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Marco de Angelis
(Autor des Textes dieser Seite)
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EINLEITUNG
Über die geeignete Methode zur Erforschung
eines philosophischen Systems der Vergangenheit,
mit besonderer Berücksichtigung des Hegelschen Systems
§1 Kontinuität in der Entwicklung von Hegels Denken
Bei der Interpretation der Hegelschen Philosophie stößt man, wie bei jedem anderen komplexen philosophischen System der Vergangenheit, leider auf Hindernisse. Da es sich hier um ein Thema handelt, das bereits ausführlich abgehandelt wurde, könnte man meinen, es gäbe bei seiner Interpretation nichts mehr, oder zumindest nichts Neues oder wirklich Entscheidendes, zu entdecken. Studiert man allerdings aufmerksam die kritische Literatur, so geht daraus hervor, dass der Quantität der Werke, die sich mit Hegel beschäftigen, keinesfalls auch die entsprechende Qualität der Resultate gegenübersteht.
Das liegt vor allem daran, dass die bisherigen Autoren die Analyse der Hegelschen Philosophie in verschiedene Bereiche einteilten, so z.B. der junge Hegel, Hegel in Jena, der reife Hegel und damit auch Hegel und die Logik, die Rechtsphilosophie, usw. Dadurch verloren sie sowohl die chronologische als auch die systematische Maßeinheit des ‚Phänomens Hegel‘ aus den Augen.
Als besonders negativ erweist sich die Trennung zwischen jungem und reifem Hegel. Das hat zur Folge, dass die Erforschung der Jugendjahre des Philosophen am Ende rein historischen Wert bekommt, da sie nicht zu einem besseren Verständnis seines späteren Systems führt. Auf der anderen Seite gelingt es den systematischen Interpretationen nicht, die authentische Bedeutung des Systems zu verstehen, weil sie nicht in der entwicklungsgeschichtlichen Rekonstruktion desselben wurzeln. Wie jedes philosophische System ist auch dieses nicht anderes als das Ergebnis eines langsamen Reifungsprozesses der intellektuellen Persönlichkeit des Autors.
Aufgrund dieser Zäsur, die jeder Autor, unabhängig davon ob er über den jungen oder reifen Hegel recherchiert, mehr oder weniger eindeutig an einer bestimmten Stelle in der Entwicklung des Hegelschen Denkens vornimmt und sich somit ausschließlich auf die Zeit davor (Jungendjahre) oder danach (gereiftes System) konzentriert, ist es den Interpreten bisher nicht gelungen, die objektive Bedeutung der Philosophie Hegels, also die Bedeutung die sie für ihn selbst hatte, d.h. ‚an-sich‘, zu erkennen. Sie erkannten nur die subjektive Bedeutung für den Interpreten selbst, also ‘für uns‘.
Gerade dieser Fehler in der Wahl der methodischen Grundlagen für eine Interpretation hat es mit sich gebracht, dass Hegel alles Mögliche in den Mund gelegt wurde und sein Denken von Progressiven und Konservativen, von Christen und Atheisten usw. verwendet wurde.
Der wahre Grund hierfür liegt aber weniger in der fehlenden Eindeutigkeit des Systems, auch wenn man natürlich zugeben muss, dass Hegel wegen der objektiv schwierigen Arbeitsbedingungen seiner Zeit seit seinem Aufenthalt im Tübinger Stift und noch mehr in Berlin dazu gezwungen wurde, seine Ideen in „getarnter“ Form(5) zum Ausdruck zu bringen. Vielmehr ist die Schuld beim unpassenden, hermeneutisch zweideutigen und subjektiven Prinzip zu suchen, das bis heute vom Großteil der Hegel-Interpreten angewandt wurde (abgesehen von einigen Ausnahmen wie z.B. Haering).
Die Frage, die es zu beantworten gilt, ist also zunächst hermeneutisch-methodischer Natur, oder anders gesagt: Wie interpretiert man die Hegelsche Philosophie oder generell gesprochen, ein philosophisches System der Vergangenheit, in angemessener Form, also objektiv und nicht subjektiv?
§2 Das geeignete methodische Prinzip für das objektive Verständnis einer Philosophie der Vergangenheit
Im Zusammenhang mit der Frage nach der Methode für die korrekte Interpretation der Hegelschen Philosophie muss zunächst einmal klargestellt werden, dass man hier nicht von einer spezifischen Fragestellung ausgehen sollte, die für die Interpretation des Hegelschen Systems gilt, sondern vielmehr für die generelle Interpretation einer Philosophie der Vergangenheit. Somit müssen zuerst einmal die allgemeinen Prinzipien für eine korrekte Interpretation einer Philosophie der Vergangenheit aufgestellt werden, die dann auf die Interpretation des Hegelschen Denkens angewandt werden.
Im Beitrag Nr. 10 von Weisheitslehre mit dem Titel "Zur Begründung einer Theorie der ‘Globalinterpretation’ als des einzig gültigen Weges zur Aktualisierung einer Philosophie der Vergangenheit" habe ich eine neue Theorie zur Interpretation eines philosophischen Systems der Vergangenheit ausgearbeitet. Im Einzelnen habe ich die Gründe für die Anwendung einer ‘Globalinterpretation’ erläutert, denn will man die jeweilige Philosophie der Vergangenheit nicht zweideutig und subjektiv, sondern treu und objektiv interpretieren, so ist diese Methode zu wählen. Eine solche Interpretationsmethode lässt sich in drei Hauptschritte unterteilen.
Im ersten Schritt muss man die ‘Entwicklung’ dieser Philosophie rekonstruieren, und zwar von der ersten Gedankenentfaltung im Autor bis hin zu dem Moment, in dem sie eindeutig geboren wurde und ihre definitive Form annahm. Durch diese Methode kann und muss man die allgemeine Bedeutung des jeweiligen philosophischen Systems verstehen, oder besser gesagt, den Grund, warum es der Philosoph schuf und schließlich den Zweck, den er damit verfolgen wollte.
Im zweiten Schritt ist es notwendig, das System selbst einer ‘immanenten Kritik’ zu unterziehen. Dadurch kann man verstehen, ob es dem Philosophen gelungen ist, diese Bedeutung in dem von ihm geschaffenen System zu realisieren. Es ist ohne weiteres vorstellbar, dass die allgemeine Bedeutung eines Systems der Vergangenheit akzeptabel ist, während jedoch dessen begriffliche Struktur völlig oder teilweise abzulehnen ist, entweder weil sie veraltet oder unglücklich ausgedrückt wird, oder zu viele Fehler im Wissen bzw. Widersprüche in der Logik aufweist. Die immanente Systemkritik stellt also einen Interpretationsansatz für ein philosophisches System dar, der ergänzend zur genetischen Analyse ist und diese auch voraussetzt.
Im dritten Schritt muss man auf der Grundlage der Ergebnisse aus der genetischen Analyse und der Systemkritik eine ‘Aktualisierung’ des philosophischen Systems der Vergangenheit durchführen. Wenn also die genetische Analyse gezeigt hat, dass die Bedeutung des Systems heute noch gültig ist, während die Systemkritik zu dem Ergebnis kommt, dass im ursprünglichen System Fehler vorhanden sind (oder dass die Struktur dieses Systems auf jeden Fall veraltet ist), so wäre es ohne weiteres zweckmäßig, das jeweilige System zu aktualisieren. Das bedeutet, dass die noch immer gültige Bedeutung der jeweiligen Philosophie in einer neuen Systemstruktur, frei von den Fehlern, Widersprüchen und veralteten Formen der ursprünglichen Systemstruktur, ausgedrückt wird.
Dieses triadische Vorgehen bildet die Grundlage für die Globalinterpretation einer Philosophie der Vergangenheit. Es ist nur mit Hilfe dieses langwierigen Prozesses möglich, ein philosophisches System wirklich in seinem ganzen Umfang zu verstehen.
Was jetzt spezifisch die Hegelsche Philosophie betrifft, so haben wir im Schlusskapitel von Weisheitslehre(6) die Grundlinien für ein Untersuchungskonzept ausgearbeitet, das dazu bestimmt ist, diese Philosophie nach den Prinzipien der Globalinterpretation zu aktualisieren.
Der erste Schritt in der Umsetzung eines solchen Programms ist natürlich die genetische Rekonstruktion der Entwicklung des Hegelschen Denkens und vor allem der Entstehung seines philosophischen Systems, um dadurch die authentische, ursprüngliche Bedeutung zu verstehen.
Die Tatsache, dass sich die Philosophie Hegels als ‘Weisheitslehre’ präsentiert, ist ein wichtiger Ausgangspunkt, der aber keinesfalls das genetische Verständnis seiner vollständigen Bedeutung liefert bzw. ersetzen kann. Deshalb muss man verstehen, woraus diese Weisheit besteht, wie sie in den Menschen gefördert werden kann, usw.
Genau damit beschäftigt sich vorliegende Studie, die darum als erster Teil des Programms zur Aktualisierung des Hegelschen Systems gesehen werden muss. Dies bringt auch die Überschrift zum Ausdruck: "Gesamtinterpretation der Philosophie Hegels: 1. Die Entwicklung und der Sinn des Systems". Der zweite und dritte Teil besteht aus der immanenten Systemkritik bzw. aus der Formulierung des neuen philosophischen Systems des absoluten Idealismus, das die allgemeine Bedeutung der Hegelschen Philosophie beibehält, diese aber durch Aktualisierung der Systemstruktur perfektioniert.
