht nur die geistige Selbstverwirklichung des Menschen, sondern auch die Befriedung seiner körperlichen Bedürfnisse. Materiell gesehen führt die Liebe zur Familie und zur  Fortpflanzung; das Bedürfnis, lebensnotwendige Güter zu beschaffen, führt zur Arbeit; schließlich führt die Notwendigkeit, sich zu vereinen, um die Schwierigkeiten des Lebens zu beherrschen, zu der Gründung von immer größeren staatlichen Gemeinschaften, wodurch Feindseligkeit und Kriege zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen überwunden werden.

Aus diesem Grund ist die ‘absolute Sittlichkeit’ die authentische Dimension der Wirklichkeit des Lebens der Menschen, d.h. die Dimension, (mit Komma) in der sie sowohl als Geist als auch als Körper komplett zufrieden und verwirklicht sind. Diese komplette, gleichzeitig ideelle und materielle Zufriedenheit ist das Glück des reifen Menschen.

Eine solche ethische und damit auch sozio-ökonomische und politische Konzeption erweist sich als der richtige Mittelweg zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Sie behält in sich (nach dem dialektischen Prinzip der ‘Aufhebung’) die Forderung nach individueller Freiheit des Kapitalismus, lehnt aber den ungezügelten und selbstsüchtigen Individualismus ab. Dieser ist typisch für die Konzeption nach Smith und hat zu Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, zu weltweitem Wettbewerb und auch zu Ausbeutung von Staaten durch andere Staaten geführt (und führt auch heute immer noch dazu). Letztendlich hat dieser Individualismus als Imperialismus die Weltkriege zur Folge gehabt und führt heute zur gegenwärtigen Schwierigkeit des Zusammenlebens zwischen verschiedenen Kulturen in einer Welt, die jetzt globalisiert und in vielen Bereichen vereinheitlicht ist.

Aus der Perspektive von Hegels Ethik ist aber auch ein starrer Kommunismus abzulehnen, der die richtigen Forderungen der Selbstverwirklichung des Individuums nicht versteht, dem Individuum die nötigen, heutzutage unverzichtbaren  Grundfreiheiten nicht garantieren kann und somit nicht in der Lage ist,  die Problematik des friedlichen Zusammenlebens aller Menschen zu lösen.

7. Europa ist auch die Wiege der zukünftigen Welt

Von diesem überlegenen Standpunkt der Überwindung der Dichotomie zwischen Kapitalismus und Kommunismus, die die Welt während des gesamten letzten Jahrhunderts blockiert hat und sie auch heute noch auch auf hinterhältige Weise blockiert, indem sie eine offene und friedliche Kollaboration zwischen den Großmächten nicht zulässt, die ihrerseits allein einen dauerhaften und stabilen Frieden überall auf dem Planeten Erde garantieren könnten, eröffnet sich für Europa die Möglichkeit, sich erneut als der geographische Raum zu bestätigen, in dem auf der Grundlage seiner philosophischen Tradition jene Theorien ausgearbeitet werden, die die weitere kulturelle und geistige Entwicklung der Menschheit ermöglichen.

Die Zeit der kapitalistischen Entwicklung ist vorbei, ebenso wie die Zeit der kommunistischen Entwicklung. Was sich am Horizont abzeichnet, ist eine globale Welt, in der es weder die Ausbeutung von Menschen durch Menschen noch die Ausbeutung eines Staates durch einen anderen geben kann. Es ist auch nicht denkbar, dass die Grundfreiheiten des Individuums in einem diktatorischen, wie auch immer auf soziale Gleichheit ausgerichteten System mit Füßen getreten werden. Europa ist dank Hegels Auffassung der ‘absoluten Sittlichkeit’ im Besitz des passenden Schlüssels für die Eröffnung einer Welt des Friedens. Selbstverständlich soll diese Theorie heute aktualisiert, verbessert und vervollständigt werden, der Kerngedanke ist aber da. Der oder die Einzelne darf sich verwirklichen aber nicht gegen den Staat, sondern für den Staat, nicht gegen die Gemeinschaft, sondern für die Gemeinschaft und umgekehrt soll der Staat dafür sorgen, dass sich das Individuum, jedes Individuum, in seinem Leben verwirklichen kann. Staat und Individuum sind also nicht zwei Gegensätze, sondern beide sind ein und dasselbe, der soziale Mensch, da weder eine Gesellschaft ohne Individuen noch Individuen ohne Gesellschaft existieren können.

