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2016
(Mai)
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DIE PHILOSOPHIE DES ABSOLUTEN UND DIALEKTISCHEN IDEALISMUS
ALS PHILOSOPHIE DER LIEBE
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Kongressvortrag
(Hegelkongress 2016, Bochum)
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Audiodatei: hier
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Papiertext: nein
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Digitaler Text: ja, unten
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Die Philosophie Hegels und des absoluten Idealismus im Allgemeinen ist nichts anderes als eine Begründung, genauer gesagt, eine Letztbegründung der Liebe. Dabei wird hier unter dem Begriff Liebe sowohl die zwischenmenschliche Anerkennung, was als Menschenliebe bezeichnet wird und Kant im zweiten kategorischen Imperativ philosophisch perfekt definiert hat, als auch die Liebe zwischen Mann und Frau sowie zwischen Eltern und Kindern, die dann den Begriff der Familie bildet, verstanden.
Hegel hat die christliche Theologie in der Begründung der Botschaft der Liebe durch Jesus mit einer neuen, völlig logischen ersetzt und damit sein Lebensideal verwirklicht.
Dieses Lebensideal entstand in seinen Tübinger Jugendjahren und ist durch die vielen Fragmente sowie Studien belegt, die uns aus diesen ganz wichtigen Jahren seiner Denkentwicklung erhalten geblieben sind. Hegel ist sein ganzes Leben lang diesem Ideal treu geblieben.
1795 in der Schrift Das Leben Jesu sowie in diesbezüglichen Einzelfragmenten verstand der junge Denker, dass die Botschaft der Liebe der einzig wahre Inhalt des Christentums ist, und begann der Meinung zu sein, dass diese Botschaft gegenüber der atheistischen Kritik, die im Stift weit verbreitet war (Diez, Schelling usw.), gerettet werden musste. Hegel nahm also eine Position zwischen den Stiftlern, die, Storr und Flatt folgend, die Argumentationen der evangelischen Theologie gegen Kants und Reinholds Religionskritik gelten lassen wollten, und den Stiftlern, die aus dieser Religionskritik im Gegenteil atheistische Schlussfolgerungen zogen, ein.
Noch Ende Januar 1795 gestand der junge Philosoph in seinem Brief an den Freund Schelling implizite ein, dass er doch Schwierigkeiten hatte, auf den persönlichen Gott zu verzichten:
„Einen Ausdruck in Deinem Briefe von dem moralischen Beweise verstehe ich nicht ganz: ‚den die so zu handhaben wissen, daß das individuelle, persönliche Wesen herausspringe‘. Glaubst Du, wir reichen eigentlich nicht so weit?“
(In: Briefe von und an Hegel, hrsg. von J. Hoffmeister, Hamburg 1952, Bd. 1. S. 18).
In der Weiterentwicklung seines Denkens verstand er aber, dass der persönliche Gott nicht zu begründen sei, jedoch die Botschaft der Liebe. Hegels Entwicklung ab etwa 1795-96 bestand in der Tat in dem Aufbau einer logischen Struktur, die imstande sei, Jesus Botschaft der Liebe definitiv zu begründen, d.h. auf einer Weise, die wir heutzutage als letztbegründet bezeichnet könnten.
Die Fragmente über die Liebe aus den Jahren 1797-99 belegen genau Hegels Ansinnen in dieser Zeit. In diesen Fragmenten haben wir den Ursprung der Dialektik, die Hegel dann im sogenannten Systemfragment von 1800, das heute als Fragment Absolute Entgegensetzung im Band 2 der Gesammelten Werke veröffentlicht ist, als Abschluss der Überlegungen dieser ganz wichtigen Frankfurter Zeit seiner Entwicklung als „Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung“ definiert (GW 2, Hamburg 2014, S. 344).
Diese Definition bildete ab diesem Zeitpunkt die Grundstruktur von Hegels Dialektik, insbesondere des dritten Moments der dialektischen Triade, die Hegel als Negation der Negation in der Wissenschaft der Logik bezeichnet. Die Negation der Negation ist der reife Ausdruck für die „Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung“ aus der Frankfurter Zeit.
Nachdem er in den letzten drei Jahren des achtzehnten Jahrhunderts die logische Struktur für die Begründung der Liebe gefunden hatte, erarbeitete Hegel in den darauffolgenden Jahren das philosophische System, in dem diese Begründung logisch-systematisch dargestellt wurde.
