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ERSTE PHASE
Das Verständnis des authentischen Sinnes
der ‘Göttlichkeit’ der historischen Person Jesu
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Zeitlicher Rahmen: 1794-95
Quelle: Das Leben Jesu
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In der Lehre Jesu entdeckt Hegel die drei unerlässlichen Grundbedingungen für die neue ethisch-religiöse Auffassung, auf meisterhafte Art vereinigt, wenn auch noch nicht in begrifflicher und philosophischer Form ausgedrückt: die ethische Natürlichkeit, die religiösen Popularität und Vernünftigkeit.
Ab etwa 1794 unterscheidet der junge Hegel nämlich die historische Person Jesu von anderen Lehrern (wie z.B. Sokrates).( ) Bei Jesu stellt Hegel etwas fest, das der Bedeutung seiner Persönlichkeit etwas Besonderes vergibt. Jesus ist für ihn nicht nur ein Lehrer unter vielen anderen, sondern ‚der Lehrer‘ der Menschheit. Für den jungen Philosophen aus Stuttgart hat Jesus etwas Göttliches an sich, etwas, das man nicht bloß auf die Erhabenheit des Geistes oder die Reinheit der Gefühle, die typisch für jeden Lehrer der Menschheit sind, reduzieren kann.
Diese Göttlichkeit der historischen Person Jesu steht jedoch nicht mit einer hypothetischen natürlichen Abstammung von einem ebenso hypothetischen Gott in Verbindung. Seit den ersten Jahren seiner philosophischen Entwicklung distanzierte sich Hegel von diesen Formen der wenig philosophischen religiösen Vorstellung. Diese Erkenntnis soll man sich im Zusammenhang mit den philosophisch-religiösen Überlegungen des jungen und auch reifen Hegel immer vor Augen halten. Die Göttlichkeit Jesu besteht seiner Meinung nach darin, das Wesen des menschlichen Geistes und die genaue Beziehung bestimmt zu haben, die zwischen Mensch und Natur besteht. Nach Ansicht des jungen Philosophen war Jesus also maßgeblich daran beteiligt, dass dem Menschen die authentische Bedeutung seiner Existenz über die einfache Befriedigung der natürlichen Instinkte hinaus offenbart wurde. Und jenseits dieser Befriedigung und dieses sinnlichen Genusses (bzw. Leidens) gibt es eben den Geist und ein geistig geführtes Leben. Dies ist der Grund, warum die anderen Lehrer der Menschheit Hegels Meinung nach zwar verschiedene und auch interessante Dinge lehren können, aber nicht ‚jene‘ Tatsache, die den Menschen in erster Linie interessiert: hat sein Leben einen Wert, eine Bedeutung oder ist es bloß ein Wechselspiel von Freude und Schmerz, Befriedigung und Unzufriedenheit, Langeweile und Vergnügen?
Nach Ansicht des jungen Denkers hat also die historische Person Jesu eine göttliche Bedeutung, da der Gründer des Christentums das Wesen des Geistes und folglich den Sinn, die geistige Bedeutung der menschlichen Existenz in der Welt und gleichzeitig auch, wie wir im letzten Kapitel dieser Arbeit sehen werden, den Sinn der Welt verstanden hat.
Dieses Resultat erhielt Jesus durch die Erarbeitung des ethischen Ideals des Anbruches des Reichs Gottes auf Erden und des religiösen Prinzips der universalen Liebe; gemeinsam bilden diese beiden Begriffe die Grundstruktur der ethisch-religiösen Lehre, mit der es Jesu, nach Meinung des jungen Hegel, gelungen ist, den Menschen zumindest teilweise wieder in die Natur einzufügen.
Analysieren wir nun die Bedeutung dieser Lehre in ihren Einzelheiten.