Dies ist die philosophische Grundlage für den Aufbau eines neuen Europas, das nicht nur im eigenen Inneren Frieden schafft, wie es bereits seit siebzig Jahren erfolgreich geschieht, sondern auch das Modell des Friedens für die gesamte Welt sein kann. Die anderen Mächte, die Vereinigten Staaten, Russland, China sowie die aufstrebenden neuen Mächte, sind in der Tat in einer überholten Vision verkapselt, die auf dem Individuum oder dem Staat beruht, die aber die Einheit beider nicht versteht und vor allem auf weltweiter Ebene das Prinzip der Beherrschung und der Ausbeutung anderer Staaten voranstellt, also das Prinzip der Konkurrenz und nicht das der Zusammenarbeit und der Kooperation.

Auch in diesem Fall müssen wir nicht nur auf Hegel verweisen, sondern auch auf ‘Vater Kant’, der 1795 ein grundlegendes Buch veröffentlichte, das heute aktueller ist denn je: Zum ewigen Frieden.[9] Nur ein Weltverband freier Staaten bzw. Nationen kann den ewigen Frieden auf der Erde garantieren.

Europa muss zunächst dieses kantische Ideal in sich selbst verwirklichen, indem es das philosophische und damit auch sozio-ökonomischen Prinzip der ‘absoluten Sittlichkeit’ anwendet. Danach soll der europäische Staat (egal welche juristische Form er haben wird) eine Weltföderation fördern, die ebenfalls auf dem Prinzip der ‘absoluten Sittlichkeit’ beruht.

Für einen dauerhaften und stabilen Frieden auf dem Planeten Erde gibt es keine andere Möglichkeit. Die Philosophie hat uns die begrifflichen Werkzeuge zur Schaffung eines Weltverbandes bereitgestellt, der allen Menschen ein würdiges Leben ermöglichen kann, und zwar unabhängig von ihrem zufälligen Geburtsort. Es liegt an uns, an uns allen, diese philosophischen Prinzipien auf der Grundlage der großen europäischen philosophischen Tradition zu einer politischen Realität werden zu lassen.

8. Die philosophisch-religiöse Grundlage der neuen Welt

Aber nicht nur auf der Ebene des ethischen und sozio-ökonomischen Diskurses enthält die klassische Philosophie von Kant bis Hegel die Prinzipien für die  Überwindung der gegenwärtigen Sackgasse in den internationalen Beziehungen. Selbst auf der Ebene des ethisch-religiösen Diskurses liefert uns diese Philosophie den Schlüssel zur Lösung dessen, was zunehmend als das andere Hindernis für den Frieden in der Welt von morgen erscheint: das Aufeinanderprallen der rationalen und philosophischen Zivilisation europäischen und westlichen Ursprungs und der noch immer stark religiös verankerten Kulturen, mit denen sie in der nun globalisierten Welt unweigerlich in Berührung kommt.

Auch hier zeigt sich ‘Vater Kant’ als derjenige, der den Weg geebnet hat. Im Jahr 1793 schrieb er ein kleines, aber doch bedeutungsvolles Buch: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft.[10]

Darin skizziert der Philosoph den Weg von den verschiedenen Einzelreligionen, die noch immer dogmatisch und abergläubisch sind, zur einzigen universellen und rationalen Religion der Zukunft (Vernunftreligion). Diese wird eine ‘unsichtbare Kirche’ stiften, und zwar als die ideale Vereinigung all jener, die sich moralisch verhalten und dafür keine objektiv existierende Institutionen benötigen, weil sie die Grundlage in ihrem eigenen Gewissen und ihrer Vernunft tragen.

Die gesamte lebenslange philosophische Reflexion Hegels, die nachweislich von dieser kantischen Schrift in den letzten zwei Jahren seinen Universitätsstudiums in Tübingen ausging, stellt die Philosophie als eine Vernunftreligion dar. Diese ist  keineswegs als Atheismus anzusehen, da sie ein Absolutes, also eine unendliche schöpferische rationale Macht anerkennt, die dem endlichen Menschen überlegen und die Grundlage von dessen Vernunft ist. Sie ist immanent und nicht transzendent, da sie nur in der Natur und im Menschen vorhanden und tätig ist.

Kurz gesagt, auch auf dem Gebiet der Religionsphilosophie hat die europäische Philosophie, die sich in Deutschland zwischen Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte, die Grundlagen für eine neue Auffassung der Versöhnung zwischen dem tiefen menschlichen Bedürfnis nach Kontakt mit dem Absoluten und dem unverzichtbaren Prinzip der Vernunft gelegt.