So entstand in den Jenaer Jahren sein System der Philosophie, dessen zentraler Teil die Theorie der absoluten Sittlichkeit ist. Diese Theorie wurde von ihm zum ersten Mal in den Jahren 1802-03 in den folgenden Schriften formuliert:
- Ueber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältniß zu den positiven Rechtswissenschaften (1802/03, in GW 4, S. 417 ff.)
- System der Sittlichkeit. Reinschriftentwurf (1802/03, in GW 5, S. 277 ff.).
In der zweiten Hälfte der Jenaer Periode (1804/06) fand diese Theorie ihren systematischen und definitiven Platz als Philosophie des objektiven Geistes in der Geistesphilosophie. Auch in allen künftigen, veröffentlichten sowie nicht-veröffentlichten Fassungen des Systems wird dann Hegels Theorie der Sittlichkeit hier den Platz finden.
Der Hauptgedanke davon ist, dass in der absoluten Sittlichkeit das Handeln des Individuums und das Handeln des Absoluten zusammenfallen, da das sittliche (ethische) Individuum so handelt, wie das Absolute selbst handeln würde, d.h. nach allgemeingeltenden und nicht nach empirischen Gründen. Das Individuum, das für die Familie (Wert der Liebe), für die bürgerliche Gesellschaft (Wert der Arbeit) und für den Staat (Wert der Heimat bzw. der Menschheit) lebt, ist nichts anderes als das Absolute, ist Gott selbst, um die alte Sprache der Religion, die nun Hegel definitiv überwunden hat, zu benutzen.
Dieser wichtige Begriff wird von Hegel im Reinschriftentwurf System der Sittlichkeit sehr treffend ausgedruckt:
“Die Sittlichkeit muß mit völliger Vernichtung der Besonderheit und der relativen Identität, deren das Naturverhältniß allein fähig, absolute Identität der Intelligenz seyn; oder die absolute Identität der Natur muß in die Einheit des absoluten Begriffs aufgenommen, und in der Form dieser Einheit vorhanden seyn; Ein klares, und zugleich absolut klares Wesen; Ein vollkommenes sich Objektivseyn und Anschauen des Individuums in dem Fremden; also die Aufhebung der natürlichen Bestimmtheit und Gestaltung, völlige Indifferenz des Selbstgenusses; auf diese Weise ist der unendliche Begriff allein schlechthin Eins mit dem Wesen des Individuums, und dasselbe in seiner Form als wahre Intelligenz vorhanden; es ist wahrhaft unendlich, denn alle seine Bestimmtheit ist vernichtet; […] die Augen des Geistes und die leiblichen Augen fallen vollkommen zusammen; der Natur nach sieht der Mann Fleisch von seinem Fleisch im Weibe, der Sittlichkeit nach allein Geist von seinem Geist in dem sittlichen Wesen, und durch dasselbe“.
Einige Zeile weiter dann setzt er so fort:
„In der Sittlichkeit ist also das Individuum auf eine ewige Weise; sein empirisches Seyn und Thun ist ein schlechthin allgemeines; denn es ist nicht das individuelle, welches handelt, sondern der allgemeine absolute Geist in ihm“.
(In: GW 5, S. 324-325).
Dieser Gedanke findet seinen Ausdruck im definitiven System der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften von 1830 im § 436 über das allgemeine Selbstbewusstsein:
„γ) Das allgemeine Selbstbewußtseyn
§ 436. Das allgemeine Selbstbewußtseyn ist das affirmative Wissen seiner selbst im anderen Selbst, deren jedes als freie Einzelheit absolute Selbständigkeit hat, aber, vermöge der Negation seiner Unmittelbarkeit oder Begierde, sich nicht vom anderen unterscheidet, allgemeines und objektiv ist und die reelle Allgemeinheit als Gegenseitigkeit so hat, als es im freien Andern sich anerkannt weiß und diß weiß, in sofern es das andere anerkennt und es frei weiß.
Diß allgemeine Widererscheinen des Selbstbewußtseyns, der Begriff, der sich in seiner Objektivität als mit sich identische Subjektivität und darum allgemein weiß, ist die Form des Bewußtseyns der Substanz jeder wesentlichen Geistigkeit, der Familie, des Vaterlandes, des Staats; sowie aller Tugenden, der Liebe, Freundschaft, Tapferkeit, der Ehre, des Ruhms“.
(In: G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), GW 20, Hamburg 1992, S. 432-433).
Dieser Paragraph ist in Hegels System enorm wichtig, da er die Grundlage der Anerkennung darstellt und somit der Ethik und der Sittlichkeit, die ohne Anerkennung gar keine Existenz haben könnten. Die Gestalten der Sittlichkeit (Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat) setzen diese Anerkennung voraus.