Gehen wir nun zu den einzelnen Hauptbegriffen über, die die Trägerstruktur für die gewählte Methode einer genetischen Analyse der Entwicklung der Hegelschen Philosophie darstellen.(7)
§3 Der Begriff ‚Methode’
Die Suche nach einer geeigneten Methode gehört sicherlich zu den Hauptproblemen jeder Wissenschaft, ganz besonders von Wissenschaften wie Philosophie, Geschichte usw., da sie aufgrund des nicht quantitativen Wesens ihrer jeweiligen Forschungsgegenstände nicht von einer mathematischen Methode Gebrauch machen können.
Wörtlich übersetzt bedeutet das Wort ‘Methode’ Straße, Weg.(8) Eine geeignete Methode für sein jeweiliges Forschungsgebiet auszuwählen bedeutet daher zu verstehen, welcher Weg zurückzulegen ist, um zur Wahrheit in dem spezifischen Wissensgebiet zu gelangen, in dem man tätig ist.
Dieser extrem vereinfachte Begriff von Methode, der dieses Problem unabhängig von jeglicher objektiven Beziehung zur Realität behandelt, erweist sich jedoch als naiv, wenn man etwas aufmerksamer und genauer darüber nachdenkt. Denn die Methode, die der Forscher als Weg wählt, der ihn zur Wahrheit führen soll, kann nicht irgendeine beliebige Methode sein, sondern es muss die Methode, der Weg sein, den auch die objektive Realität während ihres Werdegangs genommen hat.
So kann z.B. ein Biologe bei der Erforschung der Evolution von höheren Lebewesen nur jene Methode, jenen Weg wählen, der auch von eben diesen Lebewesen während ihrer Entwicklung, ihrer Evolution gegangen wurde. Wählt der Forscher jedoch eine andere Methode, geht er einen anderen Weg, so wird er sozusagen aus der Bahn geworfen. Denn er wird nicht denselben Weg einschlagen wie einst sein Forschungsobjekt, also nicht den Weg, den er eigentlich rekonstruieren will.
Egal ob man das als Einschränkung oder Vorteil sieht, es kann deswegen bei der Erkenntnis eines beliebigen Aspektes der Realität oder derselben Realität in ihrer Ganzheit, nur eine Methode, nur einen Weg für das Denken geben: Jene Methode und jenen Weg, die die Realität bereits einmal in ihrem Werdegang zurückgelegt hat. Entscheidet sich ein Forscher nicht für diese Methode, sondern wählt frei eine andere, so wird er damit ein Werk aus dem Reich der ‘Science-Fiction’ schaffen und keine Wissenschaft, ein Produkt der Phantasie und nicht der Vernunft. Dies könnte zwar sogar von großem literarischen oder künstlerischen, aber nicht von wissenschaftlichem Wert sein. Denn er wird durch seine Forschungsarbeit keine Übereinstimmung mit der objektiven Realität erreichen, sondern sein Denken wird die Realität frei erfinden und produzieren, jedoch nicht so, wie sie wirklich ist, sondern so, wie er sie sich wünscht.
Nachdem wir nun diese wichtige Bemerkung über die wissenschaftliche Voraussetzung vorweggenommen haben, und zwar dass eine Forschungsmethode nicht subjektiv sondern objektiv sein soll, versuchen wir nun das Prinzip der ‘Objektivität’ einer wissenschaftlichen Methode genauer zu erläutern.
§4 Der Begriff ‚Objektivität’
Unser heutiger Begriff von ‘Objektivität’ kann einfach nicht mehr dem für die vor-empiristische und vor-idealistische Philosophie typischen Objektivitätsbegriff entsprechen.
Die modernen Philosophen, darunter Anhänger des Rationalismus und vor allem Vertreter der zweiten Strömung, des Empirismus, erschütterten nämlich nach und nach das naive Vertrauen des Menschen der Antike und des Mittelalters in die Existenz einer objektiven Welt an und für sich, einer Welt, die unabhängig vom Subjekt, das sie ersinnt, besteht.
Die Philosophie des objektiven Idealismus (Schelling) und des absoluten Idealismus (Hegel) lieferte jedoch in weiterer Folge den Beweis für die Unteilbarkeit von objektiver Existenz und subjektivem Gedanken. Der subjektive, nahezu rein formaler Gedanke, sobald er aktiv ist, drückt gleichzeitig eine auf das Sein, die Realität und das Objekt bezogene Wahrheit aus.
Nach der Lektion der Philosophie des objektiven und absoluten Idealismus versteht man unter ‘Objektivität’ eine Realität, die nicht aufgrund ihrer Unabhängigkeit vom Denken objektiv ist, sondern weil sie von einem Denken begriffen wird, das sich an präzise Regeln der Logik hält. Somit phantasiert das Denken nicht von einer weitgehend subjektiven Welt, sondern drückt die objektive Wirklichkeit mit Hilfe von Begriffen aus. Dabei drückt das Denken natürlich nicht die materielle Struktur aus, die nur mit Hilfe der sinnlichen Wahrnehmung aufgenommen werden kann, sondern die rationale und begriffliche Struktur dieser objektiven Wirklichkeit.
Das Denken, das korrekt und logisch vorgeht, drückt also in diesem Sinne das objektive Wesen der Wirklichkeit, deren innewohnende Vernunft und daher ihre logische Struktur aus.
Nachdem wir nun erläutert haben, in welchem Zusammenhang der Begriff ‘Objektivität’ verwendet wird, der in sich unauflöslich auch die ihn ersinnende Subjektivität einschließt, ist es nun an der Zeit zu verstehen, wie es möglich ist, dass das subjektive Denken des Menschen das objektive Wesen der Wirklichkeit wahrnehmen kann, und zwar in dem Moment, in dem das Denken treu der Vernunft und der Logik folgend die Neigung zur Phantasie und Phantasterei ablegt. Im Sinne eines korrekten wissenschaftlichen Diskurses gilt es in diesem Zusammenhang die grundlegende Frage zu beantworten, was man unter ‘Vernunft’ und ‘Vernünftigkeit’ versteht.
§5 Der Begriff ‚Vernunft’
Der Begriff ‚Vernunft‘ gehört sicher zu den wichtigsten Begriffen der Philosophie. Die Besonderheit der Vernunft als Objekt der Philosophie besteht darin, dass sie gleichzeitig auch das Subjekt der Philosophie ist, nachdem man abgesehen von allen anderen, komplexeren Bedeutungen des Begriffs ‚Philosophie‘ zumindest eines sagen kann: Sie stellt die rationale Suche nach der Wahrheit dar. Deshalb stellt die Identität von Subjekt und Objekt, von erkennender Vernunft und zu erkennender Vernunft das essentielle Merkmal des philosophischen Diskurses dar.
Diese Identität von Subjekt und Objekt ist ein besonderes Merkmal der Logik, der philosophischen Wissenschaft zur Erforschung der Vernunft, denn in keiner anderen Wissenschaft stellt die Vernunft gleichzeitig den Forschungsgegenstand dar.
Werfen wir nun einen Blick auf die Konsequenzen, die sich aus dieser besonderen Situation in der Wissenschaft der Logik ergeben.
Da bei anderen Wissenschaften der Forschungsgegenstand unabhängig von der Vernunft ist (ein Objekt aus der Welt der Natur oder des Geistes)(9), können diese sich auf Daten und Fakten konzentrieren, die auf irgendeine Art und Weise interpretiert und rational verstanden werden müssen. Durch dieses Begreifen der Fakten kann eine allgemeine logische Ordnung aufgestellt werden, und zwar durch die Ausarbeitung von rationalen Gesetzen, die das Auftreten von bereits bekannten und analysierten Phänomenen erklären sowie künftige Phänomenen vorsehen können.
Die Logik hingegen verfügt nicht über externe Daten, die man nach rationalen Regeln interpretieren oder ordnen könnte. Oder genauer gesagt, gibt es in den Kategorien des Denkens auch Fakten und Daten, die man interpretieren oder ordnen könnte, aber es handelt sich hier um eine andere Art von Daten. Die Kategorien der Logik umfassen nämlich jene typischen Begriffe unseres Denkens, die nicht aus der äußerlichen Welt der Erfahrung stammen, sondern ein unerlässliches Instrument darstellen, durch das unser Denken lebt und denkt. Gerade weil eben diese Kategorien keine dem logischen Denken äußerlichen ‘Fakten’ sind, sondern vielmehr Strukturen desselben, können sie nicht beobachtet, registriert oder katalogisiert werden, so wie man es mit anderen Phänomenen aus der Welt der Natur oder des Geistes macht.
