PHILOSOPHIE FÜR ALLE
Lektion 2
Über das Verhältnis zwischen Philosophie,
Religion und Wissenschaften
von
Marco de Angelis
* *
Es gibt zwar eine weitere menschliche Aktivität, die wie die Philosophie dem Menschen Aufschluss darüber gibt, wie er sich im Leben verhalten soll. Es ist die Religion. Sie beruht jedoch auf einem Dogma, einem Urprinzip, das als solches nicht Gegenstand des Wissens ist, sondern des Glaubens. Die Philosophie unterscheidet sich hingegen von der Religion insofern, als sie danach strebt, nicht nur die Wahrheit zu erkennen, also rational zu erklären, sondern auch ihr eigenes Fundament zu erklären, welches die Griechen als Arché (ἀρχή) bezeichneten.
Somit gründet sich die Philosophie auf sich selbst bzw. muss das Fundament sich selbst rational erklären können müssen. Deshalb unterscheidet sie sich von der Religion, zwar nicht aufgrund ihrer Inhalte oder ihres Zieles, die denen der Religion gleich sind, aber aufgrund ihrer Bewusstseinsform, die auf radikale Weise anders ist. Die Philosophie strebt nämlich danach, von Grund auf Wissen zu sein. Sie akzeptiert kein Prinzip, keine Wahrheit, die nicht mit der Vernunft logisch beweisbar ist.
Von diesem Standpunkt aus können wir also sagen, dass die Philosophie dieselben Inhalte wie die Religion, aber die Form der Wissenschaft hat. Sie ist die höchste der Wissenschaften und vereint alle anderen Wissenschaften in sich, sowohl die Natur als auch die Geisteswissenschaften. Der theoretische Teil der Philosophie, der die Kenntnis der Welt zum Gegenstand hat, kann schließlich die Grunderkenntnisse der einzelnen Wissenschaften nicht außer Acht lassen. In der Antike waren die Figur des Philosophen und die des Wissenschaftlers eins, weil die Kenntnisse noch nicht so weit entwickelt waren, dass eine Spezialisierung in verschiedene Fachgebiete notwendig gewesen wäre. Heute wäre das natürlich nicht mehr denkbar. Die Wissenschaftler sind Intellektuelle, die sich mit einem spezifischen, meist eng eingegrenzten Gebiet einer Disziplin befassen, und nur so können sie zu neuen Ergebnissen und neuen Erkenntnissen gelangen. Der Philosoph kann die Ergebnisse der verschiedenen Wissenschaften nicht im Detail kennen, das verlangt sein Ziel aber auch nicht von ihm. Denn sein Ziel ist es, wie wir bereits gesagt haben, aus der Kenntnis der Welt eine weise Lebensweise zu gewinnen. Das, was der Philosoph benötigt, sind die Grundkenntnisse der verschiedenen Wissenschaften, d.h. die grundsätzlichen Ergebnisse, die sie hervorgebracht haben. Diese lassen sich im Übrigen einfach konsultieren, da es heute viele allgemeinverständliche wissenschaftliche Publikationen gibt, also Publikationen, in denen die neuesten Erkenntnisse der verschiedenen Disziplinen zusammengefasst und auf populärwissenschaftliche Weise der Allgemeinheit verständlich gemacht werden. Die Allgemeinheit, das sind eben keine Experten, und dazu gehört auch der Philosoph. Dabei handelt es sich natürlich nicht um unwissenschaftliche Texte, sondern um echte wissenschaftliche Arbeiten, die jedoch das Ziel und den Vorzug haben, in einfacher und allgemeinverständlicher Sprache geschrieben zu sein. Das ermöglicht auch dem Laien den Zugang zur wissenschaftlichen Welt mit ihren fachbezogenen Entdeckungen.
Im Besonderen ist das Merkmal der Philosophie im Vergleich zur Wissenschaft, dass sie die Erkenntnisse in ein System zusammenfügt, eben in das System der Wissenschaften, das mit der Welt als dem Gegenstand des Wissens kongruent sein soll. Wenn nämlich die Welt ein Ganzes ist, wie die Begriffe “Welt” und “Natur” bereits vermuten lassen, dann muss dies auch für ihre Erkenntnisform gelten. Es muss sich daher um ein System handeln, innerhalb dessen die einzelnen verschiedenen Wissenschaften als Teilkenntnisse der Welt Platz finden und das nicht auf zufällige, sondern auf geordnete Weise.
Stellen wir uns vor, dass wir eine Bibliothek aufbauen, unsere Bibliothek: Wenn wir das willkürlich machten, würden wir die Bücher zum Beispiel alphabetisch anordnen. Also kämen als erste die Bücher der Arithmetik, dann die der Astronomie, dann käme vielleicht die Biologie, dann die Chemie usw. Eine auf diese Weise organisierte Bibliothek würde allerdings nicht das wirkliche Bild der Welt widerspiegeln, wie es unserer aktuellen Weltkenntnis entspräche. Die Physik zum Beispiel ist ganz klar eine der Chemie vorausgehende Wissenschaft, wie die Chemie ihrerseits wiederum eine auf die Biologie vorbereitende Disziplin darstellt, weil sowohl bei der Entstehung der Welt als auch während ihrer Evolution die Elementarteilchen, Atome und Kräfte, die die Natur steuern, sowohl zeitlich als auch logisch gesehen den Molekülen, Sternen und Lebensformen vorausgehen. Letztere setzen die erstgenannten sozusagen voraus. Dies tun sie aber im logischen und nicht im alphabetischen Sinne, also muss die Physik, wenn die Bibliothek ein objektiver Spiegel der Welt sein soll, vor Chemie und Biologie stehen, nicht danach.