Die zwischenmenschliche Anerkennung bzw. das anerkennende Selbstbewusstsein ist nichts anderes als der philosophische Ausdruck für die Liebe! Die Anerkennung ist auf Vernunftebene was die Liebe auf Gefühlsebene ist.
Die weitere Frage, die zu lösen ist, ist wie Hegel die zwischenmenschliche Anerkennung auf eine letztbegründete Weise begründet.
Eine solche Begründung kann nicht mehr über die existierende (in Hegels damaliger Sprache: positive) Religion erfolgen, wie es in der Zeit vor Kant war. Davon zeigt sich Hegel schon am Ende der Jenaer Zeit völlig bewusst. Allein die Philosophie kann eine Begründung der Sittlichkeit liefern, die vernünftig argumentiert wird und deshalb letztbegründet ist.
Die definitive Überwindung Hegels der Religion als Stütze der Sittlichkeit und deren Ersetzung durch die Philosophie wird von seinem ersten Biographen Karl Rosenkranz ausführlich dokumentiert.
Schauen wir zunächst auf die einleitenden Worte von Rosenkranz:
„Obwohl nun Hegel damals, wie aus den vorstehenden Mittheilungen zur Genüge hervorgeht, den Protestantismus für eine eben so endliche Form des Christenthums hielt, als den Katholizismus, so ging er deswegen doch nicht, wie Viele seiner Zeitgenossen, zum Katholicismus über, sondern glaubte, daß aus dem Christenthum durch die Vermittelung der Philosophie eine dritte Form der Religion sich hervorbilden werde. Er sagte in dieser Hinsicht“ (Nun folgen Hegels Worte, die Rosenkranz aus dem verschollenen Manuskript textgetreu zitiert):
“(…) Nachdem nun der Protestantismus die fremde Weihe ausgezogen, kann der Geist sich als Geist in eigener Gestalt zu heiligen und die ursprüngliche Versöhnung mit sich in einer neuen Religion herzustellen wagen, in welche der unendliche Schmerz und die ganze Sphäre seines Gegensatzes aufgenommen, aber ungetrübt und rein sich auflöst, wenn es nämlich ein freies Volk geben und die Vernunft ihre Realität als einen sittlichen Geist wiedergeboren haben wird, der die Kühnheit haben kann, auf eigenem Boden und aus eigener Majestät sich seine reine Gestalt zu nehmen. – Jeder Einzelne ist ein blindes Glied in der Kette der absoluten Nothwendigkeit, an der sich die Welt fortbildet. Jeder Einzelne kann sich zur Herrschaft über eine größere Länge dieser Kette allein erheben, wenn er erkennt, wohin die große Nothwendigkeit will und aus dieser Erkenntniß die Zauberworte aussprechen lernt, die ihre Gestalt hervorrufen. Diese Erkenntniß, die ganze Energie des Leidens und des Gegensatzes, der ein paar tausend Jahre die Welt und alle Formen ihrer Ausbildung beherrscht hat, zugleich in sich zu schließen und sich über ihn zu erheben, diese Erkenntniß vermag nur Philosophie zu geben“.
(In: K. Rosenkranz, Hegels Leben (or. 1844), Darmstadt 1977, S. 140-141; heute teilweise auch im GW 5, Über Naturrecht, S. 459 ff.).
Im reifen System befindet sich die Letztbegründung der Sittlichkeit in der Wissenschaft der Logik und insbesondere in der Lehre vom Sein. Darin vertieft Hegel unter anderen die Kategorien der Endlichkeit und der Unendlichkeit. Diese zwei Kategorien unterscheiden grundlegend das Leben des Menschen als Objekt bzw. als Subjekt. Wenn der Mensch nach der Kategorie der Endlichkeit bzw. der falschen Unendlichkeit lebt, ist er als Objekt bestimmt, da er ständig auf der Suche nach der Befriedigung von Bedürfnissen und Wünschen ist und deshalb nie frei lebt, sondern von seinem Körper bestimmt wird. Wenn er im Gegenteil nach der Kategorie der wahren Unendlichkeit lebt, dann schöpft der Mensch sein Leben, er lebt kreativ, er erarbeitet einen Lebenssinn und verwirklicht ihn in der Zeit seines Lebens. Das macht ihn glücklich, selbstverwirklicht, erfüllt.