Eine solche Auflistung der Kategorien würde jedoch ihr inneres Leben, ihre wechselseitigen Beziehungen und daher die Eigendynamik der Vernunft nicht begreifen.(10) Um diese innere Eigendynamik zu verstehen, muss die Vernunft also eine geeignete Methode erfinden, die sich von jenen für andere Wissenschaften unterscheidet. Sie kann natürlich nicht darin bestehen, die Kategorien äußerlich miteinander zu verbinden, sondern muss auf der gegenseitigen ‘Ableitung’ der Kategorien beruhen. Die Methode muss also aus deren Darstellung und inneren Organisation bestehen, die sie sich spontan durch Selbsterkenntnis zuerkennen. Nur auf diesem Wege kann man die dynamische Funktion der Vernunft und ihre innewohnende Vitalität - die somit die Grundvitalität unseres Geistes in all seinen vielfältigen Funktionen darstellt - verstehen, genauso wie der Astronom die Vitalität des Universums und der Biologe die Vitalität des lebenden Körpers rekonstruiert.
Die für die Logik typische Identität von Subjekt und Objekt hat zur Folge, dass die einzige Methode, der einzige Weg für die Logik zur Erkenntnis der Vernunft - oder anders gesagt, über die die Vernunft verfügt, um sich selbst zu erkennen - in der Selbsterkenntnis, Selbstdarstellung und Selbstableitung besteht.
Hegel hat diese methodische Besonderheit der Logik sehr gut durch die Formulierung „ein auf sich selbst construirender Weg“ ausgedrückt:
„In diesem Wege hat sich das System der Begriffe überhaupt zu bilden, - und in unaufhaltsamem, reinem, von Aussen nichts hereinnehmendem Gange, sich zu vollenden.“ (GW 21, S. 38,14-16)
Deshalb wird der Forschungsgegenstand, dessen Phänomene die Logik interpretieren und ordnen muss, nicht bereits der Sensibilität aus der empirischen Beobachtung ausgesetzt, sondern muss sich selbst im gleichen Moment geben und präsentieren, in dem sich die Wissenschaft der Logik ausbildet.
Eigentlich braucht man keine völlig neue Logik, um eine derartige Logik zu konstruieren. Das wäre unnötig, da die philosophische Tradition schon eine nach dieser Methode konstruierte Logik bereit hält, und zwar handelt es sich um die Wissenschaft der Logik, aufgestellt von deutschen Denkern des späten 18. bzw. frühen 19. Jahrhunderts, insbesondere von Hegel. In seinem philosophischen System werden die Ergebnisse von Kant, Fichte und Schelling, um hier nur einige der wichtigsten Persönlichkeiten dieser großartigen Periode der Geschichte der Philosophie zu nennen, meisterhaft zusammengefasst und zu einem Abschluss gebracht.(11)
Natürlich kann man einige Teile der Hegelschen Logik noch verbessern(12), aber das Grundgerüst kann auch heute noch als gültig angesehen werden, vor allem was seine zentrale Idee der Selbstdarstellung des Denkens betrifft. Zumindest jedoch bleibt es bislang der einzige wirkliche Versuch, die Vernunft durch die Anerkennung der innewohnenden Vitalität zu begreifen.
Hegel hat einen großen Teil seines Lebens mit der Erstellung dieser neuen Logik, die auf der Identität von Subjekt und Objekt aufbaut, verbracht. Wir können heute dank seiner Arbeit, die sich natürlich wiederum auf die Resultate der damaligen Tradition der Logik - hier vor allem auf Kant - stützt, dort fortfahren, wo er wegen offensichtlicher zeitlicher Grenzen des menschlichen Lebens seine Arbeit unterbrechen musste. Die Geschichte der Philosophie ist so wie jede andere historisch dokumentierte Tätigkeit der Menschen ein gemeinsames, von Generationen geschaffenes Werk. Es dient dem - ebenfalls gemeinsamen - Wohl der Menschheit und jeder, der dieses gemeinsame Werk, und damit die Geschichte der Menschheit, verlassen will, ist ein Narr, ein Bösewicht oder ein Irrer.(13) In Wahrheit ist es unmöglich, in diese Welt einzutreten, da wir ja schon seit jeher, seit unserer Geburt, ein Teil dieser Geschichte sind, zumindest durch die Sprache als Träger von Kenntnissen und Werten, die uns von ihr wohl oder übel übermittelt wurden. (14)
Konzentrieren wir nun unsere Aufmerksamkeit auf die Hegelsche Logik und versuchen wir, deren Grundprinzipien zu verstehen, um die Prinzipien der Vitalität der Vernunft zu verstehen.
§6 Die Grundprinzipien der Hegelschen Logik
Das wichtigste Merkmal der Vernunft ist laut Hegels Logik die Dialektik, ein sehr alter Begriff in der Philosophie. Ihre Geschichte ist eng mit der der Philosophie verbunden. Bei Hegel wurde dieser Begriff sicherlich am ausführlichsten behandelt. Der Philosoph aus Stuttgart versteht unter Dialektik die unaufhaltsame Bewegung des Denkens, bzw. der Vernunft. Dadurch entfaltet sich eine Kategorie nach der anderen, indem sie einige grundlegende Momente durchlaufen und einem genauen logischen Ablauf folgen. Es handelt sich um eine notwendige Bewegung, die am Ende das ideale Anfangsprinzip hervorbringt, oder besser gesagt die Erkenntnis vom Ablauf der Vernunft. Denn dieser Ablauf besteht eben genau aus der Dialektik und deren Gesetzen.
Die Dialektik umfasst drei grundlegende Momente: die Affirmation, die Negation (erste Negation) und die Negation der Negation (zweite Negation). Dieser Prozess wird vom Grundprinzip der dialektischen Aufhebung gesteuert (GW 21, S. 94-95).(15)
Dieses Prinzip besagt, dass der Übergang von einer niedereren Kategorie (vorhergehenden) in eine höhere (nachfolgende), insbesondere der Schritt von der Affirmation (1. Moment der dialektischen Triade) zur ersten Negation (zweiter Moment) und von dieser zur zweiten Negation (dritter Moment), nicht deren Verschwinden oder Verlust, sondern einen höheren Wert und eine höhere Bedeutung mit sich bringt, weil sie eben in der höchsten Kategorie aufbewahrt wird. Somit, um jetzt ein Beispiel Hegels aus den Anfängen der Logik wiederaufzunehmen, sind in der Kategorie des ‚Werdens‘ die beiden vorherigen Kategorien ‚Sein‘ und ‚Nichts‘ enthalten. Das Werden ist in der Tat nichts anderes als den Übergang vom Nichts zum Sein und umgekehrt (GW 21,69-70).
Die dialektische Aufhebung führt als Merkmal der Kategorienentwicklung zu einer Bedeutungsbereicherung und in Folge zu einer logisch reicheren Determination, d.h., ein eindeutig logischer Prozess führt von der niedrigeren Bestimmung (das Sein als unbestimmte Gesamtheit des Absoluten, das man erkennen will) zu einer höheren (die Idee, oder die absolute Vernunft als Gesamtheit der Kategorien). Dadurch begreift man, warum das Endergebnis der Wissenschaft der Logik, oder anders gesagt, die letzte Kategorie der notwendigen und dialektischen Entwicklung des reinen Denkens, nicht eine Kategorie unter vielen ist, sondern die Kategorie, die alle anderen in sich einschließt: die Idee bzw. die absolute Vernunft, das absolute Denken.
Das ist also die Grundstruktur der Vernunft, wie sie von Hegel in seiner dialektischen Logik rekonstruiert wird, die einzige Logik, welche die Vernunft von der exakten Seite her, der Einheit von Subjekt und Objekt, erforscht. Aus dem bisher Gesagten folgt also, dass nur die dialektische Methode die korrekte Methode für die wissenschaftliche Erkenntnis sein kann, da es sich um die einzige Methode handelt, der in der Lage ist, das Innenleben der Kategorien, also der Vernunft, zu rekonstruieren.
In diesem Zusammenhang scheint jedoch eine genauere Betrachtung der Hegelschen Logik und seiner gesamten Philosophie nötig, da Hegel in zahlreichen Stellen seiner Werke, vor allem in der Logik, präzisiert, dass die Dialektik keine Methode im herkömmlichen Sinn sei, d.h. ein auf den Inhalt bezogener äußerlicher Vorgang, denn
„Wie würde ich meynen können, daß nicht die Methode, die ich in diesem System der Logik befolgt, - oder vielmehr die diß System an ihm selbst befolgt, - noch vieler Vervollkommnung, vieler Durchbildung im einzelnen fähig sey, aber ich weiß zugleich, daß sie die einzige wahrhafte ist. Diß erhellt für sich schon daraus, dass sie von ihrem Gegenstande und Inhalte nichts unterschiedenes ist; - denn es ist der Inhalt in sich, die Dialektik, die er an ihm selbst hat, welche ihn fortbewegt.“
(GW 21, S. 38, 17-22).
Versuchen wir nun, den Sinn dieser Aussage Hegels zu ergründen.
§7 Widerlegung des rein formalen Wertes von Logik und Dialektik als Methode: die Hegelsche Interpretation der Logik als Theologie
Will man verstehen, warum Hegel die Beschreibung der Dialektik als äußerliche Methode ablehnt, so muss man die Hauptfrage der methodischen Problematik betrachten, und zwar sein Anspruch, die in der wissenschaftlichen Forschung anzuwendende Methode müsse die gleiche sein, der gleiche Weg, den auch das Studienobjekt geht oder während seines Entstehens gegangen ist (also neben der logischen Korrektheit auch die Objektivität der Methode). Versuchen wir zunächst einmal zu verstehen, warum Hegel die Dialektik nicht als Methode im eigentlichen Sinn auffasst.
