*
1.3.2.0
ZWEITES STADIUM
Festsetzung der Hauptmerkmale
der neuen Volksreligion
(Herbst / Winter 1792/93 - Sommer 1793)
Hauptquellen: Text 16
*
Etwa zwischen Ende 1792 und Anfang 1793 beginnt Hegel mit der Festsetzung der grundlegenden Merkmale der Volksreligion, die geeignet ist, die Religion vor der Kritik des Intellekts zu retten. Er kommt zum Ergebnis über drei verschiedene Entwicklungsstufen, die jeweils durch einen Schritt gekennzeichnet sind, den er bei der Bestimmung des Begriffs der Volksreligion unternimmt.
Die erste Stufe, etwa Herbst/Winter 1792/93, besteht aus der Ausarbeitung des Begriffs der Volksreligion als "Religion des Herzens" (oder "subjektive Religion"). Hegel stellt einer solchen Religion, die einzig und allein auf der natürlichen Güte des Menschen beruht und an die er, Rousseau treu folgend, immer noch glaubt, die Theologie (oder "objektive Religion") gegenüber, die ein kalter Ausdruck des Verstandes ist und keinen positiven Einfluss auf das moralische Verhalten des Menschen ausüben kann.
Die zweite Stufe, vom Winter 1792/93 bis zum 1. Mai 1793, ist durch eine Krise des Denkens gekennzeichnet, in der sich der junge Mann nach der Lektüre und Rezeption der von Kant im ersten Kapitel der Religionsschrift geäußerten anthropologischen Konzeption befindet. Darin hatte Kant nämlich klargestellt, dass in der menschlichen Natur sowohl die Veranlagung zum Guten als auch zum Bösen vorhanden ist und dass die Aufgabe der Religion daher darin besteht, den Menschen dazu zu bringen, der ersten Veranlagung zu folgen und die zweite folglich zurückzuweisen. Hegel zeigt in den Texten dieser Phase (der zweiten und dritten Tübinger Predigt), dass er diese kantische Lehre aufgenommen, sich zu eigen gemacht und damit die Auffassung der "Religion des Herzens" der vorangegangenen Phase überwunden hat.
Die dritte Stufe schließlich (vom 1. Mai 1793 bis zum Sommer desselben Jahres) besteht in der Aneignung der philosophisch-religiösen Auffassung, die im zweiten und vor allem im dritten Kapitel der Kantschen Schriften enthalten ist. Hegel offenbart nämlich in den Fragmenten, die zu dieser Klasse gehören, und insbesondere in dem Bogen ’h’ von Text 16, dass er die kantische Lehre von der wahren Religion als Vernunftreligion vollständig verinnerlicht hat und sie teilt.[1]
Damit zeigt der junge Denker, dass er seine ursprüngliche Vorstellung vom Herzen als Fundament der Religion endgültig aufgegeben und die kantische Lehre verstanden hat, dass nämlich nur die Vernunft das geeignete Fundament für die Gründung einer wahren, also absoluten und universellen Religion sein kann. Damit ging er von der Auffassung der Religion als "Sache des Herzens" zur Religion als "Sache der Vernunft" über.
Philologische Situation der Quellen ihre Datierung
Die Blätter "a" bis "g" des Manuskripts, die dem Text 16 entsprechen, enthalten Hegels ursprüngliche Auffassung der Volksreligion. Auf der Grundlage der sehr umfangreichen und informativen Anmerkungen der Herausgeber des ersten Bandes der Gesammelten Werke ist es möglich, eine genaue Analyse dieses Textes vorzunehmen. Aus diesen Anmerkungen wird deutlich, dass es sich bei dem so genannten "Tübinger Fragment", also dem Text 16 von GW 1, nicht um einen einzigen Text handelt, sondern um eine Sammlung verschiedener Texte, die Hegel zu verschiedenen Zeiten verfasst und dann später zu einem thematisch homogenen Text zusammengefügt hat.
Vor allem die Zäsur bei 99,28-29 von GW 1 ist wichtig, da sie die Wasserscheide zwischen zwei Textgruppen darstellt, die sich durch ein völlig unterschiedliches Verständnis von "Volksreligion" voneinander unterscheiden.
Die Texte, die vor dieser Zäsur stehen, enthalten nämlich eine Auffassung der Volksreligion als "Sache des Herzens", während die Texte, die nach dieser Zäsur stehen, die Auffassung der "Volksreligion" als "Vernunftreligion", als "Sache der Vernunft" präsentieren.
Ein solch detailliertes Verständnis des Textes war daher nur durch die äußerst genaue philologische Arbeit der Herausgeber des ersten Bandes der Gesamtwerke möglich. Wenden wir uns nun der Analyse dieser einzelnen Entwicklungsstufen zu.
*
1.3.2.1
ERSTE STUFE
Volksreligion als „Sache des Herzens“
Zeitlicher Rahmen: Herbst / Winter 1792/93
Hauptquellen: Bögen a-g von Text 16
Auf Grund der sehr ausführlichen und aufschlussreichen Anmerkungen sowie des editorischen Berichts der Herausgeber von GW 1 ist es endlich möglich, eine genaue Untersuchung des Textes 16 durchzuführen. Durch diese Anmerkungen erfahren wir, dass das sogenannte Tübinger Fragment, das als Text 16 in GW 1 veröffentlicht ist, nicht ein einziger Text ist, sondern mehrere, von Hegel selbst zusammengeordnete Texte enthält.[2] In der Einführung zu diesem Stadium ist darüber schon ausführlich berichtet worden. Hier ist nur noch einmal zu unterstreichen, dass vor allem die Zäsur bei Textstelle 99,28-29 wichtig ist, weil diese zwei Gruppen von Texten trennt, die sich voneinander durch eine völlig andere Auffassung der Volksreligion unterscheiden. Die Texte, die sich vor dieser Zäsur befinden, enthalten die Auffassung von einer Volksreligion als „Religion des Herzens“, und die nach dieser Zäsur die Auffassung von der Volksreligion als „Vernunftreligion“.
Wir werden hier die Auffassung der ersten Textgruppe (von Bogen a bis g) vertiefen, also die Auffassung von der Religion des Herzens, die den Hauptinhalt von Hegels geistigen Fortschritten dieser Stufe bildet. Wenn man die verschiedenen Bögen bzw. Lagen, die diesen Text bilden, einzeln untersucht, kommt man zu dem Ergebnis, dass sich sehr genau begrenzte einzelne Denkschritte unterscheiden lassen, in denen er seine Auffassung der Volksreligion ausgearbeitet hat. Diese Fortschritte können genau voneinander unterschieden werden.
Bogen ’a’
(GW 1: 83.1 bis 85.13)
Hier befindet sich eine Einführung in die gesamte Problematik. Hegel beginnt mit einer Rechtfertigung seines Themas, d.h. er erklärt die Wichtigkeit der Religion in dem Leben des Menschen:
"Religion ist eine der wichtigsten Angelegenheiten unseres Lebens [...]"
(GW 1, 83, 1)
Wenn wir an die Kritik der Religion denken, die von Diez im Stift geübt worden war,[3] können wir feststellen, dass diese ersten Worte eine klare Stellungnahme gegen diese Position darstellen.
Der junge Philosoph begründet diese Wichtigkeit der Religion mit der Tatsache, dass es in der „Natur des Menschen“ ein „natürliches Bedürfniß“ danach gibt,[4] so dass die Religion, und vor allem „was in der Lehre von Gott praktisch ist“, einen sehr empfänglichen Nährboden in dem „un-verdorbenen MenschenSinne“ findet.
Nachdem Hegel die Zentralstellung der Religion in dem Leben des Menschen festgestellt hat, erklärt er weiter, dass es notwendig ist, methodisch einfühlsam vorzugehen, wenn man dieses Thema erfolgreich behandeln will, d.h. wenn man wirklich Einfluss auf die Moralität der Menschen ausben möchte: man darf nie vergessen, dass die
|
„[...] Sinnlichkeit das HauptElement bei allem Handeln und Streben der Menschen ist“ (GW 1, 84, 16-17).[5] |
„Die Natur der Menschen“, führt er fort,
„… ist mit den Ideen der Vernunft gleichsam nur geschwängert“ |
|
und er vergleicht deren Einfluss mit dem Salz in einem Gericht, das dieses prägt, ohne selbst aber darin erkennbar zu sein.
Was Hegel damit sagen möchte, ist, dass die Moral, die auf vernünftigen Prinzipien ruht, nur Einfluss auf die Menschen üben kann, indem sie deren Sinnlichkeit prägt. Die Moral, um erfolgreich zu sein, soll also die Sinnlichkeit des Menschen so umwandeln, dass diese selbst moralisch wird. Wenn das geschieht, dann handelt der Mensch weiter aus sinnlichem Antrieb, weil er nicht anders leben kann; da aber die Sinnlichkeit von der Religion „moralisiert“ worden ist, handelt er indirekt auch moralisch.
|
Bogen ’b’
(GW 1: 85.14 bis 87.15)
An diesen Gedanke der Sinnlichkeit als Hauptmotiv des menschlichen Handelns knüpft der Anfang des zweiten Bogens an. Nachdem Hegel durch die Sprache Fichtes betont hat, dass die Religion nicht als bloße Wissenschaft von Gott Geltung gewinnt, sondern allein, indem sie „das Herz interessirt“, da sie die „Beweggründen“ der Moralität liefert, stellt Hegel fest, dass die Religion „sinnlich“ sein soll,
|
„[...] um auf die Sinnlichkeit wirken zu können“ (GW 1, 86, 2). |
Es handelt sich um einen wichtigen Gedanken, der im Laufe der Entwicklung in diesen Jahren nicht verloren gehen, sondern einen festen Bestandteil von Hegels religiösem Ideal bilden wird. In diesen ersten zwei Bögen handelt es sich um eine erste Systematisierung von Hegels Überlegungen über den Begriff „Volksreligion“. Dabei versucht Hegel, die Auffassung von einer Volksreligion auszuarbeiten, die einen wirklichen Erfolg beim Volk haben kann. Mit diesem Ziel versucht er die Hauptmerkmale festzusetzen, die zu diesem Erfolg unentbehrlich sind. In Bogen b ist dies das Hauptmerkmal der „Sinnlichkeit“, und mit dieser Festsetzung endet dieser Bogen).[6]
Bogen ’c’
(GW 1: 87.16 bis 90.25)
Dieser Bogen bildet den Kern der ersten Gruppe von Texten. Hier behandelt Hegel explizit das Thema „Auseinandersezung des Unterschieds zwischen objektiver und subjektiver Religion; Wichtigkeit dieser Auseinandersezung in Ansehung der ganzen Frage“ (GW 1, S. 87, 16-17) und macht schon in der Überschrift klar, dass es sich dabei um ein wichtiges Thema in Bezug auf die Festsetzung des Begriffs „Volksreligion“ handelt (auch Hegels Versuch, zu bestimmen, welcher der „Hauptpunkt einer Volksreligion“ ist, wie es im Bogen b zu lesen ist, gilt als deutliches Zeichen dafür, dass sich Hegel in diesen Bögen mit einer einzigen Hauptfrage beschäftigt, und zwar mit der von der Festsetzung des Begriffs von Volksreligion).
Hegel stellt zuerst den Begriff der objektiven Religion (S. 87,18 bis 89,15) und dann den der subjektiven Religion (S. 89,16 bis 90,2) dar. In dieser Darstellung bleibt Hegel nicht unparteiisch, sondern spricht sich eindeutig fr die subjektive Religion aus, die lebendig, und gegen die objektive, die etwas Totes sei. Seine Schlüsse befinden sich im letzten Absatz dieses Bogens, in dem er seine Absicht explizite erklärt:
|
„Meine Absicht ist nicht, zu untersuchen, welche religiöse Lehre am meisten Interesse fürs Herz haben, [...], sondern was für Anstalten dazu gehören, daß die Lehren und die Kraft der Religion in das gewebe der menschlichen Empfindungen eingemischt, ihren Triebfedern zu handeln beigesellt, und sich in ihnen lebendig und wirksam erweise - daß sie ganz subjektiv werde - wenn sie das ist - so äussert sie ihr Daseyn nicht blos durch Händefalten, [...], sondern sie verbreitet sich auf alle Zweige der menschlichen Neigungen (ohne daß die Seele gerade es sich bewust ist) und wirkt überall - aber nur mittelbar mit - sie wirkt, um mich so auszudrücken, negativ, bei dem frohen Genus menschlicher Freude - [...], wenn sie auch nicht unmittelbar einwirkt, so hat sie doch den feinern Einfluß, daß sie die Seele wenigstens frei und offen dabei fortwirken läst,[...]-” (GW 1, S. 90, 3-25) |
Diese besteht also darin, zu untersuchen, wie die Religion subjektiv werden kann („was für Anstalten dazu gehören, [...] dass sie ganz subjektiv werde“). Somit hat er ein weiteres Hauptmerkmal der Volksreligion festgesetzt: die Subjektivität. Es ist diesbezüglich interessant zu bemerken, dass Hegel am Anfang von Text 12, wo er sich auf Fichte in Bezug auf diese Frage der Subjektivität bzw. Objektivität der Religion ausdrücklich bezieht, noch im Unklaren darüber ist, welche von diesen beiden die bessere Form von Religion ist. Das zeigt, dass er bei der Niederschrift von Text 12 Fichtes Schrift schon gelesen, aber sich deren Schlüsse noch nicht angeeignet hat, was dagegen bei der Abfassung von Bogen c von Text 16 schon geschehen ist. Dies alles deutet darauf hin, dass Hegel zwischen dem ersten Kontakt mit einer anspruchsvollen philosophischen Schrift und deren Aneignung schon einige Zeit brauchte. Das ist ein zusätzliches Argument zur Unterstützung der in dieser Studie vorgeschlagene These des zeitlichen Abstandes zwischen den Texten dieser Jahre sowie zwischen den zwei Bögengruppen von Text 16.
Bogen ’d’
(GW 1: 90.26 bis 93.27)
Dieser Bogen ist deshalb von Wichtigkeit, weil Hegel hier die Schlüsse aus den Überlegungen zieht, die er in den vorigen Bögen[7] angestellt hat.
Im Anschluss an die Darstellung des Unterschieds zwischen subjektiver und objektiver Religion stellt er an den Anfang dieses Bogens den zentralen Begriff, der seine Auffassung der Volksreligion auf dieser ersten Stufe kennzeichnet: Er unterscheidet hier wieder zwischen Theologie und Religion und ergänzt diese Unterscheidung durch die wichtige Feststellung, dass die Theologie „Sache des Verstandes“ sei, während die Religion „Sache des Herzens“ ist.
|
„Wenn Theologie Sache des Verstands und des Gedächtnisses ist [...] Religion aber Sache des Herzens [...]“ (GW 1, 90, 26-28). |
In den unmittelbar folgenden Zeilen stellt Hegel auf eine genaue Weise diese Definition von Religion dar, und dabei benützt er eine Gedankenstruktur, die eindeutig auf Fichtes Offenbarungsschrift zurückweist.