Das ist also die historische Mission, die zur Europa gehört, das ist sein philosophischer Sinn! Die Entwicklung einer neuen Zivilisation einzuleiten, die eine Versöhnung zwischen Individuum und Staat sowie zwischen religiöser und philosophischer Vision des Absoluten verwirklicht.

Auf diese Weise würde sich Europa wieder als der geographische Ort zeigen, von dem die neue Welt, die neue Gesellschaft, die neue Hoffnung für die Menschheit ausgeht. Es ist die Hoffnung, dass es in Zukunft Wohlstand für alle und nicht nur für einige gibt, Freiheit, aber ebenfalls für alle und nicht nur für einige, dass die Staaten in einem Weltverband zusammenarbeiten und kooperieren, und dass die rationale und religiöse Vision der Welt einen gemeinsamen Konsens in einer Philosophie finden könnten, die sich von der einen Seite zum Absoluten erhebt, zum anderen dies mit der Vernunft tut. Die Welt wird immer mehr eine Philosophie brauchen, die religiös ist, sowie eine Religion, die philosophisch ist. Nur auf diese Weise können die so verschiedenen Kulturen einen gemeinsamen Nenner finden. Aus dieser philosophischen Religion bzw. religiösen Philosophie soll eine gemeinsame Ethik herauskommen, also gemeinsame Prinzipien des individuellen und sozialen Verhaltens. Ohne solche gemeinsamen ethischen Prinzipien wird das Zusammenleben der Menschen in einer einheitlich und klein gewordenen Welt nicht möglich sein. Ohne diese gemeinsame religionsphilosophische Basis wird es für die zunehmend  globalisierte Welt von morgen sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein, jemals eine Situation friedlichen und menschenwürdigen Lebens für alle Menschen auf dem Planeten Erde zu erreichen.

Eine neue Philosophie, die nichts weiter tut, als auf einfache, klare, verständliche Weise die Grundprinzipien des kantisch-hegelianischen Denkens neu zu reflektieren und zu formulieren, soll den Weg zum philosophischen Europa der Zukunft, zu den Vereinigten Staaten von Europa, ebnen!

9. Die ersten Schritte zur Erschaffung der neuen Welt: das Projekt "Fileuropa".

In diesem Sinne wurde in den letzten vier Jahren in Urbino eine stabile Gruppe für die Reflexion und das Studium der europäischen Philosophie gegründet. Diese Gruppe trifft sich regelmäßig in den Räumen der örtlichen Universität. Die genauen Termine sowie die Themen der Sitzungen und alles andere, was Gegenstand der Überlegungen der Gruppe ist, werden regelmäßig unter www.fileuropa.it veröffentlicht. Das Seminar trägt den Titel "Einführung in die Philosophie", stützt sich auf einen populärwissenschaftlichen Text zur Philosophie mit dem ausdrücklichen Titel "Philosophie für alle", der als philosophisches Handbuch mit dem bisher von der Menschheit erlangten philosophischen Wissen gedacht ist, und wird an verschiedenen Stellen in der Stadt bekannt gemacht. Sie wird von Studenten verschiedener Studiengänge sowie von Erwachsenen besucht, die in verschiedenen Berufen tätig sind. Diese italienische Gruppe, die in ihren philosophischen Wurzeln zutiefst kosmopolitisch und europäisch ist, hat auch eine Entsprechung in Deutschland, in Lüneburg, wo ein paralleles Seminar mit genau dem gleichen Inhalt und in der gleichen Weise durchgeführt wird. Die Aktivitäten der deutschen Gruppe werden unter www.phileuropa.de veröffentlicht. 
Es handelt sich um zwei identische, sich gegenseitig widerspiegelnde Aktivitäten für die Bildung insbesondere junger Menschen, die beide darauf abzielen, eine "europäische Philosophie" als Pilotprojekt zunächst in Italien und Deutschland zu verbreiten, die aber in Zukunft auch in anderen Ländern des Kontinents denkbar ist. Damit sollen in einfacher, alltagsnaher Sprache, aber dennoch logisch und argumentativ stringent, die grundlegenden Ergebnisse der europäischen Philosophiegeschichte zum Ausdruck gebracht werden. 
Ziel dieser Tätigkeit ist es, der europäischen Öffentlichkeit bewusst zu machen, dass sie in den letzten 2.500 Jahren eine rationale Sicht der Welt und des Menschen entwickelt hat, die geeignet ist, in einer nunmehr säkularisierten Gesellschaft die Funktion zu erfüllen, die traditionell von der Religion wahrgenommen wurde, nämlich die Begründung absoluter, objektiver Werte, die gerade die Grundlage der ethischen Identität des europäischen Volkes und somit in nicht allzu ferner Zukunft der Vereinigten Staaten von Europa bilden. Diese Konsolidierung der philosophischen und ethischen Identität des europäischen Volkes auf streng rationalen Grundlagen ist besonders in einer Zeit wie der heutigen notwendig, in der Kulturen, die noch stark an religiöse Dogmen und die daraus abgeleitete autoritäre Ethik gebunden sind, Teil des europäischen geografischen und kulturellen Raums werden. 
Diese notwendige Konsolidierung ist zugleich eine Öffnung, denn das philosophische Denken von Kant und Hegel ist, richtig interpretiert und aktualisiert, ein grundsätzlich kosmopolitisches Denken. Das gilt bekanntlich nicht nur für Kant, sondern auch für Hegel, denn der "absolute Geist", der in der Hegelschen Philosophie das höchste Moment in der Betrachtung des Menschen darstellt, hat ja keine Nationalität. Gerade seine Absolutheit, die Tatsache, dass ein solcher Geist die unendliche logische Kreativität, die überall im Sein vorhanden ist, in sich selbst als sein eigenes Wesen erkennt, macht dieses Wesen aus, das völlig unabhängig von der geografischen Lage des Körpers ist, der es sozusagen beherbergt. 

