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1.3.3.0
DRITTES STADIUM
Die Entstehung von Hegels Programm
der Stiftung einer neuen Volksreligion
Zeitlicher Rahmen: Winterhalbjahr 1793/1794
Hauptquellen: Text 16, Bögen ’i’-’l’; Texte 25-26
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Einleitende Überlegungen
Die Texte nach Text 16 offenbaren das Erreichen einer neuen Stufe in der geistigen Entwicklung des jungen Denkers. Auf der Grundlage der kantischen Auffassung einer ’Vernunftreligion’, die inzwischen veröffentlicht wurde, entwickelt Hegel in dem dritten und letzten Stadium dieser Phase (Wintersemester 1794) sein eigenes Ideal der Gründung einer neuen natürlichen und rationalen Volksreligion, um die Aufklärung des einfachen Menschen zu fördern.
In diesen Texten führt der junge Denker hauptsächlich Reflexionen über die christliche Religion durch, um die Gründe für ihr Scheitern als Volksreligion zu verstehen. Die Ergebnisse, zu denen er gelangt, sind vor allem in den Texten 25 und 26 enthalten, mit denen die erste Phase seiner geistigen Entwicklung endet.
In diesem Reflexionsprozess über die christliche Religion lassen sich drei Stufen klar unterscheiden.
Was die Chronologie anbelangt, sind alle diese Texte von Hegel schon in Tschugg-Bern, und zwar in dem Zeitraum Winterhalbjahr 1793/94, abgefasst worden (vgl. GW 1, Editorischer Bericht, S. 475 ff.), wobei sich nur genau feststellen lässt, dass die Texte 24-26 einige Zeit später als die anderen entstanden sind (vgl. GW 1, Editorischer Bericht, S. 481 ff.).
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1.3.3.1
ERSTE STUFE
„Volksreligion“ als „sinnliche und natürliche Religion“
Zeitliche Rahmen: Herbst 1793
Hauptquelle: Text 16, Bögen ’i’ bis ’l’
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Das Zurückgreifen auf die Hauptbegriffe, zu denen Hegel in der ersten Stufe dieses Stadiums gekommen war, erreicht seinen Höhepunkt in den Bögen i-l, mit denen der Text 16 zu Ende geht. Diese Bögen enthalten die Ergebnisse von Hegels Überlegungen aus dem gesamten Stadium, und zwar in einer systematisch geordneten Form. Die Gedanken, die den Inhalt der vorigen Stufen bilden und als Vorstufen zu der neuen Auffassung der Volksreligion gelten, sind darin nach dem Prinzip der „Aufhebung“ als deren „Momente“ enthalten.
Bögen i-l
(von 103,2 bis 114,26)
In diesen Bögen setzt Hegel den Versuch fort, die Hauptmerkmale der Volksreligion festzulegen. Er ist überzeugt, dass nur eine der Zeit angepasste Form der Religion Erfolg bei dem Volk[1] haben, dieses zur Vernunftreligion führen und dadurch dessen Moralität befördern kann.
In dem mit den Worten „Wie mus VolksReligion beschaffen seyn?“ beginnenden Abschnitt (103,14) sind die Hauptmerkmale der Volksreligion nach der neuen Auffassung Hegels systematisch dargestellt.
Die Volksreligion soll auf diese Art beschaffen sein:[2]
-“I. Ihre Lehren müssen auf der allgemeinen Vernunft gegründet seyn“, sie soll also „vernünftig“ sein),[3] wie schon Kant in seinem Begriff der „Vernunftreligion“ festgelegt hatte;
-“II. Phantasie, Herz und Sinnlichkeit müssen dabei nicht leer ausgehen“, sie soll also auch „sinnlich“ und nicht nur vernünftig sein, so dass sie das ganze Volk und nicht nur wenige, gelehrte Menschen ansprechen kann.[4]
-“III. Sie mus so beschaffen seyn, dass sich alle Bedürfnisse des Lebens - die öffentliche StaatsHandlungen daran anschliessen“, sie soll also „natürlich“ sein, sie darf den „natürlichen Bedürfnissen“ der Menschen, „den Trieben einer wohlgeordneten Sinnlichkeit“, nicht zuwider sein (103,20-21).