Der Hauptgrund, warum der schwäbische Philosoph die Dialektik als Methode ablehnt, ist seine Kritik der rein formalen und subjektiven Interpretation der Logik. Diese war die vorherrschende Auffassung von Logik bis zu Hegel. Ihre wichtigsten Vertreter sind Aristoteles und Kant gewesen (zu letzterem vgl. GW 21,35 ff.).(16) Hegel kritisiert sehr scharf deren Auffassung, dass die Logik ein bloßes Instrument (‘Organon’) des Denkens und der Wissenschaft sei, und sie selbst nicht in der Lage wäre, den Rag einer autonomen Wissenschaft für sich zu beanspruchen. Seiner Meinung nach ist also die Logik kein Mittel für einen Fremdzweck, sondern Selbstzweck, sie ist eine Wissenschaft, und zwar die höchste Wissenschaft.
Obwohl Hegel sie sehr schätzte und dies auch immer wieder in Lobreden zum Ausdruck brachte, so z.B. an Kant in der Wissenschaft der Logik (GW 21, 40) und durch die Verwendung der Worte Aristoteles über den ‚ersten unbewegten Beweger‘ als Abschluss des philosophischen Systems in der Enzyklopädie (E §577), kritisiert Hegel an diesen beiden herausragenden Philosophen, dass sie die Würde des Denkens nicht voll verstanden hätten.
Über das Denken behauptet Hegel, dass es sich nicht nur um ein nützliches Instrument zur Erkenntnis der objektiven und dem Menschen äußerlichen Welt, sondern um ein Wesen wie alle anderen handelt, ja vielmehr das absolute Wesen, das Urprinzip der antiken Philosophen, die Gottheit der mittelalterlichen Theologen.
Wie die Ergebnisse seines Systems der Philosophie zeigen, ist sowohl die Natur als auch die Welt des Geistes dialektisch strukturiert, nicht nur das subjektive Denken des Menschen. Dem ganzen Sein liegt also Dialektik, Logik, Denken zugrunde.
Von diesem höheren Standpunkt aus, den wir hier selbstverständlich nicht begründen, sondern nur erwähnen können, ist das Denken das Absolute, das Prinzip von jedem einzelnen Wesen und vom Ganzen und somit das höchste Wesen, die Ursache der Welt im philosophischen und nicht im historischen Sinn, im logischen und nicht chronologischen Sinne des Begriffs der Ursache (als formale und finale Ursache, causa sui).
Die Logik als Wissenschaft des Denkens wird somit zur Wissenschaft des Absoluten, sie ist gleichzeitig die neue Metaphysik und auch die neue Theologie.(17)
Wir wollen die Darstellung der Hegelschen Auffassung vom Denken als Wesen auf den Schlussteil dieser Arbeit verschieben und nun die Bedeutung zu verstehen versuchen, die diese Hegelschen Auffassung des Denkens für die Lösung der Problematik der Methode und deren Objektivität hat.
§8 Begründung der Objektivität der dialektischen Methode
Da das Denken das objektive Wesen der Welt, der Natur und der Geschichte, sowie natürlich des subjektiven Geistes des Menschen ist, stellt daher die Logik kein einfaches Instrument zur Erkenntnis der Welt dar, sondern die höchste Erkenntnis an-sich. Wie Hegel meint, ist sie nicht nur Metaphysik, sondern auch Theologie, weil das menschliche Wesen, dessen eigenes Wesen das Denken bzw. das Wesen der Welt ist, in seinem rationalen Wesen das Absolute darstellt(18).
Aus diesem Grund hat Hegel jegliche Auffassung von Logik als bloßes Instrument immer strikt abgelehnt, als ob sie selbst nicht die Würde einer Wissenschaft in sich tragen würde. Sie ist dagegen die höchste Wissenschaft!
Bei der Logik, wie soeben klargestellt wurde, handelt es sich offensichtlich nicht um eine Methode im herkömmlichen Sinne des Terminus, und zwar aus folgendem Grund: Da die Realität selbst, sowohl die natürliche als auch die geistige, dialektisch strukturiert ist und nichts anderes als das absolute Denken darstellt, das sich langsam von materiellen, unbewussten und notwendigen zu geistigen, bewussten und freien Existenzformen stufenmäßig und dialektisch entwickelt, kann der Forscher sicher sein, das Wesen seines Forschungsobjektes zu erfassen, wenn es seinem Denken gelingt, das Objekt durch die Prinzipien der Dialektik zu erkennen. Denn nur so kann er die Art und Weise rekonstruieren, wie sich dieses Objekt im Laufe der Zeit langsam gebildet hat.
Wenn wir sichergehen wollen, einen beliebigen Aspekt der umgebenden Welt objektiv zu erkennen (in dem soeben erklärten Sinne von ‘Objektivität’), und zwar von den eher materiellen und weniger belebten Aspekten bis hin zur menschlichen Spiritualität, so müssen wir jenen Weg einschlagen, den auch die Realität selbst in ihrer Entwicklung genommen hat: die Dialektik.
Damit ist die Darstellung der Grundprinzipien der in diesem Werk angewandten Methode abgeschlossen.(19) Nun wollen wir untersuchen, wie die dialektische Methode in diesem speziellen Fall, bei der Rekonstruktion der Entwicklung des Hegelschen Denkens, angewandt wurde.
§9 Das Bedürfnis nach einem historistischen Verständnis von Hegels philosophischen System als Hauptmotivation für die vorliegende Arbeit
Zunächst muss einmal erwähnt werden, dass das ursprüngliche Ziel dieser genetischen Abhandlung über Hegel nicht das frühe Denken des Philosophen, sondern das Verständnis seines ausgereiften Systems der Philosophie war. Nach der Lektüre von Hegels Hauptwerken wurde jedoch klar, dass der einzige Weg zu einem objektiven Verständnis ihrer echten Bedeutung nur darin bestehen konnte, deren Evolution anhand der Entwicklung im Denken des schwäbischen Philosophen zu rekonstruieren. Man hatte den Eindruck, dass sich in Hegels philosophischem System der Schlüssel für eine Antwort auf die Probleme unserer heutigen Zivilisation(20) verbirgt, es war jedoch nicht möglich, dessen wirkliche Bedeutung im System selbst zu finden.
Aus diesem Grund wurden die Jungendschriften des Philosophen erforscht, in der Hoffnung, dort eine Grundlage für das Verständnis der späteren Werke und vor allem deren Grundbegriffe - z.B. das Absolute, der Geist, die Sittlichkeit - zu finden.
Versuchen wir nun zu verstehen, aus welchem Grund für eine objektive und korrekte Interpretation von Hegels reifen Werken Hegels absolut notwendig ist, seine frühen Werke zu lesen und zu erforschen.
Auf den vorangegangenen Seiten haben wir einige der Grundprinzipien der Dialektik dargelegt. Darunter gibt es ein Prinzip, vielleicht das absolute Prinzip schlechthin, dessen Erläuterung auf dieses Kapitel absichtlich verschoben wurde. Es handelt sich um das historistische Prinzip, denn die dialektische Methode ist nämlich im Wesentlichen eine historistische Methode.
Der Historismus ist eine Art, das Leben zu betrachten, die auf der grundlegenden Annahme basiert, die Realität sei nicht statisch, sondern dynamisch bzw. Entwicklung, genauer gesagt Evolution im Bereich der Natur und Geschichte im Bereich des Geistes.
Man soll sich nicht darüber wundern, dass im Zusammenhang mit dem Historismus auch die Natur in Betracht gezogen wird. Auch wenn man bis heute über Historismus nur in Bezug auf die menschliche Geschichte gesprochen hat, so bedeutet das nicht, dass es richtig sei, die Natur aus einer historistischen Betrachtungsweise der Realität auszuschließen. Tatsächlich hat die Entwicklung der Naturwissenschaften deutlich gezeigt, dass auch die Natur eine Entwicklung hat, die natürlich andere Merkmale aufweist als die humane, aber doch auf ihre Art und Weise auch ‘Geschichte’ ist. Hier ist jedoch sicher nicht der richtige Ort, um dieser wichtigen Frage, die auf jeden Fall eine genauere Untersuchung verdienen würde, nachzugehen.
In dieser Realität, die offensichtlich ständig im Werden ist, hat jedes Lebewesen für sich einen Anfang, eine Entwicklung und ein Ende. Wenn man ein Wesen wirklich kennen lernen will, reicht es nicht aus, seine aktuelle Struktur zu untersuchen, sondern man muss die Entstehung von der Geburt an rekonstruieren, um daraufhin eventuell auch den zukünftigen Verlauf seiner Entwicklung vorhersehen zu können.