Selbstverständlich werden im Kontext dieser Selbstverwirklichung auch die lebensnotwendigen Bedürfnisse und Wünsche befriedigt, aber nicht auf eine materielle, immer wiederkehrende Weise, sondern auf eine spirituelle, vom Menschen selbstbestimmte Weise. Unter der Kategorie der falschen Unendlichkeit ist der Körper, der den Geist dominiert, während unter der Kategorie der wahren Unendlichkeit der Geist den Körper beherrscht.
Die Voraussetzung für die Aktivierung der Kategorie der wahren Unendlichkeit ist die zwischenmenschliche, gegenseitige Anerkennung. Wenn das Subjekt nicht als solches anerkannt wird, als Mann, Frau, Arbeitsleistender usw. kann er auch nicht kreativ und geistig tätig werden, da er keinen Sinn bekommt, der über die vorübergehende Befriedigung der Bedürfnisse hinaus geht.
Auf Grund der Tatsache, dass die Anerkennung die Voraussetzung für die Aktivierung der Kategorie der wahren Unendlichkeit und deshalb für die Selbstverwirklichung jeden Menschen ist, sind die Menschen im Allgemeinen bereit, die anderen Menschen anzuerkennen genauso wie sie anerkannt werden möchten.
Die Begegnung unter Menschen erfolgt also unter einem guten Stern, vor allem wenn sie davon bewusst sind und ihr eigenes Glück nicht in der vorübergehenden Befriedigung der Bedürfnisse, sondern in der langfristigen, schöpferischen Verwirklichung ihrer Geistigkeit suchen.
Diese prinzipielle Bereitschaft zur Anerkennung ist die Liebe für die Mitmenschen, die Hegel zur Grundlage seiner Philosophie gemacht hat. Natürlich ist nicht gesagt, dass die gegenseitige Anerkennung immer erfolgreich verläuft! Es kann durchaus sein, dass keine Anerkennung stattfindet und die zwei Menschen, die versucht haben, in eine Beziehung zu treten, wieder auseinandergehen. Die Anerkennung kann auch ein Kampf sein, wie Hegel selbst ausführlich dargelegt hat. Ob der Kampf wesentlich zum Begriff der Anerkennung gehört, dazu wären weitere Überlegungen notwendig. Die Anerkennung kann, muss aber nicht unbedingt ein Kampf sein, sie kann und sollte eigentlich auch friedlich erfolgen können.
Also Liebe als Grundlage der Philosophie des absoluten Idealismus bedeutet nicht, dass alles unproblematisch läuft und immer Frieden herrscht. Es bedeutet nur, dass nicht nur der Wunsch, anerkannt zu werden, sondern auch die Bereitschaft, die anderen anzuerkennen, im Menschen vorhanden ist bzw. sein kann. Diese Öffnung der Menschen zueinander ermöglicht die Ethik, die Sittlichkeit und letztendlich die Bildung der Gesellschaft. In diesem Sinne ist sie also im Grunde genommen Liebe.
Der letzte Begriff, der in diesem Bezug behandelt werden soll, da er eine wichtige Rolle in der Gedankenkette der Hauptthesen dieses Aufsatzes einnimmt, ist die Antwort auf die Frage, wie wir diese Öffnung in den Menschen befördern können. Es geht also vornehmlich um die Frage, wie die Menschen so gebildet werden können, dass sie den anderen Menschen gegenüber offen sind und dadurch bereit sind, sie anzuerkennen.
Diese Frage ist ganz wichtig und bildet eigentlich die Hauptfrage, worüber sich nicht nur der junge Hegel sondern die meisten Gelehrten in der Zeit unmittelbar nach der Veröffentlichung von Kants Religionsschrift 1792/93 beschäftigten.
Kant hatte bewiesen, dass die christliche Religion nicht mehr die Aufgabe der Beförderung der Liebe übernehmen kann, da sie schlichtweg unbegründet ist. Die Kritik der reinen Vernunft führt unausweichlich zu diesem Ergebnis. Es wird aber nicht nur Kant, sondern im Allgemeinen der deutschen damaligen Kultur, insbesondere denjenigen, die sich mit der Frage der Begründung der Ethik beschäftigten, sofort klar, dass dieser Schluss ein sehr problematischer und auch für die Gesellschaft gefährlicher ist.