Zusammengefasst, muss nach Hegel die Religion Rücksicht auf die konkrete, wirkliche Beschaffenheit der Menschen nehmen, die nicht nur aus Vernunft, sondern auch aus Sinnlichkeit besteht. Wenn das nicht der Fall ist, „sobald eine Scheidewand zwischen Leben und Lehre“ besteht, „so entsteht der Verdacht - dass die Form der Religion einen Fehler habe - entweder dass sie zuviel mit Wortkrämerei umgeht, oder an die Menschen zu grosse frömmelnde Foderungen macht“, wie sich Hegel darüber sehr treffend ausdrückt (109,29 ff.).
Die Religion darf also keinesfalls ein Gefängnis für den Menschen sein, sie soll ihm eher bei dem Bau des Häuschens helfen, „das der Mensch alsdenn sein eigen nennen kann“, in dem er sich wohl fühlt und dessen Symbol der von Hegel mehrmals zitierte Satz aus Lessings Nathan ist.
Zu diesen Merkmalen sind die „Öffentlichkeit“ und die „Subjektivität“ hinzuzufügen, die in dem Begriff „Volksreligion“, wie Hegel ihn verstand, schon enthalten sind.[5]
Alle diese unentbehrlichen Merkmale der idealen Religion (Subjektivität, Öffentlichkeit, Vernünftigkeit, Sinnlichkeit und Natürlichkeit) charakterisieren Hegels Auffassung der Volksreligion, die fähig ist, das Volk zur Vernunftreligion zu führen und dadurch eine reine Moralität in den Menschen zu befördern.
Diese Auffassung kann als die Auffassung von einer vernünftigen, sinnlichen und natürlichen Volksreligion bezeichnet werden, womit auch die Subjektivität und die Öffentlichkeit gemeint sind. Sie ist in engem Anschluss an Kants Religionsschrift und als unmittelbare Anwendung, aber auch Erweiterung derselben zu betrachten, wie der etwas spätere, aber auf die Tübinger Freundschaftsinhalte bezogene Briefwechsel zwischen den drei Stiftkameraden bezeugt.
In den weiteren Abschnitten untersucht Hegel die verschiedenen Hauptmerkmale der Volksreligion im Einzelnen. In den Bögen i und k (103,27 bis 106,32) wird das Hauptmerkmal der Vernünftigkeit dargestellt, in dem Bogen k (107,1 bis 109,28) das der Sinnlichkeit und in dem Bogen l (109,29 bis 113,26) sowie in dem Abschnitt 114,1ff., der nicht eigentlich zum Bogen l gehört, aber eine Überarbeitung desselben enthält,[6] das der Natürlichkeit.
Bei der Darstellung der Vernünftigkeit und der Sinnlichkeit der Volksreligion kommt Hegel zu keinem neuen Ergebnis. Im Grunde genommen wiederholt er, was er schon in den entsprechenden Texten geschrieben hatte, und zwar bezieht er sich hinsichtlich des Hauptmerkmals der Vernünftigkeit vor allem auf den Begriff der Vernunftreligion, hinsichtlich des Hauptmerkmals der Sinnlichkeit dagegen auf die Auffassung der Religion als „Sache des Herzens“. In dieser Wiederaufnahme der schon vorher erreichten Ergebnisse, wenngleich in einer insgesamt neuen Gedankenkonstellation, wirkt wieder das Prinzip der „Aufhebung“, nach dem im Leben nichts verloren geht.