Denn auch wenn uns die Realität unveränderlich und stabil erscheint, so ist doch in Wirklichkeit jedes Ding dazu bestimmt, seine Funktion in der Welt zu erfüllen, um dann seinen Platz einem anderen Wesen zu überlassen.(21) Nach der Terminologie von Hegels Dialektik ist die Entstehung das Fundament oder die Essenz des Wesens, die Struktur ist dessen eigentliche Sein und schließlich der Begriff ist der zielgerichtete Gesamtverlauf bzw. seine in der Welt zu erfüllende Funktion.(22)
Will man also ein Seiendes kennen lernen, so ist es in Anbetracht seiner zeitlichen und historistischen Struktur notwendig, die Art und Weise seiner Entstehung zu rekonstruieren. Dadurch wird man einen Hinweis über sein Wesen erhalten, d.h. über den Grund dafür, dass seine spezifische Natur diese und keine andere ist.(23) Auf diese Weise ist es auch möglich, den Begriff des Seienden, also seine Funktion in der Welt, zu erkennen.
Vom Standpunkt dieser historistischen Auffassung aus gesehen, erscheint die Erforschung der Jugendschriften Hegels sogleich die einzige Methode, der einzige Weg, um zum Verständnis der authentischen Bedeutung seiner reifen Philosophie, und deshalb zu der Bedeutung, die Hegel selbst seinem System der Philosophie geben wollte, zu gelangen. Diese Bedeutung hat ihren Ursprung (ihr Fundament oder Grund) in der geistigen Problematik, welche die Seele Hegels in seinen Jugendjahren quälte, und ihren Zweck in dem Sinn, den seine ausgebildete Philosophie in der Welt innehat, also in ihrer Funktion, die sie in der Geschichte des Faches und der Menschheit erfüllen soll.
Zusammengefasst kann man sagen, dass die Methode dieser Studie bzw. der Weg, den diese Studie gegangen ist - was das gleiche bedeutet -, eine in den Historismus eingebettete dialektische Methode ist, und zwar in dem eben erläuterten Sinne. Es wurde also versucht, dieselben Phasen zu durchlaufen, die vom Hegelschen Denken in seinem Werdegang bis zur Geburt des reifen philosophischen Systems, am Ende der eigentlichen Entwicklung, durchlaufen wurden. Von einer dialektischen und historistischen Perspektive aus betrachtet, besteht somit eine begründete Hoffnung, die authentische Bedeutung von Hegels philosophischem System zu verstehen.
§10 Über die Beziehung zwischen Philosophie und Philologie
Bevor wir eine Gesamtübersicht über die Phasen geben, in die sich die Entwicklung des Hegelschen Denkens unterteilt, und damit auch die Einteilung dieser Arbeit vorwegnehmen, sollte noch ein letzter Begriff geklärt werden, der für das exakte methodische Verständnis dieser Arbeit äußerst wichtig ist. Es handelt sich um die Beziehung zwischen Philosophie und Philologie.
Die Dialektik muss nämlich, will man wirklich die objektive Essenz des erforschten Objektes begreifen, von Mal zu Mal der Spezifität des untersuchten Objektes angepasst werden, auch wenn es sich bei ihr um eine universelle Methode handelt, die für alle drei Forschungsbereiche(24) Natur, Geist und natürlich Logik geeignet ist. So muss z.B. bei der Anwendung der dialektischen Methode für die Forschung im Bereich Naturwissenschaften diese Methode einerseits mit der mathematischen Methode in Einklang gebracht werden, da letztere die Basis für Studien in diesem Bereich darstellt, andererseits mit den Ergebnissen aus der experimentellen Forschung, die die Hauptdaten für eine Bearbeitung mit Hilfe der dialektischen Methode liefern. Was die Forschung im geistigen Bereich betrifft, dem auch diese Arbeit zuzurechnen ist, so muss die dialektische Methode auch in diesem Fall mit einigen Daten, z.B. historischen Dokumenten, in Einklang gebracht werden. Bei der vorliegenden Arbeit sind das die Werke Hegels in den Jugendjahren bis zur Entstehung des Systems. Im Fall der Wissenschaft der Logik hingegen kann die dialektische Methode frei ablaufen, ohne irgendwelche Daten berücksichtigen zu müssen, ist es doch sie selbst, die die Kategorien oder Daten durch die logische Ableitung aufstellt.
Versuchen wir nun zu verstehen, wie man die dialektische Methode auf die Werke der Jugendzeit eines Philosophen in ihren chronologischen Reihenfolge anwenden muss, und zwar bis zu dem Moment, in dem die definitive, wenn auch noch nicht in allen Details ausgereifte Version seiner Philosophie formuliert wird (bei Hegel also bis zur ersten definitiven, wenn auch noch nicht kompletten Version seines reifen philosophischen Systems, das er gegen Ende seines Aufenthaltes in Jena fertig stellte).
Die Grundlage für die vorliegende Interpretationsstudie bildet die intensive Vorarbeit von Philologen, die im Fall Hegels zunächst die Werke seiner Jungendjahre entdeckt bzw. wiederentdeckt und publiziert haben. Offensichtlich erahnten sie bereits deren Bedeutung für das exakte Verständnis des reifen Systems (es handelt sich hier z.B. um Beiträge von Rosenkranz, Thaulow, Dilthey, Nohl, Hoffmeister usw.).
In einem späteren Schritt haben andere Wissenschaftler die genaue Chronologie dieser Schriften rekonstruiert und dadurch eine geordnete Rekonstruktion des Wegs zum System in streng historisch-chronologischer Hinsicht ermöglicht (es handelt sich in erster Linie um die Anmerkungen unter anderen von Jäschke, Kimmerle, Nicolin und Schüler zur letzten Ausgabe der Jugendschriften in den ersten acht Bänden der Gesammelten Werke).(25)
Der Ausgangspunkt für die vorliegende Studie kann daher nur in der Lektüre und der vertieften Kenntnis dieser vorsystematischen Arbeiten Hegels liegen, und zwar in ihrer exakten chronologischen Abfolge und in allen anderen rein formalen, also philologischen Aspekten. Das gilt übrigens genauso für jede andere Interpretationsstudie über die Entwicklung des Hegelschen Denkens bzw. über jeden beliebigen Philosophen. Diese Daten bilden sozusagen das Rohmaterial, von dem die Interpretationsstudie auszugehen hat.
Durch die Interpretation dieser Schriften wechselt man dann von der philologischen zur philosophischen Ebene, von der Chronologie zur Logik. Zu diesem Zeitpunkt muss man, so wie es auch in der vorliegenden Arbeit geschah, die dialektische Methode einschalten. Es genügt in der Tat sicher nicht, einfach nur die Schriften, Fragmente und vorsystematischen Schriften eines Philosophen in eine präzise chronologische Reihenfolge zu bringen, um deren Bedeutung und den Sinn ihrer Entwicklung zu verstehen. In Wahrheit ist es notwendig, die immanente Entwicklung des philosophischen Denkens, im zuvor erklärten historistisch-dialektischen Sinn, zu erfassen, die der bloß philologischen Reihenfolge zugrunde liegt. Wie es Vico ein für allemal formuliert hat, muss man auch bei der Herausbildung einer philosophischen Theorie, so wie bei jedem anderen historischen Ereignis, den „Modus“ und die „Art“ ihrer „Entstehung“ erforschen, um ihre „Natur“, d.h. ihre authentische Bedeutung, ihre Essenz zu verstehen.
In der vorliegenden Arbeit wurde daher der gedankliche Inhalt jeder Schrift und jedes Fragmentes dialektisch nachvollzogen, und zwar von dem Moment an, in dem man in der Entwicklung Hegels erste Spuren persönlicher, origineller Überlegungen finden konnte(26), bis hin zu dem Moment, den man als die Geburtsstunde seines philosophischen Systems bezeichnen kann.(27)
Den Gedankeninhalt der verschiedenen Fragmente ‘dialektisch nachzuvollziehen’, bedeutet, die Entwicklung des Hegelschen Denkens nach dem Prinzip der ‘dialektischen Aufhebung’ zu durchlaufen, also die immanente Kontinuität zu rekonstruieren. Diese besteht darin, dass durch eine logische und konsequente Entwicklung das Anfangsideal realisiert wurde(28) (die einzelnen Etappen dieser Entwicklung bilden die „tempi“ und „guise“, also die „Zeiten“ und „Weise“ der „Entstehung“ der „Natur“, d.h. der Essenz, des reifen philosophischen Systems).
Der Beitrag dieser logisch-dialektischen und historistischen Interpretation der rohen Daten, die man aus der philologischen Forschung (mit Hilfe der Chronologie) bezieht, besteht also darin, die logischen Beziehungen zwischen den einzelnen Texten aufzuzeigen und damit die chronologischen Beziehungen mit dem entsprechenden philosophischen Inhalt zu füllen.
An dieser Stelle ist eine Erklärung dazu angebracht, worin der Unterschied zwischen logischen und chronologischen Beziehungen in der Abfolge der frühen Texte eines Philosophen, in diesem Fall bei Hegel, besteht.
§11 Über die Beziehung zwischen logischer und chronologischer Entwicklung
Die Entwicklung des Hegelschen Denkens (und das gilt natürlich auch für jeden anderen Philosophen) lässt sich auf zwei Arten darstellen, nämlich durch logische und chronologische Beziehungen zwischen den vorsystematischen Schriften.