Der Mensch braucht eine Religion, eine Lehre, eine Erziehung, die die Öffnung zur Anerkennung befördert und ihn zum guten Menschen macht. Die Theorie Rousseaus, dass der Mensch von Natur aus gut sei, wird von Kant abgewiesen. Es gibt im Menschen die Anlage zum guten Handeln wie aber auch die Anlage zum Bösen, wie er in seiner Religionsschrift eindeutig erklärt und ausführlich begründet. Man braucht also eine Theorie, eine Erziehung, die die Anlage zum Guten gegenüber der Anlage zum Bösen geltend machen lässt.
Schon 1788 hatte Kant verstanden, dass Beweggründe und Triebfedern notwendig sind, um den Menschen zur Einhaltung der Maxime der praktischen Vernunft zu bewegen. Dieses Thema behandelt der Königsberger Philosoph im 3. Hauptstück der Analytik der reinen praktischen Vernunft, der den eindeutigen Titel Von den Triebfeder der reinen praktischen Vernunft trägt. Somit hatte Kant den Anstoß zur Aufwertung der Psychologie als unentbehrliches philosophisches Fach gegeben, die bei einigen Studenten des Stifts auf reges Interesse stieß (z.B. Mauchart).
In den folgenden Jahren kam Kant zu dem Schluss, dass die Vernunftreligion die wichtigste Triebfeder zu Beförderung der Vernunftethik ist. Dieser Gedanke lag seiner bekannten Schrift von 1792/93 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft zugrunde.
Kants Meinung nach hat die Vernunftreligion die Aufgabe, die Gemeinschaft der moralischen Menschen als unsichtbare Kirche zusammenzuhalten. Natürlich kann eine solche Religion nicht von heute auf morgen entstehen, sie wird eher das Ergebnis einer progressiven Selbstbereinigung der positiven Religionen (Glaubensformen) sein, die immer weniger an ihre abergläubischen Vorstellungen halten und sich immer mehr als ‚reine Vernunftreligion‘ entwickeln werden. Diese ist die Perspektive, die Vater Kant, wie die Stiftler ihn nannten, in seiner Religionsschrift anbot.
Hegel hat sich in seinen damaligen Schriften sehr intensiv mit dieser Problematik beschäftigt und eine Antwort gefunden, die sich eindeutig an Kants Triebfederntheorie anlegt. Der Tübinger bzw. Berner Hegel ist aber nur teilweise mit Kant einverstanden. Er denkt, dass es ebenso eine Vernunftreligion nötig ist, wie Vater Kant gelehrt hat. Diese Vernunftreligion soll jedoch gestiftet werden, denn sie wird so nicht automatisch und spontan aus dem immanenten Reinigungsprozess der historischen, positiven Religionen herauskommen.
Die Stiftung einer solchen neuen Volks- und Vernunftreligion bildet Hegels Jugendideal und sein philosophisches Lebensprogramm. Dieses Unternehmen gelang ihm schließlich nach mehr als zehn Jahren sehr intensiver Forschung mit seinem ersten System, das er am Ende der Jenaer Zeit in den Jahren 1804-1806 erarbeitete.
Die neue Religion, die er damit stiftete, ist eine Vernunftreligion, wie Vater Kant sie gelehrt hatte, ist aber am Ende keine Religion mehr, sondern ein philosophisches System, seine eigene Philosophie. Die Philosophie soll in der Tat die Aufgabe der Religion übernehmen, die Öffnung zur Anerkennung in den Menschen zu befördern und somit die unentbehrliche Grundlage für eine ethische Gesellschaft legen.
Davon zeigt sich der Stuttgarter Philosoph in dem schon zitierten, von Karl Rosenkranz überlieferten Manuskript Fortsetzung des Systems der Sittlichkeit völlig überzeugt.
Aber auch der Enzyklopädie von 1830, also seinem ausgereiften System, liegt doch, obwohl inzwischen etwas verblasst, diese Idee zugrunde, dass Philosophie und Vernunftreligion am Ende zusammenfallen, wie es zu Beginn der Philosophie des absoluten Geistes im § 554 eindeutig zu lesen ist:
„Die Religion, wie diese höchste Sphäre im Allgemeinen bezeichnet werden kann, […]“.
Hegels Hauptthese ist also klar: Die Philosophie des absoluten Idealismus soll die Rolle der Religion, insbesondere der christlichen Religion in der Begründung der Liebe unter den Menschen übernehmen. Damit wirkt sie als Religion, genauer gesagt, als Vernunftreligion und übernimmt die geistige Führung der Menschheit und die Begründung der Sittlichkeit in dem postmonotheistischen Zeitalter.