Die Bezeichnung der Volksreligion als „Sache des Herzens“ fasst also alle Hauptmerkmale der Volksreligion zusammen, die Hegel bis zu diesem Zeitpunkt, vor allem auf Grund der Offenbarungsschrift, festsetzen konnte. Dieser Ausdruck befindet sich noch an zwei anderen Stellen dieser Textgruppe (danach findet er sich nicht mehr), und zwar an folgenden: 92,8 von Bogen d und, schon zum Bogen g gehörend, 96,28. Ab dem Bogen h, unter deutlichem Einfluss von Kants Religionsschrift, wird „Sache des Herzens“ durch den Ausdruck „Vernunftreligion“ ersetzt.[8]
Der Rest von Bogen d (S. 91-93) enthält eine Apologie des Herzens anhand von Lessings Nathan. Dem Herzen wird hier der Verstand gegenübergestellt, der unfähig ist, die Grundlage von Moralität zu sein.
Bogen ‚f’[9]
(GW 1: 94.1 bis 96.24)
Dieser Bogen enthält Hegels Abrechnung mit dem Verstand und mit der Aufklärung. Damit meinte er vor allem die Haltung, die dem Menschen eine Moral verschreiben will, die nur aus „kalten“ Prinzipien besteht, ohne Rücksicht zu nehmen auf die Sinnlichkeit des Menschen (s. das am Anfang von Bogen a angegebene Beispiel von der Wirkung des Salzes auf ein Gericht).
Hegels Kritik war insbesondere gegen Campe gerichtet.[10] Sein Hauptkritik ist, dass der Verstand nur dazu dienen kann, die Wahrheiten der objektiven Religion zu klären, aber völlig unfähig ist, diese Wahrheiten in ein praktisches, moralisches Verhalten umzusetzen: Er kann also keine Hilfe leisten, wenn es um die subjektive Religion geht.
„Aufklärung des Verstandes macht zwar klüger, aber nicht besser“ (GW 1, 94, 12). |
Der zentrale Teil von diesem Bogen ist besonders wichtig, weil darin wörtlich zum Ausdruck kommt, mit welcher Frage sich Hegel in diesen Texten beschäftigt und wovon die Rede an Stelle 87,17 ist. Es handelt sich um die Frage der Aufklärung des Volkes
|
„Wenn man davon spricht: man kläre ein Volk auf [...]“ (GW 1, 95, 1). |
In Bezug auf diese Frage, die nichts anderes ist als die Wiederaufnahme der Frage der „Aufklärung des gemeinen Mannes“, kommt er zu folgendem Schluss:
|
"[...] da es unmöglich ist, daß eine Religion, die allgemein fürs Volk seyn soll, aus allgemeinen Wahrheiten bestehen kan, zu jeder Zeit nur ausgezeichnetere Menschen gekommen sind [...] - und also immer theils Zusäze beigemischt müssen, die blos auf Treu und Glauben angenommen werden müssen - oder daß die reinern Säze vergröbert in eine sinnlichere Hülle gestekt werden, wenn sie verstanden werden und der Sinnlichkeit annehmlich seyn solliglen, [...] ] - wenn ihre Lehren in Leben und That wirksam seyn sollen - unmöglich auf blosse Vernunft gebaut seyn können." (GW 1, 96, 5-16). |
Mit diesem klaren Schluss, der sowohl die gestellte Frage (die Aufklärung des Volkes) als auch deren Lösung zum Zeitpunkt der Fassung dieses Bogens (die Volksreligion als „Sache des Herzens“) formuliert, wird der Bogen ‚f‘ abgeschlossen.
Bogen ’g’
(GW 1: 96.25 bis 99.28)
Dieser Bogen beginnt mit der gleichen Frage, die auch dem Bogen f zugrunde liegt.
|
„Wie Religion überhaupt eine Sache des Herzens ist, so könnte es eine Frage seyn, wie weit sich Räsonnement einmischen darf, um Religion zu bleiben“. (GW 1, 96, 28-29) |
Der zentrale Teil von diesem Bogen enthält einen Vergleich zwischen Aufklärung und Weisheit.
“Etwas anderes als Aufklärung, als Räsonnement ist Weisheit” (GW 1, p. 97,8-9).
Die Aufklärung scheidet auch aus diesem Vergleich selbstverständlich als Verlierer aus; gegen sie übt Hegel die gleiche Kritik wie im Bogen f. Die Weisheit dagegen wird von ihm in direkter Verbindung zum Herzen gesehen.
|
"Aber Weisheit ist nicht Wissenschaft - Weisheit ist eine Erhebung der Seele [...] sie räsonnirt wenig [...] sie hat ihre Überzeugungen nicht auf dem allgemeinen Markt eingekauft, [...] sondern spricht aus der Fülle des Herzens" (GW 1, 97, 8-19). |
Nach einem zusätzlichen, zornigen Angriff gegen Campe, gegen „das Kampische Lineal“, die Aufklärung, sowie gegen die damaligen „vollgeschriebenen Zeiten“, deren Buchgelehrsamkeit und den von ihnen erzeugten „BuchstabenMenschen“,
„[...] der hat nicht selbst und gelebt" (GW 1, 99, 18-19) |
wird dieser Bogen von Hegel schließlich mit dem schönen, beruhigenden und hoffnungstragenden Bild der Religion abgeschlossen, die dem Menschen „sein kleines Häuschen“ bauen helfen soll,
|
[...] das der Mensch alsdenn sein eigen nennen kan [...]".[11] (GW 1, 99, 27-28) |
Auf diesen wichtigen Seiten, auf denen Hegels subjektive, ja leidenschaftliche Anteilnahme an der religiösen Frage deutlich wird, durfte der Bezug zu Lessings "Nathan" und insbesondere zu der Stelle, auf die der junge schwäbische Denker schon in seiner Stuttgarter Zeit sein Verständnis des Griechentums gestützt hatte, nicht fehlen:
„Und von vielen Dingen könnte ich dir erzählen wie, wo, warum habe ich sie gelernt" (GW 1, 99.25-26) |
|
Das eigene Wissen, die eigene Spiritualität von innen heraus geschaffen zu haben, sie also nicht von außen (vom Markt) erhalten zu haben, ist für den jungen Hegel das grundlegende Merkmal der Weisheit, also der wahren Aufklärung. So wird es auch für den reifen Hegel sein.
Exkurs: Fichtes Offenbarungsschrift als Hintergrund von Hegels Auffassung der Religion als „Sache des Herzens“
Dieser ersten Stufe von Hegels Festsetzung des Begriffs der Volksreligion liegt offensichtlich ein Teil von Kants Auffassung der praktischen Vernunft und insbesondere die Theorie der Postulate zugrunde sowie deren Anwendung auf den Begriff der Religion, wie Hegel sie durch die Schrift von Fichte rezipierte. In der Tat scheint es sehr unwahrscheinlich, dass Hegel diese Auffassung direkt von Kant übernommen hat. Dies ist dadurch dokumentiert, dass er sich in dem Text 12 explizit auf Fichtes Schrift bezieht. Außerdem weisen mehrere Textstellen in den Bögen a-g von Text 16 sowohl sprachlich als auch gedanklich unmittelbar auf die Lektüre der „Critik aller Offenbarung“ hin. Die Interpretation, dass er den Inhalt von Kants moralischer Auffassung nur indirekt durch Fichte gekannt hat, scheint deshalb am sinnvollsten. Dies dürfte aber nicht entscheidend sein, da sich in Fichtes Schrift eine vollständige Zusammenfassung derjenigen Hauptgedanken von Kants Schrift befindet, die in einem engen Zusammenhang mit der religiösen Problematik stehen. In der Tat hat Hegel die Anregung zur Auseinandersetzung mit den Gedanken, die um den Begriff „praktische Vernunft“ kreisen, von Fichtes Anwendung dieser Gedanken auf die Religionsproblematik offensichtlich eher als direkt von Kant bekommen. Es ist also sowohl aus dokumentarischen als auch aus inhaltlichen Gründen dieser Spur von Fichtes Offenbarungsschrift als der Hauptspur zu folgen, wenn man die Gedanken rekonstruieren will, die hinter Hegels Überlegungen über die Religion in den Bögen a-g von Text 16 stehen.
Die Ziele, die Fichte im Verlauf seiner Schrift verfolgt, sind:
- erstens, die Gründe zu bestimmen, weshalb eine Offenbarung überhaupt notwendig ist. Diese Thematik wird von ihm als „Deduction des Begriffs der Offenbarung“[14] bezeichnet und in den Paragraphen 3 bis 7 behandelt;
- zweitens, die Kriterien festzulegen, nach denen es zu unterscheiden ist, ob es sich wirklich um eine göttliche Offenbarung handelt. Diese zweite Frage wird von ihm in den Paragraphen 8 bis 12 behandelt.
Die ersten Paragraphen (1 Einleitung und 2 Deduction des Begriffs der Religion überhaupt) dienen insgesamt als Einleitung zu seiner eigenen Problematik und enthalten eine Darstellung von Kants Theorie der Postulate sowie ihre Anwendung auf die Religionsproblematik. Der letzte Paragraph (13) enthält die Schlüsse.
Wenn wir diese Hauptthemen von Fichtes Schrift mit Hegels Texten vergleichen, muss festgestellt werden, dass die Schlüsse, zu denen Fichte kommt, sowie auch die Hauptfrage der Rechtfertigung bzw. „Deduction“ des Begriffs der Offenbarung, die er sich stellt, keinen Niederschlag bei Hegel finden. Grund dafür ist, dass Hegel von dieser Frage gar nicht bewegt war und deswegen auch die Schlüsse, zu denen Fichte kommt, für ihn uninteressant gewesen sind.
Er war vielmehr von der Frage der Festsetzung der Hauptmerkmale der Religion als Volksreligion und des Verständnisses von ihrer Stellung im menschlichen Leben bewegt. Es liegt auf der Hand, dass die Teile, die für ihn besonders interessant waren, die ersten Paragraphen und insbesondere der zweite waren, wo Fichte sich mit dem Begriff der Religion im allgemeinen beschäftigt, bevor er dann ab dem dritten Paragraphen mit der Deduktion der Offenbarung beginnt. Dieser zweite Paragraph muß sehr wichtig für Hegel gewesen sein, weil sich darin eine Deduktion, also eine Rechtfertigung der Religion im Allgemeinen befindet, wie die Überschrift lautet. Dies ist genau das Thema, womit sich Hegel in dieser Zeit hauptsächlich beschäftigte. Nicht zufällig bezieht er sich am Anfang von Text 12 explizit auf die Einleitung zur Offenbarungsschrift, worunter er nicht nur den ersten Paragraphen verstand, der mit “Einleitung“ bezeichnet ist und nur aus einer knappen Seite besteht, sondern auch den zweiten Paragraphen, die „Deduction der Religion überhaupt.“[15]
Im Folgenden werden wir diese Gedanken, die Hegel direkt von Fichte rezipiert hat, aufstellen. Dabei werde ich versuchen, sowohl die Reihenfolge einzuhalten, in der sich diese Gedanken bei Fichte finden, als auch die systematische Ordnung, die sie bei Fichte und auch bei Hegel besitzen.
Unserer Aufstellung legen wir die erste (erschienen: Ostermesse 1792) und nicht die zweite Ausgabe (Frühling 1793) der Offenbarungsschrift zugrunde. Grund dafür ist, dass die Rekonstruktion von Hegels Entwicklung in der Tübinger Zeit und vor allem die zum ersten Mal in vorliegender Studie ans Licht gebrachte Spaltung im Text 16 eine „zeitliche Nachbarschaft“[16] mit der 2. Auflage sehr unwahrscheinlich machen, die sich nur über einige Wochen erstreckt.
Die verschiedenen Stadien und Stufen, die sich in Hegels geistiger Entwicklung auf Grund der erhaltenen Texte erkennen lassen, zwingen den Interpreten, einen zeitlichen Abstand von einigen Monaten zwischen diesen Texten anzunehmen. Wenn angenommen wird, dass Hegel die Offenbarungsschrift gleich in der zweiten Ausgabe gelesen hat, wie es im editorischen Bericht von GW 1 heißt, würde der Einfluss dieser Schrift auf ihn in die Zeit der Abfassung der 3. Predigt (1.5.1793) und kurz vor der Abfassung der 4. Predigt (16.6.1793) fallen. Diese Predigten weisen aber schon deutlich die Rezeption von Kants Religionsschrift auf, was außerdem von den Herausgebern von GW 1 selbst deutlich gemacht wird. Da die Gedankenstruktur, die diesen Predigten sowie den Bögen h-l vom Text 16, die auch unter den Einfluss Kants stehen, zugrunde liegt, ganz anders ist als die von Fichtes Offenbarungsschrift und vor allem als die von den unter dem Einfluss von Fichte verfassten Bögen a-g, hätte Hegel in den wenigen Wochen zwischen der Veröffentlichung von der zweiten Ausgabe (Jubilate, also gegen April 1793)[17] und dem 1.Mai bzw. spätestens dem 16.Juni folgendes Pensum bewältigen müssen:
- Fichtes Schrift lesen, rezipieren und auf seine Problematik der Volksreligion anwenden;
- die Texte 12 bis 16 (bis Bogen g) verfassen;
- Kants Religionsschrift lesen, rezipieren und auf die eigene Problematik anwenden.
Da die Auffassungen der Volksreligion in den Bögen a-g bzw. h-l von Text 16 völlig verschieden sind, hätte Hegel, ohne eine Zeitspanne des Überdenkens zu benötigen, die erste Auffassung unmittelbar nach der Niederschrift durch die zweite ersetzt haben müssen. Dies aber erscheint unmöglich.
Außer den oben dargelegten Gründen gibt es noch einen Grund, der die Theorie der „zeitlichen Nachbarschaft“ unter den erhaltenen Texten aus der Tübinger Zeit sehr unwahrscheinlich macht: Hegels Überlegungen im Text 12 sowie in den Bögen a-g von Text 16 knüpfen direkt an die ersten zwei Paragraphen der Offenbarungsschrift an, auf die sich Hegel im Text 12 ausdrücklich bezieht. Außerdem finden sich mehrere ähnliche Textstellen, die deutlich machen, dass Fichtes Schrift die Grundlage für Hegels Überlegungen bei der Abfassung dieser Texte gewesen ist. Der Paragraph „Theorie des Willens, als Vorbereitung einer Deduction der Religion überhaupt“, der in der zweiten Ausgabe den zweiten Paragraphen bildet und deswegen, nach Hegels Interpretation, zur Einleitung gehört, auf die er sich ausdrücklich bezieht, zeigt keine Verwandtschaft mit Hegels Texten, und die Begriffe, die hier vorkommen, finden sich weder in der gedanklichen Reihenfolge des zweiten Paragraphen der ersten Ausgabe, noch in den Texten Hegels.
Aus allen diesen Gründen scheint deshalb sehr unwahrscheinlich, dass Hegel Fichtes Schrift erst im Frühling 1793 gelesen und rezipiert haben sollte. Der von den Herausgebern von GW 1 zur Unterstützung ihrer Interpretation angegebene dokumentarische Grund, dass sich Hegel in dem gegen April 1795[18] entstandenen Text 28 auf die zweite Ausgabe nachweislich bezieht,[19] ist nicht entscheidend, da es fast selbstverständlich scheint, dass Hegel zuerst die erste Ausgabe gelesen hat, sobald sie veröffentlicht wurde, und erst später, als er wieder zu dieser Schrift zurückgriff, die zweite vermehrte und überarbeitete Ausgabe benutzt hat.