10. Von der Philosophie zur Politik: Die neue Welt setzt eine neue Parteibewegung voraus, um sie zu verwirklichen

Philosophische Gruppen, die über das europäische Projekt nachdenken und forschen, sind jedoch nicht ausreichend.  Früher oder später wird es die Gründung einer echten "europäischen philosophischen Bewegungspartei" erfordern, die sich genau auf diese neue einheitliche Konzeption von Individuum und Staat stützt, eine grundlegende Errungenschaft in der Geschichte der Philosophie. Nur eine neue Partei, die sich auf seriöse philosophische Grundsätze stützt, kann Träger einer europäischen philosophischen Revolution sein, die in der Lage ist, Europa jenen Sinn für ein geistiges Friedensprojekt zurückzugeben, den es zu Beginn, im Manifest von Ventotene, hatte, der dann aber verloren ging und vom Finanzkapitalismus verschlungen wurde, der sich in seiner unendlichen und unersättlichen Besitzgier alles aneignet. Aus diesem Grund befindet sich das europäische Projekt heute in einer Krise, aber so wie es die Philosophie war, die es ins Leben gerufen hat, insbesondere der im Manifest von Ventotene enthaltene Gedanke, so wird auch nur die Philosophie in der Lage sein, es wiederzubeleben und es zu seiner richtigen Verwirklichung zu führen.
Vor der Gründung einer solchen Partei ist es jedoch notwendig, die "neue" Philosophie im Detail zu erläutern. Ausgehend von den philosophischen Systemen Kants und Hegels, die ihrerseits das Wesentliche der vorangegangenen Philosophien und damit der gesamten Philosophiegeschichte in sich tragen, muss sie diese in einem zeitgemäßen Schlüssel neu denken und jenen Gedanken, jene Vision hervorbringen, die den künftigen Weg der Menschheit zu erhellen vermag. 

 

11. Die kosmisch-historische Mission Europas und die Grundlinien seiner Verwirklichung

Der aufstrebende europäische Staat muss daher die politische Kraft sein, die in der Lage ist, sich zunächst auf der Grundlage dieser neuen Philosophie zu modellieren und sie dann auf offensichtlich friedliche Weise in der ganzen Welt zu verbreiten, wie es Europa bereits mit Liberalismus und Sozialismus getan hat. Kurz gesagt, die Welt, ob es gefällt oder nicht, wird in Europa heute wie damals gedacht. Dies ist daher die Mission Europas, die philosophische Bedeutung seiner Einigung zu einem einheitlichen „Staat“, diese ist die Idealität, die den Vereinigungsprozess erneuern kann, der sich heute eindeutig in einer kritischen Phase befindet. In der Geschichte Europas gab es wie in jeder anderen Geschichte immer kritische Phasen, aber sie haben auch immer eine neue Wiedergeburt vorbereitet, sie waren der Motor eines neuen idealen Impulses. Bei dieser Krise wird es daher nicht anders sein, Das Wichtigste ist, die Richtung zu bestimmen, in die es gehen muss, um es zu überwinden und wiedergeboren zu werden. Dieser kurze Aufsatz beabsichtigt, einen Weg vorzuschlagen.