Nach chronologischen Beziehungen hat Hegel einen Text in einem bestimmten Moment seiner Entwicklung verfasst. Somit nimmt dieser Text den Platz nach oder vor einem anderen ein. Geht man allerdings logisch vor, so muss der begriffliche Inhalt, der mehr oder weniger deutlich in dem Text zum Ausdruck kommt, bestimmt werden. Dementsprechend soll die begriffliche Sequenz der verschiedenen Gedanken, die die Entwicklung des Hegelschen Denkens in diesem Zeitraum inhaltlich darstellen, rekonstruiert werden.
Allein indem man innerhalb der chronologischen Beziehungen die impliziten logischen Beziehungen herausholt und bestimmt, kann man die Entwicklung eines Philosophen kontinuierlich rekonstruieren. Nur so kann man in der Tat den Gedankeninhalt verstehen, der den verschiedenen, manchmal lückenhaften, unvollständigen und teilweise fragmentarisch vorhandenen Manifestationen immanent ist.(29)
Mit Hilfe der logisch-dialektischen Ableitung, basierend auf dem Rhythmus unserer Vernunft, unseres Logos (30), der wohl nichts anders als der Rhythmus von Hegels Logos selbst ist, können wir in unserem Denken die vorhandenen chronologischen Lücken auffüllen, indem wir die Entwicklung seines Denkens rekonstruieren und in uns nacherleben.
Dem muss noch ein weiterer Vorteil hinzugefügt werden, den wir in der Interpretation der chronologischen Beziehungen aus der Perspektive der logischen Beziehungen ziehen: In Hegels frühen Texten - wie auch bei jedem anderen Philosophen - finden wir noch nicht alle seine Gedanken explizit ausgedrückt, da sie nicht für andere Leser konzipiert waren und deshalb nicht gerade das Ergebnis maximaler Objektivierungsanstrengungen seines eigenen Denkens darstellen. Die genaue Erforschung dieser oft nur fragmentarisch überlieferten Schriften - schon allein deshalb ungeeignet, das gesamte Denken des Autors zur Schaffenszeit wiederzugeben -, enthüllt uns die Existenz von zwei Ebenen: die Ebene des expliziten und des impliziten Denkens.
Die explizite Ebene umfasst alle deutlich ausgedrückten Gedanken des Philosophen, die wir als Ausdruck der Problemstellungen und Schlussfolgerungen in den überlieferten Texten unmissverständlich nachlesen können.
Die implizite Ebene hingegen wird von Gedanken gebildet, die zwar aus logischen Gründen vorausgesetzt werden müssen, weil sie für die expliziten Überlegungen des Autors unentbehrlich sind, die aber trotzdem in keinem der überlieferten Texte ausdrücklich formuliert werden. Daher drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass diese Gedanken zwar zum Schaffenszeitpunkt der Texte die logische Struktur des Hegelschen Denkens bildeten, aber entweder in expliziter Form in nicht überlieferten Texten vorhanden waren, oder sie vom Autor deswegen nicht explizit ausgedrückt wurden, weil er sie an sich für völlig eindeutig hielt. Es gibt dann noch eine dritte Möglichkeit, und zwar dass der Autor diesen impliziten Gedanken mit Absicht keine äußerliche, schriftliche Form gegeben hat, um z.B. eine Zensur zu vermeiden (dies könnte während seiner Zeit im Tübinger Stift durchaus möglich gewesen sein).
Auf jeden Fall ermöglicht die Interpretation der chronologischen Beziehungen aus der Perspektive der logischen Beziehungen, die auf expliziter Ebene aus verschiedenen Gründen existierenden Lücken durch die Einfügung von impliziten Gedanken aufzufüllen, die von den expliziten Gedanken vorausgesetzt sind. Die impliziten Gedanken gehören dadurch mit vollem Recht zur philosophischen Problematik und den entsprechenden Schlussfolgerungen des jungen Denkers.
Mit Hilfe dieser doppelten, chronologisch-logischen Perspektive kann man somit am Ende des eingeschlagenen Weges zu einem dialektischen Verständnis der Entwicklung der Hegelschen Philosophie erfolgreich gelangen. Führt man die genetische Rekonstruktion bis zum Fundament, also bis zu ihrer „Entstehung nach bestimmten Zeiten und Weisen“, so haben wir die „Natur“, also die Essenz, seine authentische Bedeutung verstanden und damit das von Anfang an gesetzte Ziel erreicht.
§12 Die Rekonstruktion der Entwicklung des Hegelschen Denkens als ‚immanente‘ Rekonstruktion
Aus dem bisher Gesagten ergibt sich eine letzte Konsequenz für die Methode. Die vorliegende Studie enthält eine ‘immanente’ Rekonstruktion der Entwicklung des Hegelschen Denkens, da sie auf einer logisch-dialektischen Rekonstruktion seiner gedanklichen Entwicklung basiert bzw. sie, anders gesagt, in unserem Denken aufgrund jener dialektischer Gesetzte nachvollzogen wird, die auch die Gesetze der Entwicklung des Hegelschen Denkens gewesen sind. Somit zieht diese Studie also nicht die historische Herkunft der diversen Begriffe vordergründig in Betracht, die das Innenleben des Hegelschen Denkens in der vorsystematischer Zeit bildeten, sondern nur ihre innere Entwicklung im Geist Hegels, ihre immanente Dialektik, die notwendigerweise zur Konzeption und Erarbeitung des reifen Systems geführt hat.
Dabei wird diese Studie Hegels Hinweisen aus der Logik folgen, z.B. der bereits erwähnten Definition von Immanenz:
Auf diesem sich selbst construirenden Wege allein, behaupte ich, ist die Philosophie fähig, objective, demonstrirte Wissenschaft zu seyn. (GW21, 8, 19-21) |
Deshalb darf man in dieser Studie auch nicht nach dem Einfluss suchen, die Schiller, Rousseau, Hölderlin usw. auf den jungen Hegel ausgeübt haben, da solche Einflüsse nicht nach der dialektischen Logik ableitbar ist, sondern nur eine historische darstellen, die im Bezug auf die innere Entwicklung Hegels als ‚äußerlich‘ zu bezeichnen sind. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Erforschung der Quellen des Hegelschen Denkens unbedeutend ist. Ganz im Gegenteil! In der bereits erwähnten Arbeit Einfluß hat der Autor der vorliegenden Studie zum Beispiel die grundlegende Bedeutung analysiert, die Rousseau für die Ausbildung des Hegelschen Denkens gehabt hat. In derselben Arbeit wird die zentrale Rolle deutlich, die anderen Denker wie z.B. Zimmermann, Nicolai und Mendelssohn, Flatt in der Entwicklung seines Denkens spielten. Die Arbeiten von Jacques d’Hondt, um noch ein weiteres Beispiel zu nennen, warfen ein neues Licht auf den zum Teil freimaurerischen Ursprung der Studentenbewegung in Tübingen zur Zeit Hegels und Hölderlins. Die Quellenforschung ist also äußerst wichtig und stellt, ähnlich wie die Philologie bei Texten, einen Grundpfeiler in der entwicklungsgeschichtlichen Erforschung des Denkens eines Philosophen dar.
Will man jedoch die authentische Bedeutung einer Philosophie anhand ihrer Entwicklung verstehen, so muss man trotzdem die Quellenforschung und auch die philologische Arbeit einstellen, und sich anhand der Schriften des jeweiligen Autors auf die Rekonstruktion des Weges konzentrieren, den die Gedanken genommen haben, nachdem sie vom Philosophen entweder selbst erarbeitet wurden oder von außen, z.B. durch die Lektüre eines Buches, rezipiert wurden. Nur durch die Nachvollziehung dieses „sich selbst construierenden Weges“ kann man zum Verständnis der Entwicklung und der authentischen Bedeutung der Grundbegriffe gelangen, die das Gerüst seiner Philosophie darstellen. Die Tatsache, dass diese Begriffe dann ganz oder teilweise von dem einen oder anderen Denker rezipiert wurden, hat für das Verständnis der echten Bedeutung einer Philosophie keine zentrale Bedeutung. Eine solche ‚Rezeptionsforschung‘ hat dagegen eine ganz zentrale Bedeutung für die allgemeinere Geschichte einer besonderen Epoche. Für die Epoche von Kant bis Hegel ist z.B. die Forschung über die verschiedenen Einflüsse von Rousseau, Kant usw. auf den jungen Hegel besonders wichtig, da sie die Entwicklung der Gedanken von einem Denker zu dem anderen erforscht und rekonstruiert. Die Erforschung der Quellen des Hegelschen Denkens würde somit einen wesentlichen Bestandteil einer logisch-dialektischen Studie über die Entwicklung der deutschen Kultur und insbesondere Philosophie zwischen 1700 und 1800 ausmachen, weil in diesem Fall solche Quellen dem Studienobjekt immanent und nicht äußerlich wären. Der Entwicklung des Hegelschen Denkens hingegen ist die Quellenforschung äußerlich und nicht immanent.
In der vorliegenden Arbeit werden natürlich einige der wichtigsten und vor allem dokumentierbaren Einflüsse erwähnt werden, die andere Denker auf den jungen Hegel ausübten. Sie gehören jedoch nicht zur tragenden Struktur der Arbeit, also zu der logisch-dialektischen Sequenz, sondern fungieren als äußere Ausstattung und haben die Aufgabe, eine Verbindung zwischen der immanenten Entwicklung des Hegelschen Denkens und der Kultur seiner Zeit herzustellen.