Ganz anders sieht es hinsichtlich des Hauptmerkmals der Natürlichkeit aus, von dem im Bogen l sowie in dessen Überarbeitung die Rede ist. Dieses Hauptmerkmal wirkt auf das praktische Leben der Menschen, also auf die Moralität ein. In dem Bogen l wird das Hauptmerkmal der Natürlichkeit der Volksreligion ausführlich und auf poetische Weise dargestellt: Hegel versucht, das Bild von einem natürlichen Leben des Menschen zu rekonstruieren, „das Bild eines Genius der Völker - eines Sohns des Glüks, der Freiheit, eines Zöglings der schönen Phantasie [...]“ (114,3). Diesem Bild des menschlichen Lebens, wie es sein sollte, stellt Hegel das Leben gegenüber, wie es in seiner Zeit tatsächlich war. Dieses andere Bild besitzt negative Merkmale (unfroh, unmutig usw.).[7] Der Gegensatz zwischen diesen beiden Bildern menschlicher Lebensmöglichkeiten hat auch einen historischen Bezug, wie immer bei Hegel: der Genius des frohen Lebens entspricht dem Leben der Griechen und der Genius des unfrohen Lebens nach Ansicht Hegels dem damaligen Leben in Deutschland. Hier erscheint das Vorbild des griechischen Lebens als eines schönen, frohen Lebens wieder, noch ausdrücklicher als es in dem Aufsatz vom 7. August 1788 der Fall war.
Hegel schildert also das Vorbild für das Leben, das von der Volksreligion befördert werden soll. Die Behandlung dieses Themas in dem Bogen l ist innerhalb der gesamten, systematischen Zusammenfassung eine Wiederaufnahme von schon erreichten und befestigten Überzeugungen, wie das auch bei den anderen Hauptmerkmalen der Fall ist. Ein Hinweis auf eine bevorstehende, speziell diesem Hauptmerkmal gewidmete Darstellung lässt sich aber in den überlieferten Texten nicht feststellen. Es gibt hier und dort Andeutungen, es fehlt aber eine spezielle Darstellung der Gründe für und gegen dieses Hauptmerkmal, wie diese für die anderen, religiösen Hauptmerkmale vorliegt. Das ist merkwürdig, da es sich dabei um das Hauptmerkmal handelt, das eigentlich wichtiger als alle anderen sein müßte, da die Moral Zweck der Religion ist und nicht umgekehrt. Es ist also zu schließen, dass, wenn sich Hegel so ausführlich mit der religiösen Problematik beschäftigt hat, er sich noch ausführlicher mit der moralischen Problematik beschäftigt haben müßte, die ihm besonders am Herzen lag.
Es entsteht also die Frage, in welchen Texten sich eine solche, di- rekte Beschäftigung Hegels mit der moralischen Problematik befindet, und vor allem, wann diese stattgefunden hat.
Auf die erste Frage kann es keine direkte Antwort geben, da es unter den überlieferten Texten aus der Tübinger Zeit keinen gibt, der eine solche, ausführliche Behandlung der moralischen Problematik enthält. Es lässt sich aber einen Hinweis gewinnen, wenn man die Stuttgarter Zeit unter die Lupe nimmt. Diese Zeit endet mit dem Verständnis der Natürlichkeit des Lebens der Griechen; und noch in den ersten Monaten der Tübinger Zeit beschäftigt sich Hegel mit diesem Gedanken (s. S.203- 204 dieser Studie). Hiermit wird also eine Verbindung zu dem Zeitpunkt in Hegels geistiger Entwicklung hergestellt, an dem die genetische Rekonstruktion auf Grund des Mangels an erhaltenen Schriften unterbrochen werden musste. Eine nähere, vertiefende Untersuchung dieses Hin- weises könnte sehr aufschlussreich in Bezug auf die Klärung der Frage hinsichtlich des Zeitraumes von Hegels direkter Beschäftigung mit der moralischen Problematik sein. Da aber diese Untersuchung die ersten Tübinger Jahre betrifft, die in der Sektion B dieses ersten Teils behandelt werden, wird auch diese Frage dort erörtert.