Dieser dokumentarische Grund wird von den Herausgebern von GW 1 zudem selbst aufgehoben, indem sie in der Anmerkung zu 91,2-3 (S. 563) in Bezug auf eine Stelle von Text 16 auf eine ähnliche Stelle bei Fichte verweisen, die sich nur in der ersten Ausgabe befindet.
Wenn man also die Texte dieser Jahre betrachtet und die Texte der späteren Jahre außer Acht lässt, was aus methodologischer Sicht die richtige Verfahrensweise ist, kann man also auch aus dokumentarischen Gründen schließen, dass Hegel die erste und nicht die zweite Ausgabe der Offenbarungsschrift zuerst gelesen und rezipiert hat.
Im Folgenden werden wir uns deshalb immer auf die erste Ausgabe beziehen.
1. Gedanke von dem Zusammenfallen von „höchster sittlicher Vollkommenheit“ und „höchster Glückseligkeit“ als „das höchste Gut“ und der „Endzweck“ des menschlichen Lebens
Fichte (Off., 2, S. 19,3-6):[20]
„Es ist durch die Gesetzgebung der Vernunft [...] ein Endzweck aufgegeben; nemlich das höchste Gut, d.i. die höchste sittliche Vollkommenheit, vereint mit der höchsten Glückseligkeit.“
Hegel (Bogen d; GW 1, S.91,1-4):[21]
„Um hoffen zu können, dass das höchste Gut dessen einen Bestandtheil wirklich zu machen uns als Pflicht auferlegt, im Ganzen wirklich werde fodert die praktische Vernunft Glauben an eine Gottheit - an Unsterblichkeit.“
Sowie (Bogen a; GW 1, S. 84,18-19)
„Befriedigung des Trieb nach Glükseeligkeit als höchster Zwek des Lebens angenommen [...]“
2. Theorie der Postulate als Voraussetzung für die Verwirklichung dieses Endzwecks
Fichte (Off., S.22,2-4):
„Es muß also ein ewiger Gott seyn, und jedes moralische Wesen muß ewig fortdauern, wenn der Endzweck des Moralgesetzes nicht unmöglich seyn soll.“
Hegel: s. oben: „Um hoffen...“.
3. Subjektive und nicht objektive Gültigkeit der Postulate
Fichte (Off., S.22,4-6):
„Dieses sind die Postulate der Vernunft, welche wir, um unsrer moralischen Bestimmung durch dieselbe willen, nicht als objektiv gewiß, sondern als subjektiv für unsere, nemlich menschliche Art zu denken gültig, annehmen müssen.“
Hegel (Bogen c; GW 1, S.89,26-27):
„Ich rechne hier nur insoweit Kenntnisse von Gott und Unsterblichkeit zur Religion, als das Bedürfnis der praktischen Vernunft fodert [...]“
4. Auffassung von Gott als „Beweger“, „Bestimmer“ der Natur nach einer moralischen Ordnung
Fichte (Off., S. 29,13-14):
„In Absicht der letztern[22] ist also Gott nicht eigentlich Gesetzgeber, sondern Beweger, Bestimmer.“
Sowie in Off., S. 30,1-2):
„[...] die Idee von Gott, als Bestimmer der Natur nach moralischen Zwecken [...]“.
Hegel (Bogen d; GW 1, S.91,21-23):
„[...] - der Begrif von Gott und die [Vorstellung] an ihn sich zu wenden ist schon moralischer das h. deutet schon mehr auf Bewustseyn von einer höhern nach grössern Zweken als sinnlichen bestimmten Ordnung hin - [...]“
5. Festsetzung des Verhältnisses zwischen Religion und Moralität als „Beförderung“ der zweiten durch die erste sowie der Begriff „Beförderung“ im Allgemeinen
Fichte (Off., S.20,16- 17):
„[...] so müssen wir, so gewiß wir annehmen müssen, dass die Beförderung des Endzwecks des Moralgesetzes in uns möglich sey [...]“.
Sowie Off. S.21,21-23:
„Es thut diese Forderung an jenes heilige Wesen, in Ewigkeit das höchste Gut in allen vernünftigen Naturen zu befördern.“
Hegel (Bogen c; GW 1, S.90,19-23):
„[...] zur Aüsserung menschlicher Kräfte [...] gehört Unschuld, reines Gewissen, und dise 2 Eigenschaften hilft die Religion mit befördern.“
6. Unterscheidung von „subjektiver“ Religion und „objektiver“ Theologie
Fichte (Off., S. 23,11 ff.):[23]
„So lange wir nun bei diesen Wahrheiten, als solchen, stehen bleiben, haben wir zwar eine Theologie [...] aber noch keine Religion, die selbst wieder als Ursache auf diese Willensbestimmung einen Einfluß hatte. [...] Theologie [...] ist bloße Wissenschaft, todte Kenntniß ohne practischen Einfluß; Religion aber (religio) soll der Wortbedeutung nach etwas seyn, das uns verbindet, und zwar stärker verbindet, als wir ohne dasselbe waren.“
Hegel (Bogen b; GW 1, S.85,15ff.):
„Es liegt in dem Begriff der Religion, dass sie nicht blosse Wissenschaft von Gott, [...] sondern dass sie das Herz interessirt; dass sie einen Einfluß auf unsre Empfindungen und auf die Bestimmung unsers Willens hat.“
Sowie (Bogen c; GW 1, 87,18ff.)
„Objektive Religion ist fides quae creditur [...] - zur Objektiven Religion können auch praktische Kenntnisse gehören, aber insofern sind sie nur ein todtes Kapital.“
(Bogen c; GW 1, S. 89,24-26)
„Eine solche Erkenntnis, bei der sich blos der raisonnirende Verstand beschäftigt, ist Theologie, nicht mehr Religion.“
Diese Unterscheidung ist bei Hegel sehr wichtig und bildet den Kern seiner Überlegungen über den Begriff „Volksreligion“, womit er sich zur damaligen Zeit hauptsächlich beschäftigte. Sie wird von ihm in dem Bogen c vom Text 16 (Auseinandersezung des Unterschieds zwischen objektiver und subjektiver Religion) ausdrücklich behandelt. Dieser Bogen ist unverständlich ohne die Annahme, dass Hegel hier seine Überlegungen unmittelbar auf Fichtes Offenbarungsschrift gründet. Auch den Bögen d und f liegt diese Unterscheidung zugrunde. Hier sind nur einige Stellen angegeben worden, in denen der Bezug auf Fichte nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich besonders auffallend ist.
In Bezug auf diesen Unterschied zwischen objektiver und subjektiver Religion bzw. Theologie und Religion werden oft andere Quellen angegeben, aus denen Hegel diese Begriffe hätte rezipieren können, wie z.B. Semler[24] bzw. Sartorius.[25] Da sich Hegel in diesem Zusammenhang auf Fichte ausdrücklich bezieht und sich sowohl die Lektüre der Offenbarungsschrift als auch die Übernahme von mehreren Begriffen und praktisch von der ganzen Auffassung des Verhältnisses zwischen Religion und Moral zweifelsohne beweisen lassen, finde ich keinen Anlass, als Quelle dieser Unterscheidung andere Denker anzugeben als die, auf die sich Hegel selbst deutlich bezieht. In Bezug auf Semler weiß man z.B. nicht mit Sicherheit, ob Hegel ihn damals überhaupt gekannt hat. Man sollte also die Rekonstruktion der Entwicklung von Hegels Denken nicht schwieriger machen, als sie schon ist, und lieber den schon existierenden Spuren bis zu ihrem Ende nachgehen, als neue Spuren bilden.
Zusammenfassend sei festgestellt: Offensichtlich hat Hegel die gedankliche Grundstruktur, worauf sich Fichtes „Critik aller Offenbarung“ gründet, gleich nach deren Veröffentlichung rezipiert, sich angeeignet und darauf aufbauend die gedankliche Struktur seines eigenen Nachdenkens über den Begriff „Volksreligion“ gebildet, wie vor allem die Bögen a-g von Text 16 nachweisen. Ab dem Bogen h ist es dann nicht mehr die Gedankenstruktur der Offenbarungsschrift, sondern die von Kants Religionsschrift, die den Rahmen gibt, innerhalb dessen sich Hegels Überlegungen bewegen.
*
1.3.2.2
ZWEITE STUFE
Übergang von der Volksreligion als „Sache des Herzens“
zur Volksreligion als "Sache der Vernunft"
Zeitlicher Rahmen: Herbst / Winter 1792/93 - 1. Mai 1793
Hauptquellen: Text 16, Bogen ‚h‘
Die zweite Gruppe von Bögen des Textes 16 setzt dagegen die Lektüre von Kants Religionsschrift voraus und gehört nach der von Flügge[26] vorgeschlagenen Periodisierung bereits zur zweiten Periode der Entwicklung der Diskussion über die theologisch-moralische Problematik, die durch die Veröffentlichung von Kants Religionsschrift angeregt wurde. Dazu gehören die Bögen h,i, k und l von Text 16. Sie gehören inhaltlich zur gleichen Gruppe wie die anderen Bögen, vertreten aber eine ganz andere Auffassung der Volksreligion. Der Hauptgedanke dieser Auffassung ist, dass das Fundament der Religion nicht das Herz, sondern die menschliche Vernunft ist.
Der Unterschied zwischen dieser Auffassung und der der Bögen a bis g ist so auffallend und erscheint mit dem Anfang von Bogen h, wo gleich die Rede von der „Vernunftreligion“ als richtiger Form der Religion ist,[27] so plötzlich und ohne einen Übergang, dass man von einem Bruch, einer tiefen Zäsur sprechen muss.
Aus dieser Perspektive wird klar, dass Hegel die zweite Gruppe von Bögen zu einem späteren Zeitpunkt niedergeschrieben hat und dass der Anfang von Bogen h auf keinen Fall die Fortsetzung von dem Ende des Bogens g sein kann, da Hegel sonst eine Überleitung geschrieben hätte. Es entsteht nun die Frage, ob sich durch das erhaltene schriftliche Material irgendwie die Lücke füllen lässt. Eine Untersuchung der anderen, aus diesen Jahren erhaltenen Texte kann möglicherweise aufschlussreich sein.
Die 2. und 3. Predigt
Einige Texte eignen sich nicht dazu und können deswegen schon ausgeschlossen werden, da sie entweder inhaltlich deutlich vor Text 16 geschrieben wurden, wie der Text 12, oder danach, wie die Texte 17-26, die außerdem auch chronologisch mit Sicherheit schon zur Berner Zeit gehören.
Die Texte 13-15 enthalten eine Kritik der christlichen Religion (Text 13) bzw. des damaligen Lebens in Deutschland im Vergleich zu dem Leben der Griechen (Text 15), während der Text 14 nur ein Blatt mit Notizen über die Tradition des deutschen Volkes ist. Insgesamt scheinen diese Texte eher auf den Stand von Hegels Denken vor dem Einfluss von Fichte hinzuweisen. Die Thematik der Volksreligion sowie die damit verbundene, begriffliche Ausrüstung, die Hegel von Fichte rezipiert hat, fehlt hier völlig. Nur der Text 13 enthält einige Zeilen über die Beschaffenheit des Menschen aus Sinnlichkeit und Vernunft,[28] die gut in Verbindung zu dem Anfang des Bogens a von Text 16 zu setzen sind. In einer nachträglichen Ergänzung am Rande dieses Textes ist außerdem die Rede von dem „gemeinen Volk“.[29]
Dieser Text enthält eine Kritik der christlichen Religion, die Hegels Meinung nach nicht fähig ist, die Einbildungskraft des Volkes über die Phantasie zu leiten (vgl. 79,1ff.), und ist deshalb deutlich innerhalb von Hegels Auseinandersetzung mit dem Begriff der Sinnlichkeit im Anschluss an Fichte entstanden. Darin fehlt aber jegliche Andeutung im Hinblick auf die Vernunft als Fundament der Religion bzw. auf eine Überwindung von Hegels Auffassung der Bögen a-g. Auch dieser Text kann also keine Hilfe zur Füllung der Lücke zwischen den Bögen g und h von Text 16 leisten.
Was übrig bleibt, sind die Predigten. Die erste Predigt, die von der Gerechtigkeit Gottes handelt, ist auf eine Auffassung gegründet, nach der „die Stimme des Gewissens“ bzw. „das Herz“ des Menschen dem Willen Gottes direkt entsprechen und deshalb Fundament der Moralität sein können, eine Auffassung, die derjenigen der Bögen a-g sehr nahe steht bzw. sogar möglicherweise auf eine vorausgehende Stufe hindeutet. Auch in chronologischer Hinsicht ist die erste Predigt mit Sicherheit vor dem Text 12 abgefasst worden, da sie auf den 10. Januar 1792 datiert ist und deshalb sowohl aus inhaltlichen als auch aus chronologischen Gründen unmöglich den Übergang zwischen den zwei Bögengruppen von Text 16 bilden kann.
Die zweite Predigt, deren Datierung sehr problematisch ist,[30] zeigt dagegen einen Inhalt, der auf eine neue Stufe in Hegels Gedankenentwicklung hinweist. Sie behandelt das Thema "Versöhnlichkeit" und beinhaltet den wichtigen Gedanken von der „Umänderung und Besserung des Herzens“.[31]
Diesen Begriff verwendet Hegel in Bezug auf die Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Einstellungen zum moralischen Verhalten, die mit Kants bzw. Fichtes Sprache als „Moralität“ bzw. „Legalität“ bezeichnet werden können. Zwar bedient sich Hegel an dieser Stelle nicht explizit dieser Ausdrücke, setzt aber bei seinen Überlegungen dieses Kategorienpaar zweifelsohne voraus.
Er unterscheidet hier zwischen denjenigen, deren Beweggrund zum moralischen Handeln die Liebe zu Gott und zu den Menschen ist, und denjenigen, die die Tugenden aus anderen Gründen ausüben. Nur die ersten können wahre Christen genannt werden, die anderen dagegen nicht, da sie sich nicht „im Geist der Lehre Jesu“ verhalten (60,7-9). Sie glauben, sich tugendhaft zu verhalten, ihr Verhalten fließt aber „nicht aus der rechten Quelle“ (60,6). Was ihrem Verhalten fehlt, ist „eine völlige Umänderung und Besserung des Herzens“ (60,12).
Dieser Gedanke, den Hegel als Voraussetzung für das wahre Christsein aufstellt, ist in Bezug auf die Frage der Füllung der Lücke zwischen den Bögen g und h von Text 16 sehr interessant, da er sich in die von Hegel in den Bögen a-g dargestellte Auffassung kaum einordnen lässt. Nach dieser Auffassung ist das Herz des Menschen in sich selbst rein und braucht nur die Hilfe der Religion, um ein moralisches Verhalten in Gang zu setzen. Diese Hilfe soll aber nicht direkt auf das Herz, sondern auf die Sinnlichkeit wirken. Diese soll durch die Religion in einen zusätzlichen Beweggrund zum moralischen Handeln umgeändert bzw. verfeinert werden; das Herz bedarf der Veränderung aber nicht! Es ist in der Tat sehr schwer, sich vorzustellen, dass das Herz, das in der Auffassung dieser Bögen das Fundament der Religion sein soll, eine „völlige Umänderung und Besserung“ brauche.