Diese Hauptthese konnte der Philosoph damals nicht explizite und eindeutig aussprechen, weil er in Institutionen wirkte, die noch von der christlichen Theologie geprägt waren, aber ist in seinen frühen wie auch späten Werken überall präsent, obwohl manchmal versteckt. Sie ist aber zwischen den Zeilen eindeutig zu lesen, vor allem wenn man Hegels ganze Entwicklung in Betracht zieht, weil dann sich Jahr nach Jahr rekonstruieren lässt, wie er sein Jugendideal als wissenschaftliches System der Philosophie verwirklicht. In dem Brief an Schelling von 2. November 1800 zeigt er, davon völlig bewusst zu sein:
„In meiner wissenschaftlichen Bildung, die von untergeordnetern Bedürfnissen der Menschen anfing, mußte ich zur Wissenschaft vorgetrieben werden, und das Ideal des Jünglingsalters mußte sich zur Reflexionsform, in ein System zugleich verwandeln; ich frage mich jetzt, während ich noch damit beschäftigt bin, welche Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen zu finden ist“.
(In: Briefe von und an Hegel, hrsg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1952, S. 58-59).
Da es sich dabei um eine philosophische Begründung, also um eine Letztbegründung handelt, eröffnet Hegels Philosophie eine neue Epoche, ein neues Zeitalter: das Zeitalter der Philosophie als Stütze des Staates. Nach dem Zeitalter des Polytheismus und dem des Monotheismus ist das dritte Zeitalter der Geschichte der Menschheit das des Idealismus, und zwar deswegen, weil Idealismus und Philosophie, wie Hegel in seiner Wissenschaft der Logik streng und überzeugend argumentiert hat, dasselbe sind:
“Der Satz, daß das Endliche ideell ist, macht den Idealismus aus. Der Idealismus der Philosophie besteht in nichts anderem als darin, das Endliche nicht als ein wahrhaft Seiendes anzuerkennen. Jede Philosophie ist wesentlich Idealismus oder hat denselben wenigstens zu ihrem Prinzip, und die Frage ist dann nur, inwiefern dasselbe wirklich durchgeführt ist. […] Der Gegensatz von idealistischer und realistischer Philosophie ist daher ohne Bedeutung. Eine Philosophie, welche dem endlichen Dasein als solchem wahrhaftes, letztes, absolutes Sein zuschriebe, verdiente den Namen Philosophie nicht”.
(G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik, in: Gesammelte Werke, Hamburg 1985, Bd. 21, S. 142).
Der Idealismus ist also keine Strömung der Philosophie, sondern die Philosophie überhaupt!
In dem außerordentlich wichtigen Schriftstück zur Fortsetzung und Vollendung des Systems der Sittlichkeit, das uns Rosenkranz zum Glück überliefert hat, ist die Reihenfolge Polytheismus-Monotheismus-Idealismus ausreichend dokumentiert und über Hegels wahre Absichten sehr Aufschluss gebend.
Unsere heutige Aufgabe als Philosophen soll in erster Linie darin bestehen, diese Botschaft Hegels erstens zu verstehen, dann in zweiter Linie sie zu verbreiten und somit die logisch-philosophischen Voraussetzungen für die Gesellschaft der Zukunft zu schaffen. Es soll eine Gesellschaft sein, in der sich die Menschen gegenseitig zur Anerkennung öffnen und in diesem Sinne sich gegenseitig philosophisch, also vernünftig lieben.
Natürlich werden dazu Schritte notwendig sein, die nicht rein theoretischer, sondern eher praktischer Natur sind. Die Philosophie soll in das Staatsleben mit Entschlossenheit eingreifen, sie hat dazu nicht nur das Recht, da sie eben die Begründung des Staates im Zeitalter des Idealismus darstellt, sondern sogar dazu die höchste Pflicht. In der Tat, wenn sie dieser Verpflichtung nicht nachkommt, bleiben die Grundwerte des idealistischen bzw. philosophischen Staates, also Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit usw. ohne Begründung, ohne Schutz, ohne Stütze und sind stark von antidemokratischen, antifreiheitlichen Kräften anfechtbar. Aus diesem Grund sollen die Philosophen Zivilcourage zeigen und die Begründung des Staates übernehmen, d.h. diese auf keinster Weise in den Händen der politischen Parteien und der wirtschaftlichen Machtgruppierungen überlassen.
Wie dies zu realisieren ist, gehört nicht zum Thema von diesem Aufsatz, ist jedoch Gegenstand einer aktuellen Studie des Autors, da es sich um ein nicht mehr aufschiebbares Desiderat der philosophischen Forschung handelt.
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