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1.3.3.2
ZWEITE STUFE
Untauglichkeit der christlichen
Religion als Vernunftreligion
Zeitlicher Rahmen: Winterhalbjahr 1794
Hauptquelle: Text 25
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Die Lektüre der Texte 17-26 zeigt, dass sich eine Veränderung in dem Blickwinkel ereignet hat, unter dem Hegel jetzt die Problematik der Volksreligion behandelt. Er beschäftigt sich nicht mehr mit der rein theoretischen Frage nach den Hauptmerkmalen der Volksreligion, sondern mit der praktischen Frage hinsichtlich der Stiftung einer solchen Religion. Man merkt also, dass er mit der Festsetzung des Begriffs ’Volksreligion’ fertig ist und sich nun der Verwirklichung derselben zuwendet.
Im Text 17 stellt er z.B. einen Vergleich zwischen Sokrates und Jesus an. Dabei sind nicht die Schlüsse, zu denen er kommt, wichtig, sondern die Tatsache, dass er das Bedürfnis fühlte, sich mit den Persönlichkeiten der größten ’Volkserzieher’ und ’Religionsstifter’ vertraut zu machen. Dies zeigt den Wandel von der reinen Theorie zur Praxis in Hegels damaligem Denken deutlich.
Der Text 18 ist ein kurzes Notizenblatt, das sich mit der Person Jesu als Religionsstifter weiter beschäftigt.
Im Text 19 geht es wieder um etwas Praktisches, und zwar um die äußere Organisation der Kirche.
Text 20 ist interessanter, weil sich darin schon einige Punkte von Hegels Kritik an dem Christentum als Ergebnis der in den vorigen Texten geführten Überlegungen andeuten, und zwar vor allem, dass diese Religion nur als Privatreligion, aber nicht als Volksreligion geeignet sei (vgl. die Textstelle 129,23 ff.).
Auch der Text 21 enthält eine scharfe Kritik der christlichen Religion, und zwar vor allem ihrer pessimistischen Anthropologie (vgl. die Textstelle 131,28 ff.), während im Text 22 diese Religion in einem Vergleich mit der Lebensweise der Griechen in Bezug auf die Einstellung zum Tode als Verlierer ausscheidet.
Alle diese einzelnen Kritikpunkte gegenüber der christlichen Religion finden sich in der Zusammenfassung wieder, die Hegel in den folgenden Texten 23-26 gibt.
Der Text 23 enthält dazu eigentlich nur einen Versuch. In diesem Text nimmt Hegel viele Begriffe, die zu seiner Hauptauffassung der Religion gehören, wie z.B. den Unterschied zwischen subjektiver und objektiver Religion, wieder auf. Dabei kommt er aber auch zu einem neuen interessanten Ergebnis, und zwar, dass der Staat die Aufgabe hat, die objektive Religion in eine subjektive umzuwandeln:
„Die objektive Religion subjektiv zu machen mus das grosse Geschäft des Staats seyn [...]“ (139,15-16).
Diesbezüglich fragt sich Hegel, ob die christliche Religion dazu geeignet ist,[8] und in dem Versuch, eine Antwort auf diese Frage zu finden, benutzt er Begriffe, die deutlich wieder auf Mendelssohns Jerusalem hinweisen.[9] Dabei handelt es sich um eine Überprüfung der christlichen Religion, die Hegel in Stichpunkten durchführt. Bei jedem Stichpunkt (z.B. ihrem geschichtlichen Fundament, oder der von ihr begründeten Lebensart) fällt Hegel ein kurzes, meistens negatives Urteil. In diesem Text kommt aber Hegel noch zu keiner endgültigen, gesamten Beurteilung der Tauglichkeit der christlichen Religion als Volksreligion. Dies findet in den etwas später entstandenen Texten 24-26 statt.