Die Inkompatibilität zwischen dem Gedanken von der „Umänderung und Besserung des Herzens“ und der Auffassung der Religion als „Sache des Herzens“ wird an einer anderen Stelle dieser Predigt noch deutlicher, wo die Rede von einem „durch Liebe zu Gott gebesserten Herzen“ (63,16) ist. Hier ist also nicht das Herz das Fundament der Religion, sondern umgekehrt die Religion das Fundament eines reinen Herzens, wozu die Liebe zu Gott führt. Daraus kann man schließen, dass ohne Religion das Herz nicht „rein“ wäre, d.h. dass der Mensch, der Gott nicht liebt, sich nicht moralisch verhalten kann.
In dieser Predigt sind wir also zweifelsfrei vor eine ganz andere Auffassung als die der Religion als „Sache des Herzens“ gestellt. Man könnte einwenden, dass es sich um eine Predigt handelt und dass Hegel dabei gezwungen war, das zu sagen, was man von ihm im Stift hören wollte. Ein Vergleich mit den anderen Predigten zeigt aber, dass Hegel, wenngleich er in diesen Predigten sein echtes, sehr kritisches Urteil über die christliche Religion nicht äußern konnte, was er dagegen in den anderen, privaten Texten tat, aber auch nicht so feige war, dass er seine religionsphilosophische Grundauffassung, auf die er seine Überlegungen über den Begriff „Volksreligion“ zu dem Zeitpunkt gründete, vollständig verschwieg.
In der ersten Predigt spricht er z.B. einerseits sehr positiv über die „von Gott uns geoffenbarte Gesezgebung“ und ergänzt sogar, dass diese Offenbarung sowohl durch das Alte Testament als auch durch Jesus erfolgt ist.[32] Andererseits aber fügt er gleich hinzu:
„Diese Ordnung stimmt aufs genaueste mit dem überein, was unser Gewissen uns sagt“ (58,14-18).
Wenn man zwischen den Zeilen dieses hinzugefügten Satzes liest, kann man daraus entnehmen, dass, wenn unser Gewissen die gleiche moralische Gesetzgebung wie das Alte Testament und die Botschaft Jesu beinhaltet, wir im Prinzip keine Religion brauchen, die uns das moralische Verhalten beibringt!
Auch die Untersuchung der anderen überlieferten Predigten zeigt, dass Hegel dabei versuchte, einerseits nichts gegen die christliche Religion explizit zu sagen, andererseits aber auch nicht darauf zu verzichten, seine echten Gedanken implizit auszudrücken.
Es ist also zu schließen, dass sich in diesen Predigten zwei Ebenen unterscheiden lassen: eine oberflächliche Ebene, die aus Gedanken besteht, die Hegel als dogmengetreu denkenden christlichen Theologen erscheinen lassen, und eine versteckte Ebene, in der Hegel auf eine sehr geschickte Weise seine eigene religionsphilosophische Auffassung zum Ausdruck bringt, zu der er durch seine „geheimen“ Überlegungen bis zum Zeitpunkt der Abfassung der entsprechenden Predigt gekommen war.
In dieser Hinsicht ist also den Gedanken, die sich in den Predigten befinden, durchaus Wichtigkeit zuzuschreiben, und sie sind nicht als bloße „Gelegenheitsschriften“, sondern als echte Spuren von Hegels geistiger Entwicklung anzusehen.
In Bezug auf die zweite Predigt und auf den Gedanken von der „Umänderung und Besserung des Herzens“ soll also die Frage gestellt werden, wie es zu erklären ist, dass der Apologet einer als „Sache des Herzens“ definierten Volksreligion plötzlich und ohne äußeren Zwang die Meinung von der Umänderung bzw. Besserung des Herzens als Voraussetzung für ein echtes moralisches Verhalten vertritt.
Um eine Antwort auf diese Frage geben zu können, ist es notwendig, zuerst eine Untersuchung der religionsphilosophischen Auffassung zu führen, die dieser Predigt zugrunde liegt.
Eine vertiefte Lektüre der Predigt führt zum Schluss, dass hier eine insgesamt negative Auffassung des menschlichen Herzens vertreten wird, die nicht nur in jenen Ausdrücken zutage tritt, sondern der ganzen Predigt zugrunde liegt.
Als Beispiele seien einige darin vorkommende Ausdrücke Hegels angeführt: Zu den Quellen, „aus welchen Unversönlichkeit entspringt“ (60,25), zählt er: Eigenliebe, Rachbegierde, Haß und Groll (60-61); er spricht von „Menschen die Bitterkeit und Haß im Herzen haben“ (61,7-8), von „Härte des Herzens“ (61,16) usw. und schließt die Predigt mit einem Gedanken, der in der Gedankenkonstellation von der Auffassung der Religion als „Sache des Herzens“ unvorstellbar ist: „der wahre Christ soll streng gegen sich selber aber geduldig gegen andere seyn“ (64,21-22). Von diesem Satz ist nicht der zweite Teil Anlass zur Verwunderung, sondern der erste. In Bezug auf diesen Satz und den darin ausgedrückten Gedanken stellt sich spontan die Frage: wo ist der junge Stiftler geblieben, der an die Unschuld des einfachen, spontanen, natürlichen und nur aus der Quelle seines reinen Herzens handelnden Menschen glaubte? In der Tat zeigt es sich, dass nach der Auffassung dieser Predigt der Mensch viel mehr braucht, um sich moralisch zu verhalten, als nur die Hilfe der Religion, wie es nach der Auffassung der Bögen a-g des Textes 16 der Fall ist.
Die Untersuchung dieser Predigt ist also mit der Behauptung abzuschließen, dass wir es hier nicht mit einem gelegentlichen, von äußeren Umständen verursachten Verstecken von Hegels wirklicher Meinung, sondern mit einer tiefgreifenden Änderung in den religionsphilosophischen Grundlagen seines Nachdenkens zu tun haben.
Aus diesem Grund lohnt es sich, dieser Spur zu folgen und auch die dritte und die vierte Predigt unter die Lupe zu nehmen, bevor dann auf Grund der bisher erreichten Ergebnisse versucht werden soll, eine Antwort auf die Frage der Lücke zwischen den Bögen g und h von Text 16 zu geben.
Die dritte Predigt[33] handelt von dem „wahren Glauben“ und ist also über den Begriff des wahren Christen mit der zweiten Predigt verbunden. Der durch die Untersuchung der zweiten Predigt gewonnene Schluss, dass Hegels religionsphilosophische Auffassung in ihren Grundlagen hier anders ist als in den Bögen a-g des Textes 16, wird durch die Lektüre dieser dritten Predigt bestätigt. Gleich am Anfang befindet sich der Ausdruck „das verdorbene Herz des Menschen“ (68,4) und gegen Ende der Predigt der Ausdruck „verdorbene Natur“ in bezug auf die Natur des Menschen (69,28-29). Schon diese Äußerungen bestätigen die bisherige Hypothese von einer tiefgreifenden Änderung in Hegels damaliger Religionsphilosophie endgültig.
Zwar befinden sich in dieser Predigt auch Gedanken und Ausdrücke, die sehr an die Auffassung der Religion als „Sache des Herzens“ erinnern, wie z.B. in dem an Gott gerichteten Satz:
„Gib dass dise Wissenschaft zum lebendigen Glauben in uns werde, dass er reich werde an guten Früchten [...]“ (68,26-27).
Hier kommt sehr deutlich der versteckte Gedanke der subjektiven Religion, die nicht tote Wissenschaft, sondern lebendiges, moralisches Handeln sein soll, ans Licht. Auch der Ausdruck „Diser Glaube ist nicht blos Sache des Verstandes“ (69,13) versetzt uns in eine schon gut bekannte Gedankenwelt. Die Ausdrücke, die auf das „verdorbene Herz des Menschen“ hinweisen, machen aber klar, dass Hegel sich hier in einer neuen Gedankenwelt bewegt und eine neue Stufe in seiner Denkentwicklung erreicht hat.[34]
Die vierte Predigt,[35] die von dem „Reich Gottes“ handelt, zeigt auf eine noch deutlichere Weise, dass sich eine Wandlung in Hegels religionsphilosophischer Auffassung ereignet hat: dieser Predigt liegt Kants religionsphilosophische Auffassung zugrunde, wie diese in der Religionsschrift dargestellt ist.[36] Da diese Predigt zu einer noch späteren Stufe gehört, wird deren Inhalt an entsprechender Stelle in dieser Studie dargestellt und kommentiert. Hier ist nur auf das Wiederauftreten der Gedanken von der Besserung des Herzens als Voraussetzung zum moralischen Verhalten sowie von der Verdorbenheit des menschlichen Herzens, die hier sogar als „angeboren“ bezeichnet wird, hinzuweisen (vgl. GW 1, S. 71,13 bzw. 71,22-23).
Aus den Ergebnissen der Untersuchung der 2., 3. und 4. Predigt kann also geschlossen werden, dass sich zum Zeitpunkt der Entstehung der Texte ein Wandel sowohl in der religionsphilosophischen Grundlage von Hegels damaligem Denken als auch demzufolge in seiner Auffassung der Volksreligion vollzogen hat. Diesen Predigten liegt nicht mehr die Religionsphilosophie der Offenbarungsschrift zugrunde, und in ihnen wird keine Volksreligion als „Sache des Herzens“ vertreten. In der vierten Predigt lässt sich deutlich der Einfluß der Religionsphilosophie Kants beweisen; indirekt kann auch geschlossen werden, dass sie die Auffassung der Volksreligion als „Vernunftreligion“ implizit vertritt, da die Gedanken, die deren „versteckte Ebene“ bilden und von Kant stammen (Reich Gottes als etwas Innerliches, also die unsichtbare Kirche usw.), unter diesem Begriff zusammenzufassen sind.
Es bleibt also noch offen, welche Religionsphilosophie der 2. und der 3. Predigt zugrunde liegt und welche Auffassung der Volksreligion diese Texte vertreten.
Um diese Frage zu beantworten, ist eine weitere Untersuchung von den Gedanken und Ausdrücken durchzuführen, die zu dem Schluss geführt haben, dass es sich bei diesen Predigten um eine andere religionsphilosophische Einstellung handelt als in den Bögen a-g von Text 16. Es sind die Gedanken, die in den folgenden Ausdrücken zusammengefasst sind: „Umänderung und Besserung des Herzens“ (2. Predigt) und „das verdorbene Herz des Menschen“ (3. Predigt).
Der Einfluss des ersten Teils von Kants Religionsschrift auf die 2. und 3. Predigt
Diese Gedanken finden sich in der Religionsschrift Kants, und zwar in deren erstem Stück "Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten; d.i. vom radikalen Bösen in der menschlichen Natur".
Dieses erste Stück behandelt das Thema der Beschaffenheit der Natur des Menschen, beschäftigt sich also mit der Frage, ob der Mensch von Natur aus gut oder böse sei. Kant stellt auf den ersten, einführenden Seiten das Problem sowie die beiden extremen Lösungen dar. In dem ersten und zweiten Kapitel Von der ursprünglichen Anlagen zum Guten in der menschlichen Natur bzw. Von dem Hange zum Bösen in der menschlichen Natur untersucht er dann diese zwei Lösungen einzeln. In dem dritten und vierten Kapitel Der Mensch ist von Natur böse bzw. Vom Ursprunge des Bösen in der menschlichen Natur stellt er seine Position dar. Diese besteht hauptsächlich in der Grundidee, dass es im Menschen einen natürlichen Hang zum Bösen gibt. In der allgemeinen Anmerkung Von der Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten in ihrer Kraft, die dieses erste Stück abschließt, gibt Kant Hinweise darauf, wie die Menschen ihre von Natur aus vorhandene, aber von dem gegenteiligen Hang zum Bösen vertriebene Anlage zum guten Handeln wiederherstellen können.
Bevor es gezeigt wird, welche Begriffe Hegel aus diesem ersten Teil von Kants Schrift unmittelbar übernommen hat, ist es sinnvoll, einen Vergleich zwischen den Hauptthemen und den damit verbundenen Hauptansichten, die sich sowohl in Kants Schrift als auch in Hegels 2. und 3. Predigt feststellen lassen, zu führen.
Diesbezüglich lässt es sich zuerst bemerken, dass es nicht mehr um Religionsphilosophie im engeren Sinne, sondern um Anthropologie geht. Sicher ist es schwer, eine klare Grenze zwischen diesen beiden Wissens- bzw. Erfahrungsgebieten zu ziehen; es ist aber möglich, sie zu unterscheiden und die Wechselbeziehung zu erkennen, die zwischen ihnen besteht.
Die Anthropologie, als Erkenntnis der Beschaffenheit der menschlichen Natur, scheint die Voraussetzung für die Herausbildung einer religiösen Theorie zu sein. Abhängig davon, ob eine „optimistische“ oder „pessimistische“ Anthropologie als Grundlage angenommen wird,[37] wird es ein entsprechendes Bedürfnis nach Religion geben. Liegt eine optimistische Anthropologie zugrunde, nach der also der Mensch von Natur aus gut ist, wird es kein Bedürfnis nach einer Religion geben, die das moralische Verhalten des Menschen begründet, und zwar deshalb, weil der Mensch keine Begründung durch die Religion braucht, um sich moralisch zu verhalten. In Rousseaus Philosophie lässt sich ein ähnliches Verhältnis zwischen Moral und Religion bzw. Anthropologie und Ontologie feststellen.
Allein Zweifel an der guten Natur des Menschen, also eine mehr oder weniger pessimistische Anthropologie, verursachen ein Bedürfnis nach einer religiösen Begründung des moralischen Verhaltens. Die Philosophie Kants ist ein gutes Beispiel dafür.
Daraus erklärt sich, wieso auch Hegels Texten aus diesen Jahren immer eine Anthropologie zugrunde liegt. Die Auffassung der Religion als „Sache des Herzen“ beruht auf einer Anthropologie, die in ihrem Kern optimistisch ist. Sie gründet sich auf das Herz als Fundament sowohl der Moral als auch der Religion, und somit wird von Hegel angenommen, dass das menschliche Herz unverdorben ist.[38] Andererseits ist diese Auffassung nicht völlig optimistisch, da Hegel nicht ignoriert, dass der Mensch auch aus einer sinnlichen Natur besteht, und diese braucht die „Hilfe“ der Religion, um Ausdruck in einem moralischen Verhalten zu finden.
Was die 2. und 3. Predigt betrifft, liegt ihnen eine eindeutig pessimistische Anthropologie zugrunde, wie die oben zitierten Stellen deutlich zeigen.