ERSTER MOMENT
Die Morallehre von der Wiedereinfügung des Geistes in die Materie:
das ethische Ideal vom Anbruch des Reichs Gottes
Der Begriff oder besser gesagt die Vorstellung des Anbruchs des Reichs Gottes auf Erden ist das ethische Ideal, mit dem Jesus die Menschen auf der Ebene von Geist und Materie wieder in die Natur eingefügt hat. Der Anbruch des Reichs Gottes ist nämlich der Sinn, den die Menschheit ihrer eigenen Existenz geben soll; dieser Sinn verleiht dem Geist ein Merkmal, also dem Leben des Menschen einen Inhalt, indem er ihn wieder in das Leben der Natur einfügt, in der jedes Wesen seinen eigenen Wirkungskreis und daher Handlungsbereich hat. Indem er sich das Ideal vom Anbruch des Reichs Gottes zu eigen macht, hört der Geist des menschlichen Wesens auf, eine leere Möglichkeit zu sein und wird eine effektive Realität. Der Anbruch des Reichs Gottes darf nicht als eine zukünftige Situation der menschlichen Gesellschaft interpretiert werden, hervorgerufen durch eine äußerliche Entität, sondern als gegenwärtige aber auch zukünftige irdische Situation, die auf das menschliche Wirken zurückzuführen ist. Das bedeutet, dass die Menschheit selbst das Reich Gottes auf Erden schaffen kann und soll, und zwar als eine Lebenssituation, in der nicht mehr blind die mechanische Notwendigkeit der Materie regiert sowie zwischen Menschen Hass und Krieg herrscht, sondern in der der Geist die Führung der Lebensbewegung, des Werdens, übernimmt und eine auf Liebe und Frieden beruhende soziale Ordnung schafft.
Dieses ursprüngliche christliche Moralideal vom Anbruch des Reichs Gottes ist gewiss nicht ‚übernatürlich‘, zumindest nach der Interpretation des Tübinger Stiftlers, denn das Reich Gottes soll ja im irdischen Leben der Menschen herrschen.
Es ist nun an der Zeit, über die wichtige Frage nachzudenken, ob es sich Hegels Meinung nach auch um ein ‚natürliches‘ ethisches Ideal handelt, d.h. ob es auf dem Begriff der menschlichen Natur beruht oder nicht.
ZWEITER MOMENT
Der implizite Begriff der menschlichen Natur
in der Originalbotschaft Jesu
Das Merkmal des Geistes ist es, der leeren Möglichkeit der Zeit bzw. dem automatischen und mechanischen Charakter der Materie einen Sinn zu geben, und somit auch durch die eigene Fähigkeit zur Planung, die Vorherrschaft zu überwinden, die die blinde Notwendigkeit der Materie über den Menschen ausübt.
Ein Beispiel dafür ist die Bedeutung von Wundern. Sie bieten eine Vorstellung von dem an, was der Mensch aus sich gern machen würde, indem er seine eigene Geistigkeit voll ausnützt: die Heilung von tödlichen Krankheiten, Vermehrung von lebensnotwendigen Gütern, usw. Das alles sind Zeichen einer Überwindung der materiellen Grenzen seiner Existenz.
Was im ursprünglichen Christentum in Form von Einbildung (bzw. Vorstellung) als ‚Wunder‘ überliefert wurde, ist also nichts anderes, als der Ausdruck des natürlichen Wunsches des Geistes, die Notwendigkeit der Materie, Grund des Unglücks, zu besiegen. Die Entwicklung der Medizin, der intensiven landwirtschaftlichen Produktion sowie der Lebensmittelindustrie, um hier nur einige Beispiele zu nennen, stellt also nur die moderne Form der entsprechenden Wunder Jesu dar, die nicht aus der Einbildungskraft entspringen, sondern konkret und real sind. Diese Wunder, die selbstverständlich nie geschahen, standen jedoch für ein großes geistiges Ideal, das einem nicht unbedeutenden Teil der Menschheit einen Zweck, ein Ziel gab und noch immer gibt. Es ist daher kein Zufall, dass die industrielle Revolution gerade in christlichen Ländern stattfand, und das nicht nur aus den Gründen, die Max Weber in seiner berühmten und exzellenten Studie über den Geist des Kapitalismus( ) anführte, sondern auch aus den hier erwähnten Gründen, und zwar aufgrund des in der christlichen Botschaft vorhandenen enormen Dranges zur Überwindung der natürlichen Grenzen des Menschen durch die Nutzung der im Geist vorhandenen Fähigkeiten.
Die Realisierung des Ideals vom Anbruch des Reichs Gottes findet seinen Schöpfer also im menschlichen Geist, in seiner Fähigkeit, den Dingen und der Zeit einen Sinn zu geben, um dadurch die Grenzen der Materie zu überwinden. In dieser Hinsicht teilt der Geist die Natur Gottes: Er erschafft, und zwar im Sinne einer zweiten Schöpfung. Gott erschafft nämlich die Materie und dann den Geist nach seinem Vorbild; dann erschafft der Geist die Materie neu und modifiziert sie, indem er ihr einen Sinn verleiht, der seinen eigenen Bedürfnissen und Wünschen entspricht.