In dem Text 25 werden von Hegel die Ergebnisse seiner Überlegungen über das Christentum, die er auch im Text 24 führt, systematisiert und zusammengefasst. Aus diesem Grund kann dieser Text als Hegels ’Abrechnung’ mit dem Christentum gelten. Nachdem er die wichtigsten Gesichtspunkte aufgelistet hat,[10] unter denen eine Religion betrachtet werden kann, setzt sich Hegel in diesem Text mit der grundlegenden Frage auseinander:
„Welches sind die Erfordernisse einer Volksreligion in Ansehung dieser Gesichtspunkte - treffen wir sie bei der christlichen Religion an.“[11]
Hegel kommt zu dem Ergebnis, dass die christliche Religion keine Volksreligion sein kann. Grund dafür ist, dass sie bei der Aufgabe der Beförderung der Moralität in dem Menschen zum Scheitern verurteilt ist, da die Begründung des christlichen Glaubens auf Geschichte und nicht auf Vernunft beruht.[12]
Die christliche Religion ist also auf die äußere Autorität der historischen Überlieferung und nicht auf die innere Autorität der menschlichen Vernunft gegründet. Die Folge davon ist, dass Christus von den Menschen als Symbol der Tugend angesehen wird.[13] Diese Tugend aber den einzelnen Menschen allein durch den eigenen guten Willen nicht zugänglich ist.[14]
Darüber sagt Hegel explizit:
„Ach man hat uns überredet, dass diese Vermögen fremdartig, dass der Mensch nur in der Reihe der Naturwesen, und zwar verdorbener gehöre - man hat die Idee der Heiligkeit gänzlich isolirt, und allein einem fernem Wesen beigelegt sie mit der Einschränkung unter eine sinnliche Natur für unvereinbar gehalten.“ (GW 1, S. 160)
Und an der gleichen Stelle fügt er hinzu:
„Diese Erniedrigung der menschlichen Natur erlaubte es uns also nicht, in tugendhaften Menschen uns wieder zu erkennen.“
Als „Bild der Tugend“ braucht man nach der Lehre der christlichen Religion einen „Gottmenschen“, und das widersprach Hegels Ansicht, dass die Idee des moralischen Gesetzes „wir am Ende freilich aus uns selbst holen müssen“. (GW 1, S. 161)
Die Erniedrigung des Menschen ist also der Hauptgrund dafür, dass die christliche Religion die Moralität des Menschen nicht befördern kann, weil sie die Natur des Menschen nicht in ihrem positiven Wert anerkennt, sondern als etwas Verdorbenes betrachtet. Hegel konnte mit dieser Auffassung nicht einverstanden sein. Wenngleich er in einer Phase seiner Entwicklung, und zwar in dem Zeitraum Frühling 1793, unter dem Einfluss des ersten Teils von Kants Religionsschrift zu einem ähnlichen Gedanken gekommen war, hatte ihn die Rezeption der anderen Teile dieser Schrift und dann etwas später das Zurückkehren zu den alten, in der Zeit vor dieser Rezeption erarbeiteten Gedanken zu einer insgesamt weder optimistischen noch pessimistischen, sondern ausgeglichenen Anthropologie geführt. Nach dieser Menschenauffassung ist der Mensch von Natur aus weder gut noch böse; er schließt in sich beide Möglichkeiten ein, die des moralischen und die des unmoralischen Verhaltens. Dadurch wird auch die Aufgabe der Religion begründet, die darin besteht, die erste Möglichkeit zu befördern und die zweite zu unterdrücken. Deutlicher Beleg für diese ausgeglichene Anthropologie Hegels am Ende dieser Zeit ist der schon zitierte Satz „Der Mensch ist ein so vielseitiges Ding [...]“ vom Bogen h sowie die Auffassung einer „wohlgeordneten Sinnlichkeit“, die vor allem im Bogen l enthalten ist.