Dieser dreifache Fortgang:

  1. Ausarbeitung der neuen philosophischen Vision;
  2. Gründung auf der Grundlage dieser Philosophie einer  Euro-Kosmopolitischen Philosophischen Partei;
  3.  Aufbau der Vereinigten Staaten von Europa als philosophischer Weltstaat nach dem Prinzip der untrennbaren Einheit von Individuum und Staat,

ist der Weg, den Europa in den kommenden Jahren einschlagen soll, um die historische Mission zu erfüllen, zu der es berufen ist.

12. Die gegenteilige Ansicht: Europa als bloßer geografischer und wirtschaftlicher Ausdruck

Diese "philosophische" und "ideale" Vision des europäischen Projekts könnte einer streng "geografischen" und "materiellen" Vision gegenübergestellt werden, die in Europa weniger ein Ideal der Erneuerung für die gesamte Menschheit als eine einfache Gemeinschaft von Menschen identifiziert, die vor allem von wirtschaftlichen und materiellen Interessen vereint sind. Dies ist die aktuelle Vision des europäischen Projekts, das im Laufe der Jahrzehnte die ideale Ur-Bestimmung verloren hat, die es in seinem ursprünglichen Manifest hatte, das inzwischen nicht einmal mehr erwähnt und oft nicht einmal bekannt ist, und zwar oft nicht einmal von denen, die dann in verschiedenen Bewegungen und Institutionen für Europa tätig sind. So wird Europa auf einen geografischen Ausdruck und seinen politischen Inhalt auf die Erhaltung und Verbesserung des materiellen Wohlergehens reduziert, in klarem Gegensatz und damit auch im Wettbewerb mit dem, was nicht „Europa“ ist.

13. Philosophische Analyse des Begriffs "Europa"

Im zweiten Teil unseres Aufsatzes möchten wir den Begriff "Europa" als geographische Formation dialektisch demontieren und zeigen, dass er eigentlich nichts anderes enthält als den Begriff des Staates tout court.

Tatsächlich ist kein Thema heute so aktuell in der Politik wie Europa. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass ein neuer Staat vor unseren Augen geboren wird, aber am Ende weiß niemand wirklich, was für ein Staat es ist. Dass ein neuer Staat geboren wird, ist offensichtlich, trotz der nationalistischen und populistischen Bewegungen, die in der Lage sein werden, einige Teile von diesem Staat wegzunehmen und den Verlauf seiner Bildung zu verlangsamen, aber seinen unaufhaltsamen Marsch nicht aufzuhalten. Wie bei der Geburt des italienischen und des deutschen Staates im 19. Jahrhundert waren im Zuge der europäischen Einigung die ersten konkreten Schritte auf wirtschaftlicher Ebene zu verzeichnen, insbesondere nach den verschiedenen ursprünglichen Verträgen (EGKS usw.), insbesondere nach dem Zollunion (Schengen) und Währungsunion (Euro). Der Grund dafür ist sehr einfach, trotz der Komplexität der wirtschaftlichen Fragen. Bevor man in der Lage ist, eine gemeinsame Politik aufzustellen, also bevor man in der Lage ist, "positiv" zu denken und zu handeln, muss man "negativ" denken und handeln, dh die Zwänge beseitigen, Hindernisse beseitigen.  Diese sind vor allem Grenzen einerseits und Geld andererseits. Damit hat Schengen die Grenzen beseitigt, währende der Euro hat das Haupthindernis für den Handel eliminiert, nämlich die Vielfalt der Währungen. Es geht daher darum, Hindernisse zu beseitigen und nicht um eine echte einheitliche Wirtschaftspolitik. 

Andererseits arbeiten das Europäische Parlament und die Kommission auf zentraler und politischer Ebene seit Jahren mit Richtlinien, die den verschiedenen europäischen Staaten gemeinsam sind. Diese sind keine verbindlichen und zwingenden Gesetze, da es der europäischen Kommission an effektive Autorität und Macht mangelt. Diese Richtlinien haben jedoch die sehr wichtige Funktion, die verschiedenen nationalen Rechtsvorschriften zu „harmonisieren“, sie einander ähnlich zu machen und so den Moment für eine echte und ordnungsgemäße Vereinigung vorzubereiten. Wenn es soweit ist, wird es offensichtlich nicht möglich sein, radikal unterschiedliche Gesetze in den verschiedenen Ländern zu finden. Es muss ein einziges Zivil- und Strafgesetzbuch und dann eine ganze Reihe identischer Gesetze überall in Europa geben. Um diese eindeutigen Gesetzbücher zu übernehmen, muss natürlich von einer ähnlichen, nicht völlig unterschiedlichen Gesetzgebung ausgegangen werden. Diese Gesetze werden offensichtlich die bis dahin geltenden nationalen Gesetze und Gesetzbücher ersetzen. Damit diese endgültige Operation so schmerzfrei wie möglich verläuft, müssen daher zunächst die verschiedenen nationalen Rechtsvorschriften harmonisiert werden. Dies ist die Aufgabe der europäischen Richtlinien in dieser ersten Phase des Einigungsprozesses.