In diesen zwei Predigten fällt besonders auf, dass Hegel sich hier in erster Linie mit der Anthropologie und nicht mit der Religion beschäftigt. In der Tat macht er sich sowohl in der 2. als auch in der 3. Predigt vor allem Gedanken darüber, was es bedeutet, ein „wahrer Christ“ zu sein. Dabei stellt er sich z.B. die Frage, wie man „durch anhaltende Wachsamkeit auf die Regungen der bösen Neigungen unsers Herzens“ (65,18-19) zu einem wahren Christen werden kann. Dadurch zeigt er sich bewusst, dass eine bloß negative Wirkung der Religion, die innerhalb der Auffassung von der Religion als „Sache des Herzens“ für ihn noch denkbar war, jetzt nicht mehr ausreicht, um das „Bestreben, immer vollkommener zu werden“ (64,19), zu unterstützen.
Hier zeigt sich eine erste, thematische Ähnlichkeit zwischen dem ersten Teil von Kants Schrift und den Predigten Hegels, die unser Forschungsgebiet betrifft: beide beschäftigen sich mit dem Verständnis der menschlichen Natur, also mit einer anthropologischen Frage.
Aber auch aus der Perspektive der Ergebnisse lässt sich eine starke Ähnlichkeit zwischen diesen Schriften feststellen. Sowohl Kants als auch Hegels Anthropologie lassen sich durch das Wort „Selbstbesserung“ zusammenfassen. Dieser Ausdruck befindet sich wörtlich bei Kant (S. 51), und der Gedanke, der dahinter steht, zieht sich sowohl durch Hegels Predigten als auch durch den ersten Teil von Kants Schrift, vor allem in dessen letztem Abschnitt (Allgemeine Anmerkung).
Was Kant betrifft, fasst der Begriff „Selbstbesserung“ die Ergebnisse dieses ersten Teils zusammen: der Mensch soll sich selber moralisch bessern, um seine ursprüngliche Anlage zum Guten wiederherzustellen.[39] Diese Selbstbesserung besteht nach Kant in einer „Herzensänderung“, auf deren Grundlage der Mensch die Pflicht als das oberste moralische Gesetz erkennt und sich nach diesem verhält. Bei dieser Herzensänderung kann es sich um keine „Reform“, sondern nur um eine „Revolution“ handeln, wodurch ein „neuer Mensch“, wie „durch eine Art von Wiedergeburt“, entstehen soll (S. 46-47). Nur auf diesen sich selbst gegenüber harten Weg kann der Mensch sich bessern. Dabei handelt es sich um einen fortschreitenden Prozess, der kontinuierlich verläuft (S. 47-48). Er soll zwar mit einer persönlichen, inneren Revolution beginnen, damit hat sich der Mensch aber nur auf den richtigen Weg begeben. Das Ziel ist noch sehr weit entfernt. Um sich diesem anzunähern, bedarf es einer ausdauernden, kontinuierlichen Selbstbesserung.
Diese Gedankenkonstellation, die sich in der Allgemeinen Anmerkung befindet und die Schlüsse aus dem ersten, einführenden Teil von Kants Schrift enthält, schlägt sich in der 2. und 3. Predigt deutlich nieder. Der Begriff von der Besserung des Herzens des Menschen bildet den Hauptgedanken der 2. Predigt, wie oben gezeigt worden ist. Auch der hergeleitete Schluss, dass der Mensch zu sich selbst streng sein soll, befindet sich bei Hegel, ebenso wie der Gedanke, dass diese Strenge zu dem Ziel einer kontinuierlichen Besserung des Menschen führen soll (64,18-20: „eine solche Trägheit würde dem Bestreben, immer vollkommener zu werden [...] gerade entgegen seyn“). Diesbezüglich ist von Hegel auch der Gedanke von einem „Vertrag von gegenseitiger Nachsicht mit Gott“ (60,21) aus Kants Allgemeiner Anmerkung, wenngleich nicht wörtlich, übernommen worden.[40] Die Liebe für die anderen Menschen wird von Hegel als „Gebot“ bezeichnet, das den Menschen von Jesus gegeben ist (65,30-31), und das entspricht Kants Auffassung des Pflichtbewusstseins als der einzig wahren moralischen Einstellung.[41]
Hiermit dürfte erwiesen sein, dass sich an der Gedankenstruktur der 2. Predigt ein tief prägender Einfluss durch die Religionsphilosophie und insbesondere die Anthropologie Kants ablesen lässt, wie diese vor allem in der Allgemeinen Anmerkung zum Ausdruck kommt.
Zu gleichen Ergebnissen führt eine vergleichende Untersuchung der dritten Predigt. Auch hier befindet sich eine gedankliche Struktur, die auf Kant zurückzuführen ist. Vor allem der Gedanke von der verdorbenen Natur des Menschen ist das Bindeglied zwischen beiden Schriften. Diese Auffassung befindet sich nicht in der Allgemeinen Anmerkung, wo er vorausgesetzt wird, sondern in dem dritten und vierten Kapitel des ersten Stückes von Kants Religionsschrift. Die Auffassung von der „Selbstbesserung“, die den Kern der Allgemeinen Anmerkung bildet, findet sich dagegen in dieser dritten Predigt nicht wörtlich. Nur am Schluss wird sie angedeutet.[42] An gleicher Stelle ist auch die Rede von dem „vollkommen werden“ des Menschen (69,33), was auch auf Kant zurückweist.
Außer der gedanklichen Konstellation, die im Vergleich zwischen dem ersten Teil von Kants Schrift und Hegels 2. und 3. Predigt zweifellos gleich ist, gibt es mehrere einzelne Ausdrücke und entsprechende Begriffe, die sich sowohl bei Kant als auch bei Hegel befinden. Eine Aufstellung der Begriffe ist geeignet, diese vergleichende Untersuchung abzurunden.[43]
Früchte:
Kant vergleicht den Menschen mit einem „Baum“ und fragt sich, wie es möglich ist, dass „ein böser Baum gute Früchte bringen“ kann, und stellt umgekehrt fest, dass „ein ursprünglich (der Anlage nach) guter Baum arge Früchte hervorgebracht hat“ (S. 44-45).
Bei Hegel befindet sich dieser Begriff in der 2. Predigt an folgenden Stellen:
- 61,27-28: „Aber er genoß der Früchte seiner Härte [...]“
- 64,26: „so fruchtlos seine Bemühungen bei dem grösten Haufen sind [...]“
- 66,4-5: „[...] die wahren Früchte des Glaubens [...]“.
In der 3. Predigt befindet sich dieser Gedanke an den Stellen:
- 68,17: „[...] die ächten Früchten des Glaubens wahrnehmen“
- 68,27: „Gib dass dise Wissenschaft zum lebendigen Glauben in uns werde, dass er reich werde an guten Früchten [...]“ - 69,22: „was sind die wahre Früchte des Glaubens?“
Quelle:
Kant: S. 45, wo die Rede von der Selbstliebe als der „Quelle alles Bösen“ ist - s. unten unter „Selbstliebe/Eigenliebe“. Hegel:
- 60,6: „Alle die geräuschvollen Tugenden [...] verlieren ihren Glanz, sobald sie nicht aus der rechten Quelle fliessen.“
- 60,25-26: s. unten unter „Selbstliebe/Eigenliebe“.
Selbstliebe/Eigenliebe:
Kant: - 45: „[...] die Selbstliebe [...]; die, als Prinzip aller unserer Maximen angenommen, gerade die Quelle alles Bösen ist.“
Hegel:
- 60,25-26: „[...] lasset uns vorher die Quellen aufsuchen, aus welchen Unversönlichkeit entspringt, a) Eigenliebe“.
Dieser Gedanke von der Selbstliebe bzw. Eigenliebe als „Quelle alles Bösen“ in dem Menschen scheint von Hegel direkt von Kant zusammen mit den Begriffen von „Quelle“ und „Früchte“ übernommen zu sein. Die drei Begriffe bilden in der Tat eine Einheit zusammen: Die Selbstliebe ist die Quelle der bösen, schlechten Früchte.
Schadenfreude:
Bei Kant: 27 (wo diese als „teufliche Last“ bezeichnet wird).
Bei Hegel: 63,15-16; 65,1; 65,11; 66,12.
Gebot/Gesetz:
Kant: - 47: „[...] das Gebot: wir sollen bessere Menschen werden [...]“ - 50: „Denn, wenn das moralische Gesetz gebietet, wir sollen jetzt bessere Menschen sein.“
Hegel: 2.Predigt:
- 60,21: „[...] dein Gebot zu erfüllen [...]“
- 62,14: „[...] dass wir also durch Unversöhnlichkeit sowohl seinem Gesez [...] zuwider handeln.“
- 65,27 ff.: „Jesus gab uns ein höheres Gebot [...], er gab uns ein neues Gebot, das Gebot der Liebe [...]“
3. Predigt:
- 69,29-30: „[...] das Gebot der Liebe“.
Diese sind nur einige Beispiele, die sicher vervollständigt werden können, was allerdings eine besondere, spezielle Forschung erfordern würde. Auch in dem hier dargebotenen Umfang können diese aber verdeutlichen, dass das erste Stück von Kants Religionsschrift und vor allem dessen Allgemeine Anmerkung nicht nur der Gedankenkonstellation, sondern auch der sprachlichen Form der 2. und 3. Predigt zugrunde liegt.
Damit ist der Vergleich zwischen Kant und Hegel in Bezug auf die Gedanken, die der junge Stiftler von dem Meister aus Königsberg in dieser Stufe rezipiert hat, abgeschlossen.
Exkurs: Gesamtrekonstruktion der bisherigen Entwicklung und Vorschläge zur Chronologie
Auf Grund der erzielten Ergebnisse kann jetzt versucht werden, eine Erklärung zu finden für den am Anfang dieser Stufe festgestellten gedanklichen Bruch zwischen den Bögen g und h von Text 16. Dieser Bruch lässt sich auf folgende Weise erklären: der Bogen h sowie die folgenden Bögen i, k und l beinhalten eine Auffassung der Volksreligion als „Vernunftreligion“, die eine spätere Stufe darstellt als die der Religion als „Sache des Herzens“; chronologisch betrachtet, sind sie also mit Sicherheit nach den Bögen a-g und höchstwahrscheinlich im Sommer 1793 entstanden. Die vierte Predigt (16. Juni 1793) gehört zweifellos zur gleichen Gedankenkonstellation; die zweite und dritte Predigt enthalten daraus nur die Gedanken von der „verdorbenen Natur des menschlichen Herzens“ und von dem Bedarf nach einer „Umänderung“ bzw. „Besserung“ desselben, was aus dem ersten Gedanken folgt. Von der gesamten Gedankenfolge der Religionsschrift schlägt sich also nur ein Teil, und zwar der grundlegende, anthropologische, erste Teil, in der zweiten und dritten Predigt nieder. Wie bekannt, erschien dieser Teil als Aufsatz ein Jahr vor der Veröffentlichung der vollständigen Schrift im April 1792.
Mit der Kenntnis dieser Voraussetzungen lässt sich weiter schließen, dass Hegel zuerst mit dem ersten Teil bekannt wurde und infolgedessen die anthropologischen Grundlagen seiner Auffassung der Religion als „Sache des Herzens“ in Frage gestellt hat. Dieser Zusammenbruch der Grundlagen seiner damaligen Religionsphilosophie wird in der 2. und 3. Predigt sichtbar. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Predigten (bis 1. Mai 1793) hat er aber noch keine neue Auffassung der Volksreligion erarbeitet. Das wird erst ab Mitte Juni unter dem Einfluss der ganzen Religionsschrift Kants geschehen und lässt sich durch die 4. Predigt und dann vor allem durch die Bögen h-l reichlich belegen. Die zweite und dritte Predigt bilden deshalb das inhaltliche Bindeglied zwischen der Auffassung von der Religion als „Sache des Herzens“ und der von der Religion als „Vernunftreligion“. Durch sie lässt sich nachvollziehen, dass Hegel spätestens im Frühling 1793 die alte Auffassung in Frage gestellt hat, sie aber durch eine neue noch nicht ersetzen konnte. Die Zeit der Abfassung der 2. und 3. Predigt ist deshalb als die zweite Stufe dieses Stadiums zu betrachten. Dabei handelt es sich mehr um eine „Zwischenstufe“, die eher einen Übergang, eine Überbrückung zwischen den Religionsauffassungen der ersten und der dritten Stufe darstellt als eine richtige Stufe in sich selbst. In dieser zweiten Stufe besitzt Hegel zwar eine neue Anthropologie, aber noch keine neue Religionsauffassung.
Die eben durchgeführte Gesamtrekonstruktion dieser Zeit ermöglicht auch den Versuch, eine entsprechende Chronologie festzulegen. Es ist diesbezüglich allerdings zu sagen, dass sich dieses Ziel sehr schwer verwirklichen lässt. Grund dafür ist vor allem, dass es heute noch unmöglich ist, eine sichere Datierung für die 2. Predigt vorzunehmen.[44]
Ein Versuch könnte so aussehen: Als sichere Anhaltspunkte gelten die erste Predigt (10. Januar 1792) sowie die dritte und vierte (1. Mai bzw. 16. Juni 1793). Was die zweite Predigt betrifft, wird von den Herausgebern von GW 1 in dem editorischen Bericht als Datum der 4. November 1792 vermutet.[45] Der Text 12, der aus inhaltlichen Gründen vor dem Text 16 geschrieben sein muss, stammt frühestens von Ende August 1792. Im Anschluss an die Abfassung von Text 12 muss die Abfassung von den Bögen a-g von Text 16 erfolgt sein, die an den Text 12 direkt anknüpfen, wie der Bezug auf Fichte beweist. Die Bögen h-l von Text 16 müssen nach der vierten Predigt bzw. in enger zeitlicher Nachbarschaft zu ihr niedergeschrieben worden sein, da sich beide auf Kants ganze Religionsschrift gründen.
Als nächstes ist zu bestimmen, wann Hegels Lektüre und Rezeption von dem ersten Teil der Religionsschrift und der von ihr verursachte Zusammenbruch seiner bisherigen Anthropologie erfolgt sind. Da die neue Anthropologie erst mit der zweiten Predigt erscheint, ist die Festsetzung dieses Zeitpunktes von der Datierung der zweiten Predigt abhängig. Wir wissen leider nicht, und es lässt sich auch nicht von den erhaltenen Schriften und Dokumenten herleiten, ob Hegel den Inhalt des ersten Teils durch dessen Veröffentlichung als Aufsatz (April 1792) oder als ersten Teil des Buches (April 1793) rezipiert hat. Auf jeden Fall ist es unmöglich, dass er Kants Gedanken schon vor Ende August/Anfang September 1792 rezipiert hat,[46] da er in dieser Zeit unter dem Einfluss von Fichte stand, wie der Text 12 belegt. Wenn Hegel Kants Anthropologie als Aufsatz in Kenntnis nahm, dann ist das frühestens gegen September/Oktober 1792, also nicht sofort nach dessen Veröffentlichung geschehen.
Eine erste Möglichkeit ist deshalb, dass Hegel diese Anthropologie im Herbst 1792 rezipiert hat, und auf Grund dieser Datierung wäre dann die von den Herausgebern von GW 1 vorgeschlagene Datierung der zweiten Predigt auf den 4. November 1792 annehmbar. In diesem Fall wäre die Datierung der Bögen a-g von Text 16 vor diesem Datum anzusetzen, da der Inhalt dieser Bögen einer früheren Stufe in Hegels Entwicklung entspricht und deshalb auch vor der zweiten Predigt abgefasst worden sein muss. Die Datierung dieser Bögen fiele in diesem Fall auf den Zeitraum September/Oktober, also zwischen den Text 12 (ab 22.8.92), der vor ihnen kommt, und die zweite Predigt (4.11.92), die nach ihnen kommt.