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3.3.3
DRITTE STUFE
Die Entstehung von Hegels Lebensprogramm der Stiftung
einer neuen Volksreligion als Vernunftreligion
Zeitlicher Rahmen: Winter 1794
Hauptquelle: Text 26
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Das Scheitern der christlichen Religion als Volksreligion bedeutete für Hegel gleichzeitig das Scheitern jedes historischen Glaubens bei dieser Aufgabe. Jeder historische Glaube - und nicht nur das Christentum - gründet sich auf Geschichte; deshalb, wenn das Christentum aus diesem Grund zur Volksreligion untauglich ist, ist es auch jeder andere historische Glaube.
Was man brauchte, war nach Hegels Meinung eine neue Volksreligion, die die von ihm festgelegten, unentbehrlichen Merkmale besaß und die dadurch den Menschen beibringen könnte, die Tugend in sich selbst und nicht in einem fremden, wenngleich göttlichen Wesen zu erkennen.
Die Zeit war nach seiner Überzeugung reif, um endlich die reine Tugend von der Person Jesu zu trennen und sie als etwas Menschliches, als „das Schöne der menschlichen Natur“ und nicht als etwas Göttliches zu verehren.
Diesen Gedanken spricht Hegel sehr deutlich aus im Text 26 „Jezt braucht die Menge...“, der nach dem Inhalt der letzte der zweiten Gruppe und deswegen dieses Stadiums seiner geistigen Entwicklung zu sein scheint:[15]
Die neue Volksreligion soll der Religion endlich eine „eigne wahre, selbständige Würde“ geben, wie es in dem letzten Satz dieses Textes heißt:
„Das System der Religion, das immer die Farbe der Zeit und der Staats- Verfassungen annahm, deren höchste Tugend Demuth, Bewußtsein seines Unvermögens, das alles anders woher - das Böse selbst zum Theil erwartet - wird izt eigne wahre, selbständige Würde erhalten -“
(GW I, S. 164,20-24).
Damit fügt Hegel seinem Begriff von der Volksreligion ein weiteres Merkmal hinzu, und zwar das von deren ’Absolutheit’. Da die neue Volksreligion nicht mehr „die Farbe der Zeit und der Staatsverfassungen“ annehmen darf, kann man schließen, dass ihre Begründung nach Hegel unabhängig von der Geschichte sein muss. Darin besteht schließlich ihre „eigne wahre, selbständige Würde“. Hier ist also schon Hegels Neigung zu einer letztbegründeten Auffassung des Absoluten erkennbar, die dann in der Wissenschaft der Logik den vollständigsten Ausdruck bekommen hat. In der Tat sind die oben zitierten Sätze aus Text 26 nicht nur in ihrem gedanklichen Inhalt, sondern auch in ihren zeitlichen Bezügen so explizit („Das System der Religion [...] wird izt eigne [...] Würde erhalten“; „[...] wenn nach Jahrhunderten die Menschheit wieder Ideen fähig wird...“), dass man dahinter eine bewusste Absicht, ein Lebensprogramm erkennen kann, und zwar das Programm von der Gründung einer neuen, vernünftigen, sinnlichen, natürlichen und absoluten Volksreligion, die geeignet ist, die Moralität in dem Menschen zu befördern. Diese Absicht darf wohl als Ergebnis der ersten Periode von Hegels Jugendentwicklung (1785-1794) und als sein festes, philosophisches Lebensprogramm betrachtet werden.
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[1] Ein Zeichen dafür, dass der Tübinger Hegel die in den Stuttgarter Jahren erworbenen Begriffe vom Gebiet der Wissenschaft und der Künste auf das Gebiet der Moral anwendet, ist das Wiederkehren des Begriffs ’Erfolg’ in den entsprechenden Schriften. In dem Exzerpt aus Nicolai vom 16.8.1787 handelt es sich um den Erfolg der Aufklärung ("[...] sonst wird der Erfolg schlecht seyn" GW 1, S.177), im Aufsatz über einige charakteristische Unterschiede vom 7. August 1788 um den Erfolg der Dichtkunst (hier ist die Rede von dem "ausgebreiteten Wirkungskreis" der alten Dichter GW 1, S. 46,4) und schließlich in den Texten der Jahre 1792/93-94 um den Erfolg der Religion bei dem Volk ("Wenn Religion soll aufs Volk wirken können..." im Text 16, S. 110).