Kurz gesagt, der Boden bereitet sich seit siebzig Jahren auf die Geburt des europäischen Staates vor. Es kann durch Krisenperioden verlangsamt werden, wie die derzeitige, die hauptsächlich auf die Einwanderung aus arabischen und afrikanischen Ländern zurückzuführen ist. Es kann wichtige Teile verlieren, wie im Fall Brexit, aber es kann nicht vollständig gestoppt werden, es sind sieben Jahrzehnte einheitlicher Geschichte, die mittlerweile in die Herzen und Gedanken vieler europäischer Bürger eingedrungen sind.

14. Das Problem der Bestimmung der europäischen Grenzen

Der eigentliche entscheidende Punkt der Frage ist daher nicht der, der sich auf die Bestimmung des konkreten Zeitpunkts der Geburt des europäischen Staates bezieht, sondern der Grenzen des entstehenden europäischen Staates.[11]Tatsächlich ist Europa als solches nicht geografisch gut definiert, seine Außengrenzen sind elastisch, so dass selbst die Türkei, ein Staat, der in den letzten Jahren immer mehr beweist, dass er kulturell nicht zu Europa gehört, dennoch seit Jahren in Kontakt mit den europäischen Behörden für eine mögliche Teilnahme am europäischee Projekt ist. Eine viel interessantere Überlegung betrifft jedoch die europäischen Grenzen im Osten und im Westen.

Was den Westen betrifft, obwohl der Atlantik offensichtlich die westeuropäische Küste von Amerika trennt, ist es dennoch offensichtlich, dass sowohl der Norden als auch der Süden des amerikanischen Kontinents kulturell eng mit den europäischen Staaten verbunden sind, als kulturelle "Rippen" solcher Staaten. Daher können wir uns den Atlantik als eine Verbindung und nicht als eine Trennung zwischen Europa und Amerika vorstellen. Stellen wir uns nun diese hypothetische Frage: Wenn eines Tages nach der Gründung des europäischen Staates beispielsweise ein nordamerikanischer Staat, Kanada oder im Süden des Kontinents, zum Beispiel, Argentinien, darum bitten würden, Mitglied des philosophischen Staates Europas zu werden, aus welchem Grund sollte die europäische künftige Regierung dies nicht annehmen? Es wäre selbstverständlilch eine Ehre für Europa und ein Vorteil für das Friedensprojekt, das letztendlich das eigentliche Ziel des europäischen Einigungsprozesses ist, zwei so wichtige „Stücke“ auf dem Weltschachbrett zu gewinnen. Daher kann die Annahme der hypothetischen Frage als völlig logisch und daher auch sicher angesehen werden.

Der Diskurs in östlicher Richtung ist nicht anders. Russland ist ein kulturell tief europäischer Staat. Es ist ein vollständiger Teil der europäischen Geschichte, ohne seine Beteiligung unverständlich. Erst die russische Revolution und dann die Errichtung der Sowjetunion haben Russland von dem übrigen Europa abgesondert. Sobald sich Russland in den kommenden Jahrzehnten demokratisch stabilisiert haben wird, wird eine Annäherung an die europäischen Staaten durchaus möglich sein. Obwohl dies von den USA stark behindert wird, wird es dennoch ein historischer Prozess sein, der ebenfalls nicht aufzuhalten ist. 

Die Bedeutung dieser Argumentation besteht offensichtlich nicht darin, politische Fiktion und Zukunftsforschung zu betreiben, die nicht zur Philosophie gehören. Tatsächlich hinterfragt diese Disziplin die Bedeutung der Begriffe und realen Entitäten, die diese Begriffe bedeuten. Der Sinn von etwas ist seine Entwicklung, wie Hegel meisterhaft in seiner Theorie der Dialektik erklärt hat.  Der Begriff der  der Blume zeigt zum Beispiel sein Wachstum vom Samen bis zur Entstehung der fertigen Blume. Der Begriff von etwas ist nicht dessen Resultat, sondern die ganze Entwicklung. Der Begriff des "Menschen" zeigt den reifen Menschen an, der das Ergebnis seiner jugendlichen Entwicklung ist. Wenn also der Begriff von etwas die Bedeutung und der Sinn seiner Entwicklung ist, dann wird auch der Begriff ‚Europäischer Staat‘ die Bedeutung dieser Staatsbildung anzeigen, also die zukünftige Entwicklung, die genau dazu führen wird, dass aus einem Kontinentalstaat, der als philosophischer Staat entstanden ist, ein Weltstaat resultieren wird. Grund dafür ist, dass Europa schon als Weltstaat in seinem Begriff entstanden ist, sein Same war eben der von der Weltstaatlichkeit.