Werfen wir nun einen Blick auf die vorgezogene Einteilung der immanenten Entwicklung des Hegelschen Denkens.
§13 Vorgezogene Einteilung der Entwicklung des Hegelschen Denkens
In Übereinstimmung mit den Grundprinzipien der Dialektik wird die Entwicklung von Hegels Denken in drei große Lebenszyklen oder Makroperioden unterteilt.
Der erste Lebenszyklus, die Affirmation, die traditionell als "Jugend" bezeichnet wird, reicht von den ersten schriftlichen Aufzeichnungen in Stuttgart (Tagebuch, Schularbeiten, Exzerpte) bis zur Ausarbeitung des endgültigen, aber noch nicht vollständigen philosophischen Systems am Ende der Jenaer Zeit. Es sind die Jahre von 1785 bis 1806. In diesem ersten Zyklus formuliert Hegel das ethisch-religiöse Ideal seines Geisteslebens, nämlich die Verwirklichung einer rationalen Religion, die ein ganzes Volk zu erleuchten vermag und nicht nur die Gelehrten, wie es die Philosophie tut.
Der zweite Lebenszyklus (die erste Negation), der erkennbar ist und eine klare Physiognomie aufweist, ist derjenige, der durch die Ausarbeitung der großen systematischen Werke in ihrer ersten Auflage gekennzeichnet ist, also die Phänomenologie des Geistes, die Wissenschaft der Logik, die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften und die Grundlinien der Philosophie der Rechts. In diesen Werken legt Hegel das in Jena ausgearbeitete System im Detail dar und verwirklicht damit sein jugendliches Ideal. Die rationale Religion im Prozess der Volksaufklärung ist seine eigene Philosophie, nämlich der absolute Idealismus als dritte und letzte Religion der Menschheit nach Polytheismus und Monotheismus. Es sind die Jahre 1807 bis 1820.
Der dritte und letzte Zyklus schließlich, die zweite Negation oder Negation der Negation, die den Berliner Jahren entspricht, besteht aus dem Versuch, die neue rationale Religion, d.h. das philosophische System, das Hegel in jeder Hinsicht als Philosophie des preußischen Staates zu bestätigen versucht, konkret zu verwirklichen, indem er danach strebt, das Rationale, eben das System, mit dem Realen, also mit dem damaligen preußischen Staat, in Übereinstimmung zu bringen, mit all den positiven, aber auch negativen Aspekten, die eine solche titanische Anstrengung erfordert. Es waren die letzten Jahre seines Lebens, von 1821 bis 1831, dem Jahr seines leider viel zu frühen Todes. Aus der Sicht der Dialektik entspricht dieser Zyklus dem Moment der zweiten Negation, d.h. der Rückkehr zur Affirmation, nun aber angereichert mit der Seite der Realität. Es handelt sich also um die vollendete Verwirklichung des Ideals.
Zusammenfassend lässt sich die Entwicklung von Hegels Denken folgendermaßen gliedern (Einteilung in Zyklen oder Makroperioden):
1. Zyklus (Affirmation; 1785-1806): Formulierung des Ideals der Stiftung einer neuen ethisch-religiösen Theorie der Wiedereingliederung des Menschen in die Natur und dessen theoretische Verwirklichung im ersten endgültigen, wenn auch noch nicht vollständigen, System.
2. Zyklus (erste Negation; 1807-1820): Prozess der theoretischen Verwirklichung des Ideals durch den Aufbau des philosophischen Systems im Detail.
3. Zyklus (zweite Negation; 1821-1831): Prozess der praktischen Verwirklichung des Systems in der damaligen Gesellschaft durch seine akademische Etablierung.
Es handelt sich um drei verschiedene Zyklen, die sich nicht nur in Bezug auf Hegels intellektuelle Arbeit, sondern auch in seinem Privatleben unterscheiden.
Im ersten Zyklus haben wir es mit einem jungen Mann zu tun, der nicht nur sein eigenes System, sondern auch sein eigenes Leben aufbaut, mit all den Schwierigkeiten und sogar Fehlern, die zur Jugend gehören, damals wie heute.
Der zweite Zyklus ist stabiler, Hegel genießt recht stabile Arbeitsverhältnisse, auch wenn ihm die große akademische Anerkennung, die er zu Recht anstrebt, noch fehlt, aber er kann eine Familie gründen und seinem Leben, auch seinem Gefühlsleben, Stabilität verleihen.
Im dritten Lebenszyklus des Philosophen schließlich stellt sich der ersehnte akademische Erfolg ein, allerdings im Preußen der Restauration und unter Bedingungen, die für eine Philosophie, die als Philosophie der Freiheit und der Revolution geboren wurde, sicher nicht günstig sind. Hegel musste also nach Strohhalmen greifen, um die theologisch-politische Macht der Zeit, seinen Dienstherrn, von der Übereinstimmung zwischen seinem eigenen Denken und der politischen Realität der Zeit zu überzeugen. Dies führte ihn zu praktischen wie theoretischen Kompromissen, die nicht nur den ersehnten Erfolg bitter werden ließen, sondern ihn auch zwangen, sich vom wahren revolutionären Geist seines eigenen ursprünglichen und authentischen Systems zu entfernen, was für einen Philosophen sehr schwerwiegend war und später, z.B. von Marx, zum Teil berechtigte Vorwürfe der Anpassung auf sich zog. Dies warf natürlich einen Schatten auf sein Denken und verhinderte, dass es die weltweite Bestätigung erfuhr, die, wie wir hier zu zeigen versuchen, das System in seiner authentischen und ursprünglichen Form, vor der Akkommodation, sicherlich verdient hätte.
Dies ist die grundlegende dialektische Struktur der Entwicklung des Hegelschen Denkens und Geisteslebens. Was die innere Gliederung der einzelnen Perioden anbelangt, so ist darauf hinzuweisen, dass jeder Zyklus wiederum in Perioden, Perioden in Phasen, Phasen in Stadien, Stadien in Stufen unterteilt sind. (32)
Die logisch-dialektische Entwicklung des Hegelschen Denkens wird in dieser Studie also nach folgenden Ebenen dargestellt:
erste Ebene: Lebenszyklus oder Makroperiode;
zweite Ebene: Periode;
dritte Ebene: Phase;
vierte Ebene: Stadium;
fünfte Ebene: Stufe;
sechste Ebene: Moment.
Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass das Moment nicht einem chronologischen Zeitraum entspricht, sondern innerhalb desselben chronologischen Zeitraums (Zyklus, Periode, Phase, Stadium, Stufe) verschiedenen Aspekten oder Seiten seines begrifflichen Inhalts.(33)
In dieser Arbeit werden wir uns mit dem ersten Zyklus in der Entwicklung des Hegelschen Denkens beschäftigen, dem Jugendzyklus. Nach der Vorwegnahme der Gliederung dieser Schrift und dementsprechend der Entwicklung des Hegelschen Denkens können wir uns also nun seiner anschaulichen dialektischen Rekonstruktion zuwenden.
Wenden wir uns nun dem Verständnis des ersten Zyklus von Hegels Leben und Denken zu.
*
ANMERKUNGEN
5) Zum Begriff „Tarnung“ in der Tübinger Periode vgl. meine Arbeit Die Rolle des Einflusses von J.J.Rousseau auf die Herausbildung von Hegels Jugendideal. Ein Versuch, die „dunklen Jahre“ der Jugendentwicklung Hegels (1789-1792) zu erhellen (Frankfurt am Main, 1995, S. 129-130, von nun an als Einfluß zitiert) und zu jenem der Berliner Periode vgl. die Einleitung von Ilting zu Vorlesungen über Rechtsphilosophie (1973).
6) Ausblick: Grundlinien des Programms einer Aktualisierung von Hegels Philosophie nach den Prinzipien der ‘Globalinterpretation’, S. 199 ss.
7) Für genauere Angaben zur Problematik der Methode bei einer Interpretation der Philosophie Hegels bzw. einer beliebigen Philosophie der Vergangenheit verweise ich auf andere diesem Thema gewidmete Seiten in Einfluß (vgl. die Einleitung des ersten Teiles) und in Weisheitslehre (vgl. Beitrag Nr. 10). In dieser Einleitung wird der Schwerpunkt von den dialektischen Prinzipien der genetischen Methode gebildet, während in den beiden anderen Texten eine ganzheitliche Sichtweise angeboten wurde, die insbesondere auf den Resultaten der genetischen Psychologie von Jean Piaget basiert.
8) Laut Etymologie vom griechischen Wort ‘hodós’ (Strasse).
9) Auch der Untersuchungsgegenstand der Psychologie unterscheidet sich von der Vernunft. Sie erforscht nämlich den Geist des Menschen in seiner Gesamtheit (Leidenschaften, Lernen, Motivationen, usw.) und nicht die Gesetze der Logik im spezifischen Sinn, das heißt, in ihrer innenwohnenden Gültigkeit.
10) Eine Auflistung ohne jedes Leben findet sich in jeder Logik des formalen Typs, von Aristoteles bis zu den verschiedenen Logiken von heute. Eine Ausnahme bilden hier nur die Logiken des klassischen deutschen Idealismus (und alle späteren, die sich durch sie inspirieren lassen) sowie, wenn auch mit einigen Vorbehalten, die Transzendental-Philosophie von Kant.