Nach dieser Gesamtchronologie, die von der Datierung der zweiten Predigt auf den 4. November abhängig ist, würden die Auffassung der Religion als „Sache des Herzens“ und die Rezeption von Kants Anthropologie in der Zeit September/Oktober zusammenfallen. Das scheint sehr unwahrscheinlich, da anzunehmen ist, dass Hegel Zeit gebraucht hat, um:
- Fichte zu lesen und zu verstehen;
- dessen Religionsphilosophie auf die eigene Problematik der Volksreligion anzuwenden und auf der Grundlage dieser Religionsphilosophie die eigene Auffassung der Volksreligion als „Sache des Herzens“ auszuarbeiten.
Der Nachteil von dieser Chronologie, die sich auf die Hinweise der Herausgeber von GW 1 stützt, ist also, dass die Zeitspanne zwischen der Rezeption von Fichte bzw. der Ausarbeitung der Auffassung von der Religion als „Sache des Herzens“ und dem Zusammenbruch derselben durch die Rezeption von Kants Anthropologie viel zu kurz ist. Nach dieser Datierung ist außerdem die Zeitspanne, in der Hegel nur den ersten Teil von Kants Religionsschrift, aber noch nicht die ganze Schrift rezipiert hat, viel zu lang (etwas mehr als 7 Monate vom 4. November 1792 bis 16. Juni 1793). Aus den angeführten Gründen erscheint diese erste Möglichkeit also eher unwahrscheinlich.
Ich schlage deshalb eine zweite Möglichkeit vor, wobei ich nochmals erklären möchte, dass es nach dem heutigen Stand der Forschung, vor allem auf Grund der unsicheren Datierung der zweiten Predigt, nicht möglich ist, zu einer endgültigen, gesicherten Chronologie zu kommen. Durchaus legitim ist aber, sich darüber Gedanken zu machen, wie die Reihenfolge der Schriften anzusetzen ist und, anhand der schon bekannten Datierungen, wenigstens die Jahreszeit festzulegen zu versuchen, in der die Schriften abgefasst sein könnten, deren Datierung unbekannt ist. Dieser Versuch erhebt natürlich keinen Anspruch auf endgültige Genauigkeit und Wahrheit. Nach dieser zweiten Möglichkeit wird der Ausarbeitung von der Auffassung der Religion als „Sache des Herzens“ mehr Zeit zugeschrieben: sie könnte in dem Zeitraum Spätherbst/Winter 1792/93 erfolgt sein. Die Rezeption von Kants Anthropologie ist dann entweder auf die Lektüre von dem Aufsatz zurückzuführen und in diesem Fall frühestens gegen Ende Winter 1792/93 anzusetzen; oder, was am wahrscheinlichsten ist, sie ist mit der Veröffentlichung von der ganzen Schrift in Verbindung zu bringen und deshalb im April 1793 anzusetzen. Diesem Vorschlag zufolge hätte Hegel die Schrift Kants unmittelbar nach deren Veröffentlichung gelesen, was im Übrigen mit Hegels Gewohnheiten übereinstimmt und auch von den Herausgebern von GW 1 unterstützt wird.[47] Als Folge dieser Rezeption hat sich dann der Zusammenbruch von Hegels früherer Anthropologie ereignet, wie dieser in der Predigt vom 1. Mai seinen Ausdruck findet. Die weitere Lektüre dieser Schrift hat ihn dann zu seiner neuen199 Auffassung der Religion als „Vernunftreligion“ geführt, die sich in der Predigt vom 16. Juni zum ersten Mal feststellen lässt.
Der Vorteil dieser Chronologie ist, dass der Erarbeitung der Auffassung von der Religion als „Sache des Herzens“ genug Zeit zugeschrieben wird, und zwar der Zeitraum Spätherbst/Winter 1792/93. Außerdem gestattet sie auch, Hegels Rezeption von Kants Schrift stufenweise zu rekonstruieren: zuerst die Rezeption des ersten Teils, die sich wie ein Erdbeben in der zweiten und dritten Predigt niederschlägt, und dann die Rezeption der anderen Teile, die zuerst in der 4. Predigt und dann in den im Sommer verfassten Bögen h-l ihren Ausdruck findet.
Nachteil dieses Chronologievorschlags ist, dass es damit nicht möglich ist, die von den Herausgebern von GW 1 vorgeschlagene Datierung der zweiten Predigt auf den 4. November 1792 beizubehalten. Andererseits ist diese Datierung auch nicht sicher.[48] Es wird von den Herausgebern von GW 1 nicht ausgeschlossen, dass dieser Text im Jahr 1793 abgefasst worden ist,[49] und außerdem wird von ihnen auch bewiesen, dass die Predigt unmöglich in den Monaten Juli/August 1793[50] und sehr wahrscheinlich nicht in der Zeit zwischen der dritten (1.Mai) und der vierten (16. Juni) Predigt niedergeschrieben wurde.[51] Was von ihnen mit Sicherheit festgesetzt wird, ist also allein, dass diese Predigt auf jeden Fall zwischen der ersten und der dritten ihren Platz findet.[52] Dieser Schluss stimmt ohne weiteres mit der von mir vorgeschlagenen zweiten Möglichkeit überein, nach der diese Predigt in dem Zeitraum zwischen Winter 1792/93 und Frühjahr 1793 (allerdings bis zum 1. Mai) anzusetzen ist.
Neben diesen beiden Möglichkeiten kann man sich selbstverständlich auch andere vorstellen, immer aber in Abhängigkeit davon, wann die Niederschrift der zweiten Predigt angesetzt wird. Sollte es einmal möglich sein, für diese Predigt eine sichere Datierung festzulegen, wäre dann auch die Voraussetzung für eine genauere chronologische Rekonstruktion von Hegels geistiger Entwicklung in diesen, für die Geschichte der Religionsphilosophie goldenen Monaten zwischen April 1792 und Sommer 1793 geschaffen.
Am Schluss dieses Kapitels sei darauf hingewiesen, dass sich die Entwicklung von Hegels Denken innerhalb dieser Stufe auch ohne eine monatgenaue Chronologie derselben deutlich erkennen und schildern lässt. Die Reihenfolge der Texte dürfte stimmen, auch wenn es bei einigen von ihnen nicht möglich ist, die genaue Datierung zu erkennen. Auf Grund der Reihenfolge ist es möglich, die Brücke zwischen dem Bogen g und dem Bogen h von Text 16 zu erkennen: die Krisis in Hegels Auffassung der Religion als „Sache des Herzens“, verursacht durch die Rezeption von Kants Anthropologie des „radikalen Bösen“ in der menschlichen Natur. Hegel überwand die Krisis und konnte durch die Übernahme von Kants Auffassung der Religion als „Vernunftreligion“ seine Auffassung der Volksreligion durch zusätzliche Hauptmerkmale weiter ausbauen. Damit trat er in eine neue Stufe seiner geistigen Entwicklung ein.
*
3.2.3
DRITTE STUFE
Die Volksreligion als „Vernunftreligion“
Zeitlicher Rahmen: 1. Mai - Sommer 1793;
Hauptquellen: 4. Predigt; Text 16, Bögen h bis l
Wie in dem vorigen Paragraphen angedeutet wurde, wird durch die vierte Predigt eine neue Stufe in Hegels Entwicklung eröffnet. Diese Stufe, die dritte und letzte dieses zweiten Stadiums, besteht hauptsächlich darin, dass Hegel seine Auffassung von der Religion als „Sache des Herzens“ durch die der Religion als „Vernunftreligion“ ersetzt. Damit kann er die Krisis überwinden, die die Lektüre des ersten Teils von Kants Religionsschrift verursacht hat, indem diese sein ursprüngliches Vertrauen in die gute Natur des menschlichen Herzens und in dessen Fähigkeit, Fundament der Religion und der Moral zu sein, in Frage stellte.
Der Eintritt in die neue Stufe seiner Entwicklung wird Hegel ermöglicht durch die Lektüre und die Rezeption der anderen Teile von Kants Religionsschrift. Zweck dieses Kapitels ist, die neue Stufe darzustellen. Dabei wird zuerst der Inhalt von den für diese Untersuchung relevanten Teilen der Schrift Kants geschildert und darunter insbesondere von denen, die auf Hegel den größten, entscheidenden Einfluss geübt haben; danach werden auf der Grundlage von der vierten Predigt und von dem Bogen h von Text 16 die Begriffe einzeln aufgestellt und kommentiert, die Hegel aus diesen Teilen der Religionsschrift nachweislich übernommen hat; zum Schluß wird dann Hegels neue Auffassung der Volksreligion als „Vernunftreligion“ nachgezeichnet, wie diese in den Bögen i-l von Text 16 von Hegel selbst auf eine sehr systematische Weise zusammengefasst wurde.
Exkurs: Kants Religionsschrift und die Begründung der Vernunftreligion als der einzig wahren Religion
In seinem Aufsatz „Verschlüsselte Losung. Hegels letzte Tübinger Predigt“ hat F. Nicolin durch eine Untersuchung der vierten Predigt ausführlich bewiesen, dass Hegels Auffassung der Religion zur damaligen Zeit die Religionsphilosophie Kants zugrunde lag. Darin konnte der Interpret außerdem nachweisen, dass die Auseinandersetzung Hegels und seiner Stiftskameraden mit der Schrift Kants gleich nach deren Veröffentlichung im Frühling 1793 stattfand. Außerdem haben die Herausgeber von GW 1 in mehreren Anmerkungen belegt, dass zahlreiche Stellen von Hegels Fragmenten aus dieser Zeit und vor allem vom Text 16 unmittelbar an Kants Schriften und hauptsächlich an die Religionsschrift anknüpfen.[53] In der Anmerkung 99,29 zu Text 16[54] ist zu lesen: „Hegels Gedanken und Begriffe sind hier so deutlich durch diese Schrift Kants bestimmt, dass sich damit ein Hinweis auf die Datierung von Stück 16 ergibt“.[55] Die Wichtigkeit dieser Schrift Kants für die Niederschrift dieser Texte und darunter vor allem von Text 16 ist also so eindeutig und die expliziten bzw. impliziten Bezüge auf Kant sind darin so zahlreich, dass man dadurch sogar zur Datierung dieses Textes kommen kann, wie wenn es sich dabei um einen „Kommentar“ der Schrift Kants durch Hegel handelte. Eine Darstellung von Kants Schrift kann deswegen für das nachfolgende Verständnis des Textes Hegels sehr aufschlussreich sein.
Das dritte Stück Vom Sieg des guten Prinzips über das böse und der Stiftung eines Reichs Gottes auf Erden von Kants Werk ist der zentrale Teil, da der Philosoph hier die wichtigsten Ergebnisse darstellt, zu denen er gekommen ist. In Bezug auf dieses Stück sind die ersten beiden Stücke und vor allem das schon dargestellte erste Stück eine Einführung mit Problemstellung, während das vierte und letzte Stück eine Anwendung von den Ergebnissen auf die gesellschaftliche, geschichtliche Wirklichkeit ist.
Gleich am Anfang des dritten Stückes stellt Kant die Frage, die zu lösen ist und die die Verbindung zu den anderen Teilen und vor allem zum ersten Teil bildet: wenn der Mensch sich selber bessern soll, wie es am Ende des ersten Teils gefordert wird, aber seine ursprüngliche Anlage zum Guten aber dem Prinzip des Bösen zeitweise unterlegen ist, stellt sich die Frage, wie er das machen kann.[56]
Die Antwort auf diese Frage bildet das Thema des dritten Stücks. Zu dieser Antwort kommt Kant schrittweise. Im Folgenden werden die Schritte rekonstruiert.
- Die Ursache, weshalb sich der Mensch böse verhält, liegt nach Kant in dem Verkehr mit den anderen Menschen.[57] Die Lösung dieses Problems, die mit der Sprache Kants als „Der Sieg des guten Prinzips über das böse“ zu bezeichnen ist,[58] ist deshalb nur „durch Errichtung und Ausbreitung einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen und zum Behuf derselben“ (S. 94) zu erreichen.
- Die „Tugendgesetze“, die die Grundlage einer solchen Gesellschaft bilden sollen, können sich aber die Menschen wegen der „unzulänglichen Kräfte der Einzelnen“ selber nicht geben; deshalb müssen die Einzelkräfte „zu einer gemeinsamen Wirkung vereinigt werden“, und das kann nur durch die Idee „eines höhern moralischen Wesens“ erfolgen.[59]
- Eine solche Gesellschaft bekommt durch ihre moralische Grundlage die Geltung von „Volk Gottes“. In diesem Volk wird nicht nach bloßer „Legalität“, sondern nach wirklicher „Moralität“ gelebt().
- Als Volks Gottes ist eine solche ethische Gesellschaft oder, in Kants Sprache, ein solches „ethisches gemeines Wesen“, das „unter der göttlichen moralischen Gesetzgebung“ lebt und handelt, „eine Kirche, welche, so fern sie kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist, die unsichtbare Kirche heißt“ (S. 101).[60]
- Wenn es den Menschen gelingt, eine Gemeinde zu errichten, die diesem Ideal entspricht(), kommt die „wahre (sichtbare) Kirche“ zustande, die diejenige ist, „welche das (moralische) Reich Gottes auf Erden, soviel es durch Menschen geschehen kann, darstellt“ (S. 101).
- Dieser einzig wahren, allgemeinen, auf den wahren Glauben gegründeten Kirche stehen die einzelnen, historischen Glaubensformen gegenüber:[61] die eine ist für den Menschen „bloß als Mensch betrachtet“, die anderen sind für den Menschen „als Bürger“ (S. 105; auch in diesem Fall ist der Einfluss von Rousseau auf Kant eindeutig). Wegen der Schwäche der menschlichen Natur ist es nach Kant nicht möglich, eine allgemeine Kirche auf den reinen Religionsglauben zu gründen, wenngleich allein dieser eine „allgemeine Kirche“ begründen könnte, „weil er ein bloßer Vernunftglaube ist, der sich jedermann zur Überzeugung mitteilen läßt“ (S. 102-103). Es muss also eine historisch bedingte Glaubensform dazu benutzt werden.[62]
- Weil dabei aber die Gefahr besteht, dass dieser historische Glaube zu bloßer Legalität und nicht zu echter Moralität bei den Menschen führen könnte, wird dazu „eine Auslegung der uns zu Händen gekommenen Offenbarung erfordert, d.i. durchgängige Deutung derselben zu einem Sinn, der mit den allgemeinen praktischen Regeln einer reinen Vernunftreligion zusammenstimmt“ (S. 110). Die Vernunftreligion als „der Geist Gottes, der uns in alle Wahrheit leitet“, enthält in der Tat „das oberste Prinzip aller Schriftauslegung“ (S. 112). Dies soll sicherstellen, dass auch der historische Glaube reine Moralität und nicht bloße Legalität befördert.