Die ursprüngliche Morallehre Jesu beruht also auf dem Begriff der menschlichen Natur als Schöpfergeist, einer perfekten Kopie der göttlichen Kreativität, wenn auch in endlicher und sterblicher Form. Es handelt sich um den Begriff der Vernunft als „göttlicher Funke“, wie dies Hegel in der Einleitung zu seiner Studie Das Leben Jesu ausdrückt:
„Die reine aller Schranken unfähige Vernunft ist die Gottheit selbst – [...]. Unter den Juden war es Johannes, der die Menschen wieder auf diese ihre Würde aufmerksam machte – die ihnen nichts fremdes sein sollte, sondern die [sie] in sich selbst, ihrem wahren Selbst, nicht in der Abstammung, nicht in dem Triebe nach Glükseeligkeit, nicht darin suchen sollten, Diener eines großgeachteten Mannes zu seyn, sondern in der Ausbildung des göttlichen Funkens der ihnen zu theil geworden ist, der ihnen das Zeugnis gibt, daß sie in einem erhabnern Sinne von der Gottheit selbst abstammen–“ (GW 1, S. 207,1-11).
Aufgrund dieser Auffassung von der menschlichen Natur kann man also zum Schluss kommen, dass nach Meinung des jungen Philosophen die ursprüngliche Morallehre Jesu ‚natürlich‘ ist, indem das Lebensideal, das sie dem menschlichen Wesen weist, Ausdruck und Realisierung seines natürlichen Wesens darstellt.
DRITTER MOMENT
Die religiöse Lehre von der Wiedereinfügung der Vernunft in die Welt:
das religiöse Prinzip der universalen Liebe
Die Auffassung der Vernunft als „göttlicher Funke“, Grundlage der Morallehre Jesu, ist also das Grundprinzip seiner religiösen Lehre. Jesus konnte nämlich das menschliche Wesen auf der ethischen Ebene von Geist und Materie wieder in die Natur einfügen, nachdem er dies schon auf der religiösen Ebene von Vernunft und Welt getan hatte, und zwar dank der Formulierung des Prinzips der universalen Liebe.
Die Liebe ist die Beziehung, die Gott, den Schöpfer, mit der Welt, der Schöpfung, verbindet. Gott hat die Welt mit Liebe erschaffen, d.h. er hat die verschiedenen Lebewesen in der Welt, die Geschöpfe, mit den notwendigen Fähigkeiten ausgestattet, um ihre jeweiligen Lebensfunktionen zu erfüllen.
Was nun im Einzelnen das menschliche Wesen betrifft, so hat Gott es nach seinem Vorbild erschaffen, d.h. er hat es für die höchste Funktion im Universum erschaffen, und zwar für die Aufgabe der (weiteren) Schöpfung und der Ethik. Zu diesem Zweck hat er den Menschen mit dem Geist ausgestattet, dessen Struktur mit dem geistigen, schöpferischen und göttlichen Wesen identisch ist.
Durch diese Anschauung hat Jesus nach Ansicht des jungen Hegel den Menschen auf der religiösen Ebene von Vernunft und Welt wieder in die Natur eingefügt, und somit die religiös-metaphysische Grundlage für eine Einfügung auch auf ethischer Ebene geschaffen. Denn das menschliche Wesen verleiht sich selbst nicht willkürlich den Sinn seiner eigenen Existenz, sondern es ist die menschliche Beschaffenheit, die diese Aufgabe in sich trägt( ), und zwar den Aufbau des Reichs Gottes auf Erden durch den Geist, der als theoretische und vor allem praktische Schöpfungskraft von Bedeutungen verstanden wird.
Die ursprüngliche Morallehre Jesu ist also, wie wir soeben festgestellt haben, ‚natürlich‘; nun muss man sich die Frage stellen, ob seine Religion die Bedingungen des Religionsideals des jungen Hegel erfüllt, d.h. ob sie populär und vernünftig ist.
Sie ist sicher ‚populär‘, weil sie einen Grund bzw. ein Grundprinzip der Welt (Gott) erschafft und daher das natürliche Bedürfnis des Menschen befriedigt, sich als Vernunft in dieses Prinzip anzuerkennen.
Ist diese Lehre aber auch ‚vernünftig‘? Die Antwort auf diese Frage spornte Hegel zu weiteren, höchst interessanten Gedanken an, deren genauere Untersuchung von großem Nutzen sein wird.
ENDNOTE
1) Zur Gegenüberstellung Hegels von Sokrates und Jesu s. vor allem den Text 17 in GW 1,117 ff.
2) M. Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (2. Ausgabe, Tübingen 1920)
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