11) Zur Rekonstruktion der Entwicklung dieser Philosophien, auch in ihrer gegenseitigen Beziehung, vgl. die schon klassischen Arbeiten von Ernst Cassirer Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit (Berlin, 1906-1920); Nicolai Hartmann Die Philosophie des deutschen Idealismus (Berlin, 1923-1929); Richard Kroner Von Kant bis Hegel (Tübingen, Band I, 1921, und Band II, 1924); Gottfried Stiehler Der Idealismus von Kant bis Hegel. Darstellung und Kritik (Berlin, 1970)
12) Vgl. z.B. die Verbesserungsvorschläge von Vittorio Hösle zur Notwendigkeit einer Ergänzung einer Intersubjektivitätslogik (Hegels System, Band I, § 4.2.4 Intersubjektivität und Logik: Überlegungen zur Notwendigkeit einer Erweiterung von Hegels ‘Wissenschaft der Logik’.
13) Dasselbe kann z.B. nicht über künstlerische Manifestationen gesagt werden, weil sie keine ‚Geschichte‘ im spezifischen Sinne von ‚Entwicklung‘ oder ‚Fortschritt‘ besitzen. Dies wurde von Benedetto Croce auf brillante Art und Weise im XVII Kapitel von La storia della letteratura e dell’arte seines Hauptwerks Estetica (Bari 1908) geklärt, denn „[...] Kunst ist Intuition, und Intuition ist Individualität, und Individualität wiederholt sich nicht [...]“ (S.155). Daraus folgt, dass in der Kunst kein richtiger kausaler Zusammenhang durch die chronologische Abfolge bestehen kann.
14) Vgl. in diesem Zusammenhang die einleuchtenden Überlegungen von Aldo Masullo in La potenza della scissione. Tre letture hegeliane. Napoli 1997, S.122.
15) Zur Darstellung der anderen, die Grundstruktur der Dialektik bildenden Begriffe siehe Vorworte und Einleitungen von Hegel in den verschiedenen Ausgaben von Wissenschaft der Logik und Enzyklopädie.
16) In der Tat hat die Logik als Erforschung der Kategorien auch bei Kant die Aufgabe, den Weg für die Metaphysik vorzubereiten, sie selbst ist aber nicht Metaphysik.
17) Über die Notwendigkeit, das Denken von einem ‘höheren Standpunkt’ aus zu betrachten, der dem Standpunkt des Absoluten als Identität von Subjekt und Objekt, von Denken und Sein, also von Logik und Metaphysik, entspricht, schreibt Hegel schon seit der Zeit in Jena auf eindeutige und explizite Weise. (vgl. z.B. die sogennante Differenzschrift in GW 4, 68ff.).
18) Zur Interpretation der Hegelschen Logik als Onto-Theo-Logie vgl. Birault (1958) und Löwith (1964).
19) Die Einleitung und das Vorwort haben nämlich nur einen ‘historischen’ Wert, wie Hegel sagen würde, da sie von einem chronologischen Gesichtspunkt aus nicht am Anfang, sondern am Ende eines Werkes geschrieben werden, und zwar dann, wenn die Arbeit bereits beendet ist und der Autor zurückblicken kann, um das Geschriebene zu betrachten, die Grundprinzipien davon herauszulösen, sie ins Gewissen und Bewusstsein zu erheben und schließlich in Vorwort und Einleitung umzuwandeln.
20) Als Beispiel dient hier das Ziel Hegels, die traditionelle Religion durch Erhebung und Verwandlung in Philosophie zu ‘retten’. Auch heute ist in der westlichen Welt ein steigendes religiöses Bedürfnis festzustellen, allerdings losgelöst von der offiziellen und traditionellen Religiosität. Zwischen materialistischem Atheismus und dem Glauben der verschiedenen Religionsbekenntnisse kann also ein dritter Weg existieren, der aus dem philosophischen Verstehen und der Demonstration einiger essentieller ethischer Werte besteht, auf denen man seine irdische Existenz aufbauen kann. Dieser Weg wurde von vielen Philosophen beschrieben, in besonders klarer und expliziter Weise aber von Hegel ( in diesem Zusammenhang siehe das letzte Kapitel der vorliegenden Arbeit).
21) Die Vergänglichkeit des Lebens, nicht nur des Menschen sondern auf ontologischer Ebene auch des Seins selbst, wurde schon von den Griechen erahnt, so z.B. von Anaximander: „Woraus aber die Dinge ihre Entstehung haben, darein finde auch ihr Untergang statt, gemäß der Schuldigkeit. Denn sie leisteten einander Sühne und Buße für ihre Ungerechtigkeit, gemäß der Verordnung der Zeit“ (Fragment 1, in: Die Vorsokratiker…).
22) Es handelt sich hier um die drei Hauptsektionen der Hegelschen Logik: die Lehre vom Sein, vom Wesen und vom Begriff. Zur Interpretation der zeitlichen Struktur der Hegelschen Logik vgl. Masullo, 1997, S.123ff.
23) Nach dem Grundprinzip des Historismus, das als erstes von G.B. Vico in Degnità XIV seiner Scienza nuova (1744, im Abschnitt II Degli Elementi) ausgedrückt wurde: „Die Natur der Dinge ist nichts anderes als ihre Entstehung zu bestimmten Zeiten und auf bestimmte Weise; immer dann, wenn diese so sind, entstehen die Dinge daraus so und nicht anders“ (dt. Übersetzung von Vittorio Hösle und Christoph Jermann, Hamburg 1990, S.94; ital. Original: „Natura di cose altro non è che nascimento di esse in certi tempi e con certe guise, le quali sempre che sono tali, indi tali e non altre nascon le cose”).
24) Um nicht Anlass zu leichtfertigen Kritiken zu geben, möchte ich hier festhalten, dass ich mich natürlich im Begriff der ‚Dialektik‘ darauf beschränke, nur jene Grundaspekte zu behandeln, die auf den vorhergehenden Seite diskutiert wurden (dialektische Aufhebung, Prinzip der Negation usw.). Es ist offensichtlich, dass die Logik Hegels eine Überprüfung nötig hat, und deshalb muss auch ein Begriff der ‚Dialektik‘, will er für einen Gebrauch durch die moderne Wissenschaft geeignet sein, einem solchen Reform- und Aktualisierungsprozess unterzogen werden (der übrigens schon stattfindet, vgl. z.B. Wandschneider 1995). Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Hegel mit seiner philosophischen Arbeit eine logisch-methodologische Grundlage geschaffen hat, die auch für die heutige Wissenschaft gültig und sogar unentbehrlich sein sollte.
25) Zur Rekonstruktion der verschiedenen Etappen in der Entdeckung und Aufwertung der Jugendschriften von Hegel vgl. Lacorte 1959 sowie die Einleitung von Jamme-Schneider 1990.
26) Das findet man schon in den ersten frühen Texten aus der Stuttgarter Zeit, was in Einfluß auf den S. 25 ff. rekonstruiert wird. Aus diesem Grund wird es in der vorliegenden Arbeit wird auf die dialektische Rekonstruktion der Stuttgarter Periode verzichtet - sie wird ohnehin in den einführenden Bemerkungen zur ersten Periode zusammengefasst - und sie beginnt direkt mit der dialektischen Rekonstruktion des Inhaltes der Schriften aus der Zeit in Tübingen und Bern.
27) Das ist im letzten Stadium der Zeit in Jena festzustellen, insbesondere in den systematischen Fragmenten der Jahre 1804/05 (für Logik und Metaphysik) und 1805/06 (für die Philosophier der Natur und des Geistes).
28) Es handelt sich um den Begriff des Wahren, der gleichzeitig als Ergebnis und ebenso als das absolute Erste gilt, und ein weiterer Pfeiler der Hegelschen Logik bildet (vgl. GW 21, 56-59; auf interpretierender Ebene: Masullo, 1997, S. 67-68).
29) In der Arbeit von Henrich/Becker Fragen und Quellen zur Geschichte von Hegels Nachlaß findet man die Rekonstruktion der zum Teil abenteuerlichen Ereignisse rund um Hegels Nachlass und daher auch die Erklärung der Gründe, warum die Texte verlorengingen, die uns heute so schmerzlich fehlen.
30) Auch in diesem Fall ist uns die Weisheit der Antike zuvorgekommen, wenngleich in Form einer Intuition mehr als einer Argumentation: „Daher muß man dem Gemeinsamen folgen. Obgleich aber das Weltgesetz (Logos) allem gemeinsam ist, leben doch die Vielen, als ob sie eine eigene Denkkraft hätten“ (Heraklit, Fragment Nr. 2, in: Die Vorsokratiker…).
31) Zu den genauen Beweggründen für diese Entscheidung lese man die einführenden Bemerkungen zur dritten Periode.
32) Vgl. Einfluß, Anm.8, S.18 sowie die gesamte Einleitung zum ersten Teil, in der das Problem der Methodologie nicht nur vom Gesichtspunkt der dialektischen Logik, sondern auch von dem der genetischen Psychologie behandelt wird.
33) Zur näheren Bestimmung des Begriffs ‚Moment‘ in der dialektischen Progression vgl. GW 21,94-95.
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