- Das Zusammenfallen von reiner Vernunftreligion, die einzig und allgemein ist, und historischem Glauben, der zeitlich und räumlich begrenzt ist, muss nicht auf ewig notwendig sein: „Es ist also eine notwendige Folge der physischen und zugleich der moralischen Anlage in uns, welche letztere die Grundlage und zugleich Auslegerin aller Religion ist, dass diese endlich von allen empirischen Bestimmungsgründen, von allen Statuten, welche auf Geschichte beruhen, und die vermittelst eines Kirchenglaubens provisorisch die Menschen zur Beförderung des Guten vereinigen, allmählich losgemacht werde, und so reine Vernunftreligion zuletzt über alle herrsche, „damit Gott sei alles in allem“ (S. 121).
- Hierin gipfelt die Religionsgeschichte der Menschheit, endet das „Jünglingsalter“, die erwachsen gewordenen Menschen legen ab „was kindisch ist“ (S. 121-122) und „der erniedrigende Unterschied zwischen Laien und Klerikern hört auf“. Dadurch bildet sich der Übergang zu einer „neuen Ordnung der Dinge“ und man kann nun endlich zu Recht sagen, „dass das Reich Gottes zu uns gekommen sei“ (S. 122).
- Somit ist schließlich die Grundlage für den Sieg von dem Prinzip des Guten üüber das Prinzip des Bösen in der menschlichen Natur geschaffen worden und die Frage gelöst, von der Kants Überlegungen ihren Ausgang nehmen. Die ethische Gesellschaftsform, die entstehen soll und die Kant als „unsichtbare Kirche“ bezeichnet und als Verwirklichung des „Reichs Gottes“ auf Erden versteht, ist also die Lösung jener Frage.
Mit diesem Schluss ist die Thematik der Religionsschrift im Prinzip abgeschlossen. Was Kant in dem vierten und letzten Stück[63] noch behandelt, sind einige Themen, die nicht mehr die theoretische Frage der Möglichkeit einer reinen Religion, sondern praktische Fragen hinsichtlich der äußeren Organisation dieser Kirche und vor allem des Unterschieds zwischen der richtigen und der falschen Form des Dienstes betreffen. Dabei beschäftigt er sich auch mit der christlichen Religion als natürlicher sowie als gelehrter Religion. In Bezug auf Hegel ist der zweite Teil dieses letzten Stücks besonders wichtig.[64] Hier kommen die Gefahren zur Sprache, die mit den historischen Glaubensarten verbunden sind, wie z.B. Anthropomorphismus, Aberglaube, Fetischismus usw. Kant wendet sich sehr scharf gegen diese falschen Formen von Dienst, die er als „Afterdienst“ bzw. „Religionswahn“ bezeichnet.[65] Darin sieht er die Gefahr, dass das Volk noch weiter von der reinen Vernunftreligion entfernt wird, da es seiner „moralischen Freiheit beraubt wird“. Auf diese Weise wird aber der historische Glaube, anstatt als Zwischenstation auf dem Wege zur Vernunftreligion und als ein Mittel zu dienen, zu einem Hindernis bei ihrer Verwirklichung.
Hegels Rezeption von Kants religionsphilosophischer Auffassung
Bogen ’h’
(GW 1: 99,29 bis 103,2)[66]
An das vierte und letzte Stück von Kants Schrift knüpft der Anfang von Bogen h unmittelbar an. Darin stellt Hegel, mit den Worten und Begriffen Kants, die Vernunftreligion dem Fetischglauben gegenüber und schließt, dass es
"[...] so wichtig für die Menschheit ist, diese immer mehr zur Vernunft Religion hinzuführen, und den FetischGlauben zu verdrängen" (GW 1, 100,4-5).
Dieses Ziel setzt sich Hegel ausdrücklich. Seine Überzeugung formuliert er in den folgenden Sentenzen:
- erstens, dass „[..] eine allgemeine geistige Kirche nur ein Ideal der Vernunft bleibt“ (GW 1, 100, 6);
- zweitens, dass es "[...] nicht wohl möglich ist, daß eine öffentliche Religion gegründet werden könnte, die alle Möglichkeit, FetischGlauben daraus ziehen benähme" (GW 1, 100, 6-8)]
Diese beiden Abgrenzungen stammen deutlich von Kant, in dessen Werk z.B. zu lesen ist:
“Die erhabene nie völlig erreichbare Idee eines ethischen gemeinen Wesens [...]”
(S. 129).
Nachdem Hegel diese beiden Grenzen klar gesetzt hat, wirft er die Frage auf
„[...] wie eine Volksreligion im allgemeinen eingerichtet werden müssen“ (GW 1, 100, 8-9),
um die folgenden zwei Ziele zu erreichen:
- erstens, zu vermeiden, dass sich unter dem Volk „FetischGlauben“ verbreitet (negatives Ziel) (100,9-10);
- zweitens, das Volk zur Vernunftreligion zu führen (positives Ziel) (100,11-12).
Diese Stellungnahme Kant gegenüber zeigt, dass Hegel nicht nur dessen Schrift gelesen, verstanden und aufgenommen hat, sondern dass er sich die religiöse Auffassung von Kant angeeignet hat und diese von dem Punkt aus fortsetzt, wo der Philosoph aus Königsberg aufgehört hatte. Dadurch wird klar, was Hegel meint, als er in den etwas späteren Briefen an Schelling vom Ende Januar bzw. 16. April 1795 schreibt, dass er an eine „Anwendung“ von Kants Philosophie arbeite bzw. deren „Vollendung“ erwarte.[67] Genau das ist es, was er seit der Zeit der Fassung dieses Bogens macht: er wendet die Resultate, zu denen Kant gekommen ist, auf seine Auffassung der Volksreligion an.[68] Diese Anwendung ist gleichzeitig eine Vervollständigung, da er dabei versucht, das auszuführen, wovon Kant in dem Kapitel V des dritten Stückes zurückgewichen hatte: den Schritt zu vollziehen von dem theoretischen Verständnis der Richtigkeit der Vernunftreligion als der einzig wahren und absoluten Religion zu der praktischen Entscheidung der Stiftung einer solchen Religion. Durch die Auffassung der möglichen Vereinbarung von historischem Glauben und Vernunftreligion hat Kant einen Ausweg aus dieser notwendigen Folge seiner Theorie gesucht, da es ihm unmöglich schien, eine solche Religion wirklich stiften zu können. Deswegen hat er sich auf den Weg des „Kompromisses“ zwischen Vernunftreligion und historischem Glauben begeben. Dieser Weg hat aber seiner Theorie nur Probleme und Hindernisse bereitet, wie z.B. die Probleme, die er im vierten Stück bespricht. Wenn er konsequent in seinen Gedanken gewesen wäre, hätte er den Schluss gezogen, dass Aufgabe der Zeit sei, das Volk zu erziehen und dadurch zu den reinen moralischen Wahrheiten der Vernunftreligion zu führen. Dadurch hätte er der Stifter der wahren Religion und der Gründer der „unsichtbaren Kirche“ sowie des Reichs Gottes als der ethischen Gesellschaft unter den Menschen werden können. Dieses Anliegen hatte Kant aber nicht: er war ein großer Theoretiker, aber kein Volkserzieher! Diese Anlage besaß dagegen Hegel, der schon seit der Stuttgarter Zeit von der Frage bewegt war, wie der „gemeine Mann“ am erfolgreichsten aufzuklären sei. Er macht sich gar keine Gedanken über die Möglichkeit der Vereinbarung von historischem Glauben und Vernunftreligion: er weiß, dass dies nicht möglich ist. Er setzt das Programm von Kant fort, indem er sich selber zum Träger der Aufgabe macht, das Volk zur Vernunftreligion zu führen. Die oben zitierten Zeilen von Bogen h und insbesondere ihre praxisbezogene Stimmung[69] bezeugen es unbezweifelbar.
Auf den folgenden Seiten von diesem Bogen stellt Hegel weitere Überlegungen über den Begriff „Volksreligion“ an, die eigentlich nichts Neues dazu sagen. Diese Überlegungen sind aber in Bezug auf das Verhältnis zu Kant wichtig, da sie einige Begriffe und entsprechende Ausdrücke enthalten, die Hegel von Kant inhaltlich und oft auch wörtlich übernommen hat. Hier folgt eine Auflistung von diesen Begriffen.
- „Idee der Heiligkeit als die letzte Höhe der Sittlichkeit“ (100,13) (bei Kant: S. 47 und 159)().
- „Hang zur Sinnlichkeit“ (100,20) (bei Kant: S. 28: „Unter einem Hange (propensio) verstehe ich [...]“; s. auch das ganze, zweite Kapitel des ersten Teils Von dem Hange zum Bösen in der menschlichen Natur;[70]
- Die Ausdrücke „Legalität“ (100,21), „Triebfedern“ (100,22), und „empirischer Charakter“ (101,6; 100,9 und 101,14) befinden sich bei Kant unter anderem in der „Allgemeinen Anmerkung“ zum ersten Teil (s. vor allem S. 46-47). Diese Ausdrücke befinden sich aber auch bei Fichte, der sie seinerseits durch die „Critik der praktischen Vernunft“ rezipiert hat (bei Fichte s. für den Ausdruck „Legalität“ S. 30; für „Triebfeder“ S. 34; für „empirischer Character“ S. 67).
Ab der Textstelle 101,21 schließt Hegel weitere Überlegungen üüber den Begriff „Volksreligion“ an. Er nimmt einige frühere Gedanken wieder auf, wie z.B den Gedanken von der Wichtigkeit des Herzens und der Phantasie in dem Leben des Menschen(). Diese Überlegungen sind besonders interessant, da er hier versucht, in die neue, entstehende Auffassung der Volksreligion als Vernunftreligion die Hauptmerkmale zu übernehmen, die den Inhalt seiner vorigen Auffassung der Religion als „Sache des Herzens“ bildeten.
Diesbezüglich erklärt er, dass der Mensch „ein so vielseitiges Ding“ ist, „dass sich alles aus ihm machen läßt“ (102,3-4), und, nachdem er vorausgeschickt hat, wie mannigfaltig das Gewebe der Empfindungen der Menschen ist,[71] gibt er eine sehr schöne Definition von dem „Geschäft der Volksreligion“, das darin bestehen soll, „dise schöne Fäden der Natur dieser gemäs in ein edles Band zu flechten“ (102,7-8).
Hier zeigt sich, dass die Sprache und die Begriffe, mit denen Hegel jetzt arbeitet, nicht mehr so ausschließlich und direkt aus der Religionsschrift Kants stammen, wie es für den Bogen h bis zu dieser Textstelle der Fall ist, sondern eher an die Terminologie der Bögen a-g erinnern. Das bedeutet, dass Hegel die unmittelbare, intensive Beschäftigung mit der Religionsschrift Kants ab dieser Textstelle schon hinter sich hat, und nachdem er den Hauptinhalt dieses Werkes auf seine Problematik angewendet hat, kehrt er zu seinen, vorübergehend zur Seite gelegten, alten Gedanken zurück und ist im Begriff, diese in seine neue Auffassung der Volksreligion zu übernehmen. Dies wird dadurch bestätigt, dass er in den folgenden Zeilen auch den Unterschied zwischen Volksreligion und Privatreligion wieder aufnimmt, wobei aber jetzt die Religion eine viel größere Rolle bei der Beförderung der Moralität spielt, als es innerhalb der Auffassung der Religion als „Sache des Herzens“ der Fall war. In der ersten Stufe dieses Stadiums war Hegel in der Tat der Meinung, dass die Wirkung der Religion auf die Moralität „mittelbar“[72] bzw. „negativ“ erfolgen solle, wie es in dem schon zitierten Absatz „Meine Absicht ist...“ vom Bogen c zur Sprache kommt, der eine Definition seiner ersten Auffassung der Volksreligion enthält. Innerhalb der neuen Auffassung der Volksreligion als „Vernunftreligion“ ist die Funktion der Religion in der Beförderung der Moralität unentbehrlich geworden. Ihre Aufgabe wird von Hegel jetzt nicht mehr als bloße Hilfe zur Beförderung von dem reinen Gewissen (90,19-25) verstanden, und die Wirkung, die die Religion auf den Menschen üben soll, wird von ihm als „mächtig“ und „unentbehrlich“ bezeichnet:
„VolksReligion unterscheidet sich von privatReligion vornehmlich dadurch, dass der Zwek jener ist, indem sie mächtig auf Einbildungskraft und Herz wirkt, der Seele überhaupt die Kraft und den Enthusiasmus – den Geist einzuhauchen ist gross 1, 102, 10-13).
Ein Vergleich zwischen dieser Stelle, in der Hegel seine neue Auffassung der Volksreligion definiert, mit der Stelle „Meine Absicht ist...“, die die Definition seiner ersten Auffassung derselben enthält, zeigt also, dass sich inzwischen eine große Veränderung in der Entfaltung von Hegels religiöser Problematik ereignet hat. Ursache dafür ist zweifellos die Rezeption von Kants Religionsschrift gewesen. Durch diese Schrift hat Hegel das Ideal der Vernunftreligion als der wahren Religion sowie der Gründung einer allgemeinen ethischen Gesellschaft als einer „unsichtbaren Kirche“ bzw. als „Reich Gottes“ unter den Menschen rezipiert. In diesem Ideal gipfelt die Entwicklung seiner Überlegungen, deren Ausgang im Text 12 zu suchen ist, und für die darin enthaltene Frage der „Rettung“ der Religion in einer aufgeklärten Nation wird eine erste, vollständige Lösung gefunden. Es ist zweifelfrei dieses Ideal, das ab diesem Zeitpunkt „die gute Sache“ bildet, wofür sich die drei Stiftskameraden engagieren wollten.[73]
Diese Lösung ist aus folgenden Gründen als „erste“ und „vollständige“ zu bezeichnen: sie ist nicht endgültig, da Hegel in der Jenaer Zeit, und zwar mindestens ab dem Zeitpunkt der Abfassung des Fragments Fortsetzung des Systems der Sittlichkeit (1802/1805),[74] der Meinung sein wird, dass nur die Philosophie die Aufgabe der Beförderung der Moralität bei einem aufgeklärten Volk übernehmen kann. Diese wird seine endgültige Lösung der Frage nach der Rettung der Religion sein. Die Religion wird als Philosophie in einer aufgeklärten Nation gerettet und „aufgehoben“. Dabei handelt es sich um eine Philosophie, die auch Religion ist, da sie, wie die Religion, in einem absoluten System besteht, von dem die Menschen eindeutige Richtlinien für ihr moralisches Handeln bekommen können. Gegenüber der Philosophie als „endgültiger“ Lösung ist also die Auffassung der Religion als Vernunftreligion die „erste“ Lösung.[75] Sie ist andererseits als die „erste, vollständige“ Lösung zu bezeichnen, da die erste Lösung im engeren Sinne die Auffassung der Religion als „Sache des Herzens“ ist. Diese Auffassung wird von Hegel aber in ihren Grundgedanken in die Auffassung der Vernunftreligion übernommen und kann deshalb eher als eine „Vorbereitung“, ein „erster Versuch“ als eine vollständige, durchdachte Lösung jener ursprünglichen Frage betrachtet werden. Im Grunde genommen können nur zwei echte Lösungen von Hegels Hauptproblematik der Rettung der Religion bei einer aufgeklärten Nation festgestellt werden: die Rettung durch die Vernunftreligion, als Ideal der Jugendzeit, und die Rettung durch die Philosophie, als Verwirklichung dieses Ideals im reifen Alter. Sowohl die erste als auch die zweite Lösung werden von mehreren Stadien und Stufen vorbereitet, und die Auffassung der Rettung der Religion als „Sache des Herzens“ ist eine dieser Stufen.