15. Der "europäische Staat" in seinem Konzept als "Weltstaat"

Nach diesen historischen und auch logischen Überlegungen folgt die folgende Schlussfolgerung. Vorausgesetzt dass:

  1. Europa aus kultureller Sicht zumindest nach Osten und Westen keine klaren Grenzen aufweist und die kulturellen Grenzen nach Süden (arabische und afrikanische Länder mit muslimischer Prävalenz) eindeutig existieren und beruhen auf tiefgreifenden Unterschieden, was jedoch verhindert, mit der Türkei „Verhandlungen“ aufzunehmen;
  1. Der Grund für die Geburt Europa der Frieden ist, die Überwindung des Krieges als Methode zur Lösung von Weltkonflikten wie denen des 20. Jahrhunderts, aus denen es hervorgegangen ist;

Schließen wir daraus, dass der Begriff ‚Europa‘ als politische Institution, das heißt die Bedeutung seines Seins und damit auch seiner zukünftigen Entwicklung, nur mit dem Begriff eines Weltstaates zusammenfallen kann.

Europa trägt daher einen Namen, der nicht ihrem Begriff entspricht! Es ist in der Tat kein Kontinentalstaat mit sehr präzisen und klaren geografischen Grenzen, sondern ein wirklicher Weltstaat, eine Weltgemeinschaft aller Menschen, die den Krieg als Methode zur Lösung von Konflikten ablehnen und stattdessen nur den Frieden als grundlegender und vorrangiger politischer Wert in den menschlichen Beziehungen annehmen.

16. Das europäische Projekt als ein großartiges Projekt der weltweiten zwischenmenschlichen "Anerkennung"

Das europäische philosophisch-politische Projekt muss daher ausgehend von diesem Begriff völlig neu überdacht werden. Es ist ein Projekt, das jeder menschlichen Gemeinschaft offen steht, solange diese den Krieg ablehnt. Aber selbst im Fall dieses Wortes und Begriffs ‚Krieg‘ muss man seine Bedeutung klären. Was bedeutet Krieg wirklich? Es bedeutet sicherlich eine bewaffnete Konfrontation zwischen zwei Staaten, aber es bedeutet auch allgemeiner ein zwischenmenschliches Verhalten, bei dem ein Subjekt darauf abzielt, die Rechte eines anderen Subjekts als Mensch nicht anzuerkennen. Der Ausdruck "Krieg zwischen Nachbarn" zeigt zum Beispiel sehr gut diese tiefere Bedeutung des Krieges. Das diskriminierende Element ist also die mangelnde Anerkennung: Es gibt Krieg, wenn das Recht des anderen, eine eigene Dimension des Lebens zu haben, nicht anerkannt wird.

Nachdem diese Klarstellung des Begriffs ‚Krieg‘ als ‚mangelnde Anerkennung‘ vorgenommen wurde, erweist sich Europa daher als ein großes, immenses Projekt der "weltweiten Anerkennung"! Europa ist eine Öffnung für alle Menschen, offene Arme für jeden, der anerkennen und anerkannt werden will, unabhängig von seiner Herkunft, nur weil es dabei um ‚Menschlichkeit‘ geht.

Dies ist der Grund, warum Europa der ursprüngliche Kern des Weltstaates ist, da es für die endgültige Überwindung des Kriegszustands und der nichtmenschlichen Anerkennung auf dem Planeten Erde steht. Europa ist der der Beginn der Verwirklichung des großen kantischen Projekts des "ewigen Friedens". So wie die Tragödie, die Altiero Spinelli und seine Mitgefangenen dazu veranlasste, das im Ventotene-Manifest enthaltene europäische Projekt auszuarbeiten, eine ‚weltweit‘ Dimension hatte, so ist die wahre, authentische, tiefgreifende Dimension des europäischen Projekts ‚weltweit‘ und ‚global‘, keinesfalls kontinental.