Wenn wir also möchten, dass unsere Bibliothek die Welt widerspiegelt, müssen wir das Alphabet ignorieren und die Bücher nach einer logischen Reihenfolge wissenschaftlicher Voraussetzungen anordnen, d.h. nach bestimmten Fachgebieten in Bezug zu anderen. Innerhalb dieser Reihenfolge nach Voraussetzungen werden wir als erstes die Mathematikbücher finden, weil, wie uns Galileo Galilei erklärt hat, das Buch der Natur in mathematischer Sprache geschrieben ist. Dann kämen alle naturwissenschaftlichen Bücher in der Reihenfolge ihres Einführungscharakters für die ihnen folgenden Disziplinen, also Physik, Chemie, Astronomie, Botanik, Zoologie usw. bis hin zu den Humanwissenschaften, zu Anthropologie, Psychologie, den Sozialwissenschaften, die das Individuum voraussetzen, dann Soziologie, Wirtschaftswissenschaften, Politikwissenschaften, und die Geschichtsschreibung, da die Menschheit eine rasante Entwicklung durchlaufen hat.
Wenn er sich mit den Grundkenntnissen dieser Fachgebiete anhand der ausgezeichneten allgemeinverständlichen wissenschaftlichen Arbeiten auseinandersetzt, so kann der Philosoph sowohl hinsichtlich der Logik als auch hinsichtlich des zeitlichen Verlaufs (also der Weltgeschichte) zu einer guten Weltkenntnis gelangen.
Wie wir zuvor schon gesagt haben, ist diese Weltkenntnis für den Philosophen nicht allein das Ziel, sondern sie dient ihm dazu, seiner eigenen Existenz auf dieser Welt einen Sinn zu geben, Werte also, eine Orientierung im Leben, das, was wir “Weisheit” definiert haben. Unsere Idealbibliothek, wie wir sie gerade beschrieben haben, wird uns durch ihre Geschichtsbücher lehren, wie die Welt bis gestern oder bis vor einer Minute war, aber was ist mit der Welt von morgen? Gibt es eine Wissenschaft, eine rationale Form der Erkenntnis über das, was morgen passieren kann bzw. soll und dem Einzelnen sowie der menschlichen Gemeinschaft als Orientierung bei unausweichlichen und wichtigen Entscheidungen dienen könnte? Keine der genannten Wissenschaften, weder naturwissenschaftlicher noch geisteswissenschaftlicher Art können darauf eine Antwort geben, da sie die gegenwärtige und vergangene Existenz des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes, des jeweiligen Forschungsbereiches erforschen, aber nicht seine künftige Entwicklung. Auch die Wirtschafts und Politikwissenschaften beschäftigen sich mit u.a. mathematischen Modellen der sozioökonomischpolitischen Organisation der Gesellschaft, aber sie geben keine Hinweise darauf, welches wirtschaftlichpolitische Modell in Zukunft am besten angebracht wäre, auch wenn sie zunächst den Anschein haben, auf die Zukunft verweisen zu können.
Demzufolge bliebe unsere Bibliothek entweder leer, ohne Bücher, die uns helfen könnten, rationale, logische und wissenschaftliche Hinweise auf unsere individuelle und soziale zu erhalten, oder aber wir füllen diese leeren Regale mit den Büchern der einzigen Disziplin, die dem Menschen immer schon nahe war, die sein Erdendasein seit jeher begleitet und stets versucht hat, ihn zu unterstützen, indem sie ihm den rechten Weg zeigte: In diese Regale stellen wir die Bücher der Philosophie.
Die Philosophie unterscheidet sich also insofern von den anderen Wissenschaften, als sie die einzige ist, die die Welt, die es noch nicht gibt, auf logische und rationale Weise zu behandeln vermag. Die Welt von morgen, die wir selbst erst noch schaffen müssen, sodass es gut ist, wenn uns irgendjemand auf rationale, wissenschaftliche Weise nahelegt, wie wir dabei vorzugehen haben.
Ich hoffe, dass das Verhältnis zwischen Philosophie, Religion und Wissenschaft und der Grund, aus dem die Philosophie als Liebe zur Wissenschaft und Suche nach Weisheit für den Menschen und die Menschheit unabdingbar ist, deutlich geworden sind. Mit den Worten Kants, der von blinden Intuitionen ohne Begriffe und von leeren Begriffe ohne Intuitionen sprach, können wir sagen, dass nicht nur, wie schon gesagt, die Philosophie ohne wissenschaftlich fundierte Kenntnisse leer ist, sondern auch die Wissenschaften ohne den philosophischen Blick auf die Zukunft blind sind, bzw. dass sie dem Menschen keinen Aufschluss über den Sinn des menschlichen Lebens geben können. Dank der Philosophie hingegen bekommen die Wissenschaften einen ganz anderen Wert und eine andere Bedeutung für unser Leben.
So können wir auch sagen, dass die Religion ohne Philosophie leer ist bzw. sich auf einen dogmatischen und unbeweisbaren Grundsatz stützt, der heutzutage für Gelehrte, die mit den heutigen wissenschaftlichen Ergebnissen vertraut sind, eigentlich nicht mehr haltbar ist. Dank der Philosophie bekommt die Religion jedoch in den Augen des Gelehrten einen anderen Wert, indem er ihren historischen und gleichzeitig aktuellen Wert für jene Menschen erkennt, die aus verschiedenen Gründen nicht den vollständig rationalen Standpunkt der Philosophie annehmen können. Diesen Personen gibt die Religion eine ethische Orientierung für die Zukunft, Werte, auf die kein Mensch verzichten kann.
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