*
[1] GW 1, S. 473-475
[2] Vgl. GW 1, S. 473-475.
[3] Siehe darüber Henrich, 1971, S. 58-59.
[4] Vgl. Fichte, Off., S. 24,1-5.
[5] Ebd., S. 20,6 ff.
[6] Die ganze Masse von ReligionsGrundsäzen - und von den daraus fliessenden Empfindungen; und besonders der Grad von Stärke, womit sie auf HandlungsArt einflüssen können, ist der Hauptpunkt einer Volksreligion" (GW 1, S.86,26 - 87,1).
[7] Wenn ich von ’vorigen’ bzw. ’folgenden’ Bögen spreche, meine ich das nicht im chronologischen Sinn, weil es auf Grund von unserem heutigen Wissen nicht möglich ist, innerhalb der Bögen a-g von Text 16 eine chronologische Reihenfolge zu bestimmen. Dass es aber eine logische Reihenfolge gibt, wird unter anderem dadurch belegt, dass Hegel selbst diese Bögen in einer bestimmten Reihenfolge geordnet hat, die er mit lateinischen Buchstaben gekennzeichnet hat (vgl. GW 1, S. 473-475). Wenn er einen Text vor einen anderen gesetzt hat, muss es wohl deswegen gewesen sein, weil er diesen Text als Voraussetzung für den anderen innerhalb des Ganzen angesehen hat. Vielleicht hat er den Text, der als vor dem anderen stehend überliefert ist, nach diesem geschrieben; die Gedanken aber, die hier enthalten sind, sind eine Voraussetzung für die Gedanken des folgenden Textes. In diesem inhaltlichen Sinn werden von mir die Ausdrucke ’voriger’ bzw. ’folgender’ Bogen in Bezug auf die Bögen von Text 16 benutzt.
[8] Vgl. GW 1, S. 99,29 sowie die dritte Stufe dieses Stadiums.
[9] Der Bogen ‚e‘ ist nicht überliefert worden (vgl. GW 1, S. 473).
[10] Vgl. GW 1, S. 94,28; 97,30 und 98,1-2.
[11] An dieser wichtigen Stelle, wo Hegel seine subjektive, auch leidenschaftliche Teilnahme an der von ihm behandelten religiösen Problematik offen zum Ausdruck bringt, konnte nicht der Bezug auf Lessings Nathan fehlen und insbesondere auf die Stelle, mit der Hegel schon in der Stuttgarter Zeit seine Erkenntnis der Natürlichkeit der Griechen belegt hatte (GW 1, S. 99,25-26).
(Die Endnoten 12 und 13 fehlen aufgrund eines Fehlers bei der automatischen Berechnung der Anmerkungsnummerierung. Das hat aber keinen Einfluss auf die Richtigkeiit des Textes.)
[14] Vgl.Off.,S..41,22-23
[15]) Vgl. GW1, Editorischer Bericht, S.557, Anm. zu 75,4.
[16]) Vgl. GW1, Editorischer Bericht, S.470.
[17]) Vgl. GW1, S.470.
[18]) Vgl.GW1, S.488.
[19]) Vgl.GW1, S.470.
[20]) Vgl. auch die Textstelle 19,21:"Die höchste Sittlichkeit, vereint mit der höchsten Glückseligkeit [...]". In den folgenden Seiten benutzt Fichte auch andere Ausdrücke, wie z.B "Congruenz der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit" (21,16-17) bzw. "Gleichgewicht zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit" (21,23-24), die die gleiche Bedeutung haben.
[21]) Vgl. darüber auch die Anm. zu 91,23 in GW1, S.563, in der auf die entsprechendeStelle sowohl in Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ als auch in Fichtes Offenbarungsschrift verwiesen wird. Drei Zeilen unter dieser Textstelle befindet sich außerdem der Ausdruck "Deduktion der Religion", der auf Fichte deutlich verweist (vgl. darüber Anm. zu 91,7,in GW1,S.563).
[22]) Hier wird von Fichte die „unmoralische Natur“ des Menschen, also dessen Sinnlichkeit, worüber in den Zeilen unmittelbar vor dem Zitat die Rede ist (Off., S.29,6 ff.), berührt.
[23]) Auch mit dieser treffenden Deutung der Religion als Mittel zum Zusammenhalten der Gesellschaft befand sich Hegel unmittelbar im Einklang: „[...]-was ist christliche Kirche- eine Menge einzelner Menschen (nicht eine verbundene Menge von Menschen) die eine gewisse Vollkommenheit der Moralität erreicht haben“(GW1, S.77, 16-18).
[24]) Vgl. Furck, 1953, S. 9 ff. und Lacorte, 1959, S. 141 ff.
[25]) GW1, S. 557, Anm. zu 75,3
[26] Über Flügge siehe vgl. die Bibliographie hier: https://www.philosophyforfuture.org/de/news-644/bibliographie-_ber-hegels-denkentwicklung-von-1785-bis-1806.html
[27] GW1, S. 99,29
[28] GW 1, p. 78,3-7
[29] GW 1, p. 79,10
[30] GW 1, pp. 465-467.
[31] Die vollständige Textstelle lautet: “Es gibt manche Tugenden die leicht auszuüben sind, und die sehr in die Augen fallen, denen aber gerade das wesentliche, das was ihnen in den Augen Gottes einen Werth gibt, abgeht, und was eben oft am schwersten zu erkämpfen ist, nemlich eine völlige Umänderung und Besserung des Herzens” (GW 1, p. 60,9-12).
[32] Dass er daran wirklich geglaubt hat, ist anhand der anderen Texte privater Natur aus diesen Jahren, in denen sich der junge Stiftler offensichtlich nicht zu verstecken brauchte, völlig ausgeschlossen.
[33] GW 1, Text 10, S. 68-69; Datierung 1. Mai 1793, vgl. GW 1, Editorischer Bericht, S. 467-468.
[34] Das Überleben von Gedanken, die aus einer vorigen Stufe stammen, wie der von der subjektiven Religion, sind durch das Prinzip der ’Aufhebung’ zu erklären. Die wichtigsten Gedanken der alten Gesamtauffassung bleiben in der neuen erhalten, wenngleich sie in dieser einem anderen ’Herrn’ dienen.
[35] GW 1, Text 11, S. 70-72; Datierung: 16. Juni 1793 (vgl. GW 1, Editorischer Bericht, S. 468).
[36] Dies ist zuletzt von Nicolin, 1988, bewiesen worden. Die diesbezüglichen Anmerkungen in GW 1 geben für mehrere Textstellen der Predigt die entsprechenden Textstellen der Religionsschrift wieder, die ihnen zugrunde liegen.
[37] Über diese Bezeichnungen sowie über dieses Thema überhaupt vgl. Kondylis, 1977, S. 81 ff. Mit den Schlüssen, zu denen er kommt, und zwar oft auf eine sehr parteiische und unbegründete Weise, kann man nicht einverstanden sein. Ihm ist aber zweifellos das Verdienst zuzuschreiben, auf diese Problematik bei dem jungen Hegel sowie auch bei dessen Stiftskameraden Schelling und Hölderlin in aller Deutlichkeit aufmerksam gemacht zu haben.
[38] Vgl. z.B. vom Text 16 die Textstelle 84,1, wo die Rede von der "unverdorbenen MenschenSinne" ist sowie auch der ganze Bogen d, der, wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde, eine Apologie des Herzens ist.
[39] Die Selbstbesserung wird von Kant mit diesen schönen, treffenden Worten definiert: "Wiederherstellung durch eigene Kraftanwendung" (S. 50). Unter dem Begriff von ’Wiederherstellung’ ist natürlich die Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten gemeint, wie aus der Überschrift der Allgemeinen Anmerkung ersichtlich.
[40] Vgl.bei Kant S. 51 ff.
[41] Vgl. bei Kant S. 47.
[42] "[…] wenn wir uns Mühe geben, kommt Gott unsrer Schwachheit zu Hülfe, er unterstüzt uns mit seinem Geist [...]" (69, 31-32).
[43] Die meisten Ausdrücke sind bereits beim Vergleich zwischen den gedanklichen Strukturen angegeben worden. Im folgenden werden deshalb nur die Ausdrucke angegeben, die bisher noch nicht zur Sprache kamen.
[44] Zur diesbezüglichen Problematik vgl. GW 1, Editorischer Bericht, S.465-467.
[45] Vgl. GW 1, S. 466.
[46] Damit wird selbstverständlich nicht ausgeschlossen, dass er den Aufsatz von Kant schon kannte. Man hat zwischen der Lektüre und der Rezeption eines Textes streng zu unterscheiden. So kann man einen Text lesen, ohne ihn zu rezipieren, aber nicht rezipieren, ohne diesen Text gelesen zu haben (dabei wird selbstverständlich von der Möglichkeit der indirekten, z.B. mündlichen Rezeption abgesehen).
[47] Vgl. Editorischer Bericht, S. 474-475.
[48] Von den Herausgebern von GW 1 wird geschrieben, dass diese Predigt "mit einiger Wahrscheinlichkeit" (S. 467) am 4. November 1792 von Hegel niedergeschrieben ist.
[49] GW 1, Editorischer Bericht, S. 466: "Andere Folgerungen sind möglich, wenn wir annehmen, daá der erörterte Bibeltext unabhängig vom Predigttag als Vorlage gewählt wurde. Dann lässt sich die Predigt auch in das Jahr 1793 verweisen."
[50] "Angesichts dieser Dokumente scheint es ausgeschlossen, dass die fragliche Predigtniederschrift den Monaten Juli/August zugehört." (GW 1, Editorischer Bericht, S. 467)
[51] Vgl. GW1, S. 466.
[52] "Zusammenfassend ist zu sagen, dass [...] alle ermittelbaren Anhaltspunkte dafür sprechen, den Text an die zweite Stelle der vier erhaltenen Übungpredigten zu setzen." (vgl. GW 1, S. 467).
[53] Siehe darüber vor allem die Anmerkungen von 70,9 bis 159,6, die im Personenverzeichnis von GW 1 unter dem Stichwort ’Kant’ aufgelistet sind.
[54] GW 1, Editorischer Bericht, S. 566.
[55] Es ist diesbezüglich aber zu präzisieren, daá nur die Datierung der Bögen h-l dadurch festgesetzt werden kann, aber nicht die Datierung der Bögen a-g, die unter dem Einfluss von Fichte und nicht von Kant abgefasst wurden, wie sich in der Untersuchung der ersten Stufe dieses Stadiums erwiesen hat.
[56] "In diesem gefahrvollen Zustande ist der Mensch gleichwohl durch seine eigene Schuld; folglich ist er verbunden, soviel er vermag, wenigstens Kraft anzuwenden, um sich aus demselben herauszuarbeiten. Wie aber? das ist die Frage." (S.93)
[57] "Der Neid, die Herrschsucht, die Habsucht und die damit verbundenen feindseligen Neigungen bestürmen alsbald seine an sich genügsame Natur, wenn er unter Menschen ist [...]" (S. 93-94). Der Einfluss von Rousseau auf Kant kommt in diesem Satz deutlich ans Licht.
[58] Die vollständige Überschrift von diesem Stck ist: Der Sieg des guten Prinzips über das Böse, und die Gründung eines Reichs Gottes auf Erden.
[59] Alle Zitate befinden sich auf S. 98.
[60] „Also ist ein ethisches gemeines Wesen nur als ein Volk unter göttlichen Geboten d.i. als ein Volk Gottes, und zwar nach Tugendgesetzen, zu denken möglich.“ (S. 99)
[61] "Es ist nur eine (wahre) Religion; aber es kann vielerlei Arten des Glaubens geben." (S. 107)
[62] Die Fortsetzung des Zitats, die eine genauere Definition dieser Kirche enthält, ist auch sehr interessant und aufschlussreich: "[...] (eine blosse Idee von der Vereinigung aller Rechtschaffenen unter der göttlichen unmittelbaren aber moralischen Weltregierung, wie sie jeder von Menschen zustiftenden zum Urbilde dient)" (S. 101).
[63] "Die sichtbare ist die wirkliche Vereinigung der Menschen zu einem Ganzen, das mit jenem Ideal zusammenstimmt." (S. 101)
[64] Vom Afterdienst Gottes in einer statutarischen Religion.
[65] "[...] wegen des natürlichen Bedürfnisses aller Menschen, zu den höchsten Vernunftbegriffen und Gründen, immer etwas Sinnlichhaltbares, irgend eine Erfahrungsbestätigung u.d.g. zu verlangen, [...] irgend ein historischer Kirchenglaube, den man auch gemeiniglich schon vor sich findet, müsse benutzt werden." (S.109)
[66] Vom Dienst und Afterdienst unter der Herrschaft des guten Prinzips, oder von Religion und Pfaffentum.
[67] Vgl. Briefe, Bd. 1, S. 16 bzw. 23.
[68] Diesbezüglich spricht er von einer "großer Anwendbarkeit auf allgemeiner brauchbare Begriffe" als die Begriffe von der theoretischen Vernunft (vgl. Briefe, Bd. 1, S. 16).
[69] Dabei geht es Hegel nicht um die theoretische Frage, welche Art von Religion die wahre ist: dies hat er von Kant erfahren. Ihm geht es vielmehr um die praktische Frage der ’Errichtung’ der Vernunftreligion als der wahren Volksreligion (diesbezüglich sei bemerkt, daá auch das Wort ’Errichtung’ auf Kant zurückzuführen ist.)
[70] Vgl. S. 170-171.
[71] Über das Wiederkehren dieses Ausdrucks vgl. Text 16, S. 90,9: "[...] das Gewebe der menschlichen Empfindungen [...]"
[72] Dieser Satz befindet sich genau am Anfang des Kapitels über die "unsichtbare Kirche" (Kap. IV des dritten Stückes), das zweifelsohne eines der einflussreichsten für Hegel gewesen ist.
[73] Vgl. den Brief von Schelling an Hegel vom Januar 1796, in: Briefe, Bd.1, S. 35: "In der Tat, ich glaube von Dir fordern zu dürfern, daß Du Dich auch öffentlich an die gute Sache anschließt".
[74] Vgl. für dessen Datierung Kimmerle, Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften, S. 151-152.
[75] "Bei einer Volksreligion besonders ist von der grösten Wichtigkeit, dass Phantasie und Herz nicht unbefriedigt bleiben." (GW 1, S. 101,25-26)
*
This page has no comments yet
This blog encourages comments, and if you have thoughts or questions about any of the posts here, I hope you will add your comments.
In order to prevent spam and inappropriate content, all comments are moderated by the blog Administrator.
Did you forget your password? Ask for it! Click here
Not yet registered? Sign up now! Click here