Selbst die Untersuchung des Begriffs „Europa“ führt uns, auch wenn wir von einer geografischen und materiellen Vision ausgehen, immer wieder zu demselben Punkt zurück, nämlich zum philosophischen Sinn des europäischen politischen Projekts als Verwirklichung des Frieden und der Anerkennung unter den Völkern: Das ist genau die Grundbotschaft des Manifesto von Ventotene! [12]

17. Der "Europäische Staat" als Verwirklichung des Begriffs "Staat"

Die Reflexion über den Begriff „Europa“ ist somit zu Ende geführt worden. Sie hat zum Schluss geführt, dass "Europa" der Staat an sich ist, der Staat als Garant für die Selbstverwirklichung des Einzelnen, der aus diesem Grund für den Staat lebt. Individuum und Staat sind eine untrennbare Einheit, eine Einheit von Liebe, Hingabe und gegenseitigem Vertrauen, das Individuum muss den Staat lieben und der Staat muss seine Bürger lieben, sie müssen sich liebevoll umeinander kümmern. Aber der Staat, von dem wir sprechen, ist kein bestimmter Staat, wie groß seine geografische Ausdehnung auch sein mag, sondern der eigentliche Begriff des Staates, der nur ohne Binnengrenzen erreicht werden kann. Es gibt kein Begriff des Staates, der Grenzen hat. Dies ist eine zufällige Konstruktion aufgrund des historischen Prozesses der Verwirklichung des Staatskonzepts, der offensichtlich nicht über Nacht aufgebaut werden kann, sondern aufgrund des fortschreitenden Wachstums immer größere Gemeinschaften bis zur gesamten und globalen Dimension einschließt. Allein diese letzte Dimension entspricht dem Begriff des Staatss! Nur im Weltstaat werden die Realität und der Begriff des Staates zusammenfallen! Genauso wie stimmen in der blühenden Rose die Realität und der Begriff dieser Blume nur am Höhepunkt der Entwicklung überein. Es handelt sich um die logisch-metaphysische Struktur des Lebens und es hängt nicht von uns ab. Wir selbst blühen auch auf und neigen zur Verwirklichung unseres Lebenskonzepts, das erst am Ende des Lebens erscheint.

Grenzen müssen daher überwunden und abgeschafft werden, selbstverständlich auf überlegte und geplante Weise. Alles soll ernsthaft vorbereitet und nicht über Nacht gebaut werden. Es soll langsam, aber bereits sofort gebaut werden. Der Prozess der europäischen Einigung soll von Anfang an als Geburtsprozess des Weltstaates eingerichtet werden, da Europa ein philosophisches Konzept und kein einfacher geografischer Ausdruck ist.

 


[1] Smith, A.: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, W. Strahan and T. Cadell, London 1776

[2] Marx, K.: Das Kapital,Otto-Meissner-Verlag, Hamburg 1867.

[3] In: Kant, I.: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung ? In: Berlinische Monatsschrift , Haude und Spener Verlag, Berlin 1784, H. 12, S. 481.

[4] In: Prolusione e Introduzione alle lezioni di filosofia del 1861 nella Università di Napoli, Stabilimento Tipografico di Federico Vitale, Napoli 1862. 

[5] In: Menschheit und Mutter Erde, Frankfurt/Berlin 1982. S. 487 (Originalausgabe:Mankind and Mother Earth. A Narrative History of the World, Oxford University Press, 1976)

[6] Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Johann Friedrich Hartknoch Verlag, Riga 1785.

[7] Hegel, G.W.F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Verwaltung des Oßwald’schen Verlags (CF Winter), Heidelberg1830.

[8] G.W.F. Hegel:Wissenschaft der Logik, Johann Leonhard Schrag Verlag, Nürnberg 1812-16.

[9] I. Kant: Zum ewigen Frieden, Friedrich Nicolovius Verlag, Königsberg 1795.

[10] I. Kant:Die Religion der Grenzen der bloßen Vernunft, Friedrich Nicolovius Verlag, Königsberg 1793.

[11] Siehe hierzu den Aufsatz von Alfieri, L.:Die Grenzen Europas, in: Europea, Nr. 2, Jahr I, Rom 2016, S. 7-32.

[12] In dieser Hinsicht sind Mario Albertinis Studien von grundlegender Bedeutung, in denen die Überlegenheit des Weltstaates gegenüber dem Nationalstaat sehr deutlich argumentiert wird (siehe Sammlung Alle Schriften, herausgegeben von Nicoletta Mosconi, Bologna 2006 ff.).

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