[2] Die Religion nach Hegels Auffassung "[...] verbreitet sich auf alle Zweige der menschlichen Neigungen (ohne daß die Seele gerade es sich bewust ist), und wirkt überall - aber nur mittelbar mit - [...]" (GW 1, S. 90,13-15).
[3] Zu diesem Merkmal fügt Hegel hinzu, dass die Religion außerdem "einfach" (S. 104) und "menschlich" (S. 104-106) sein muss.
[4] "Jede Religion, die eine VolksReligion seyn soll, mus nothwendig so beschaffen seyn, daß sie Herz und Phantasie beschäftigt - Auch die reinste VernunftReligion wird in den Seelen der Menschen - noch mehr des Volks verkörpert und es wäre wohl gut, um abentheuerliche Ausschweifungen der Phantasie zu verhüten, schon mit der Religion selbst Mythen zu verbinden, um der Phantasie wenigstens einen schönen Weg zu zeigen, den sie sich dann mit Blumen bestreuen kann -" (S. 107)
[5] In der folgenden Auflistung der Hauptmerkmale der Volksreligion werden wir der Auflistung Hegels auf Seite 103 des genannten Textes der Reihe nach folgen.
[6] Dieser Bogen wurde von Hegel mehrfach überarbeitet (vgl. GW 1, Editorischer Bericht, S. 473).
[7] "Einen anderen Genius der Nationen hat das Abendland ausgehekt - [...]" (S.113,1 ff.)
[8] "in wiefern qualificirt sich die christliche Religion dazu [...]" (139,24).
[9] Vgl. die Textstelle 139,25 ff.
[10] "Eine Religion kann betrachtet werden
a) in Ansehung ihrer Lehren
b) ihrer Traditionen -
c) ihrer Ceremonien -
d) ihres Verhältnisses zum Staat oder als öffentliche Religion - Anstalten" (GW 1, S.154-155). Diese Auflistung entspricht der Auflistung, die den Begriff der Volksreligion betrifft und die sich im Text 16 auf Seite 103 von GW 1 befindet.
[11] GW 1, S. 155. In GW 1 fehlt das Fragezeichen am Ende des Satzes, das aber in der Suhrkamp Ausgabe (Bd. 1, S. 89) steht. Dass es sich um eine Frage handelt, ist aber aus der Art der Satzbildung sowie aus der Fortsetzung des Fragments, die eine Antwort zu dieser Frage ist, zu entnehmen.
[12] "Der Glauben an Christum als an eine historische Person, ist nicht ein Glauben in einem praktischen Vernunftbedürfnis gegründet, sondern ein Glauben, der auf Zeugnisse anderer beruht" (GW 1, S. 157). Dieser Gedanke befindet sich schon im Text 24 (vgl. die Textstelle 151,1 ff.)
[13] „Der Glauben an Christum ist der Glauben an ein personificiertes Ideal" (GW 1, S. 160).
[14] In Bezug auf diese Auffassung ist der Einfluss von Lessings Nathan nachweislich wieder entscheidend gewesen (vgl. GW 1, Editorischer Bericht, S. 574, Anm. zu 152,11-12; eine weitere Textstelle, in der sich dieser Einfluss deutlich zeigt, ist 161,24-26: "Durch welche Veranstaltungen es aber zu stande gebracht werden könne, daß in Christo nicht der Mensch nur, nicht sein Name nur, sondern die Tugend selbst erkannt und geliebt werde [...]").
[15] Dieser Text ist nach den Herausgebern vermutlich "in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zu den Texten 24 und 25" also im Jahre 1794 von Hegel niedergeschrieben worden (s. GW 1, S. 482).
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