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ERSTES STADIUM
(1803/04)
Entstehung des philosophischen Systems Hegels
als ‚System der spekulativen Philosophie‘
Hauptquelle: Systementwurf I
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Hegel ist in seiner immanenten Gedankenentwicklung gegen Mitte 1803 zur Überzeugung gelangt, dass es notwendig sei, für die Begründung einer absoluten Religion, die wiederum die Basis für die absolute Sittlichkeit darstellen soll, das Absolute in Gedanken zu erfassen. Durch die neue Struktur seines Denkens, die nicht mehr religiös und auf Vorstellungen basierte ist wie noch 1799-1800 in den Texten 63 und 64, sondern eindeutig schon philosophisch und begrifflich, typisch für die damalige idealistische Philosophie und insbesondere für seinen Universitätskollegen Schelling, kann er nun ein solches Vorhaben realisieren.
Der erste Schritt Hegels in Richtung einer Ausarbeitung der Philosophie als absoluter Religion besteht nämlich in der Überwindung der noch immer Schellingschen Position der Philosophie der Identität, von der aus Hegel von 1801 bis zu diesem Moment das Problem der Erkenntnis des Absoluten betrachtet hatte. Tatsächlich zeigen seine Jenenser Schriften bis ca. 1803 die für die Philosophie Schellings charakteristische logische Grundstruktur. Diese Philosophie besagt, dass das Absolute die Identität von Subjekt-Objekt ist, die sich in subjektives und objektives Subjekt-Objekt aufspaltet. Die erste Form der Identität bringt die Philosophie der Intelligenz hervor, während die zweite die Naturphilosophie begründet. Vom Absoluten an-sich, also nicht in seinen besonderen Manifestationen, gibt es laut Schelling nur Intuition, aber kein Wissen. Diese Intuition findet ganz besonders in der Kunst statt, einem Phänomen, bei dem der Mensch die Einheit zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen Unbewusstem und Bewusstem erlebt, d.h. er gelangt an den Punkt der Indifferenz, der das perfekte Gleichgewicht zwischen subjektivem und objektivem Aspekt der Realität kennzeichnet, aus dem eben das Absolute besteht.
Diese Schellingsche Auffassung kann von Hegel gegen die zweite Hälfte des Jahres 1803 nicht mehr akzeptiert werden, weil die Schlussfolgerungen, zu denen er in den Jahren 1802/03 insbesondere durch die Theorie der absoluten Sittlichkeit gelangt ist, dazu in Widerspruch stehen. Die absolute Sittlichkeit setzt nämlich eine Übereinstimmung zwischen individuellem und universalem Handeln voraus, und das bedeutet, dass das Absolute sich im menschlichen Leben nicht nur als intuitiver, ästhetischer Faktor, in der Ekstase der Schöpfung oder im künstlerischen Genuss, sondern als begrifflicher Faktor im Wissen manifestiert, d.h. in der Aktivität, an der prinzipiell jeder Mensch teilhaben kann, vorausgesetzt, er sei dazu bereit, die „Anstrengung des Begriffs“ an sich zu nehmen, wie der Philosoph sich in der späteren "Phänomenologie des Geistes" treffend ausdrückt (GW9, 41,24-25).
Falls es nämlich nicht so wäre, d.h. wenn die Offenbarung des Absoluten nur in der künstlerischen Erfahrung geschehen würde, so bliebe sie ein Privileg weniger Auserwählter und der überwiegenden Mehrheit der Menschheit verwehrt. Der ästhetische Moment der Schöpfung und des künstlerischen Genusses liegt nämlich außerhalb der Logik, außerhalb des individuellen Bewusstseins. Er ist nicht von einem Willensakt und daher von einem Akt der Freiheit abhängig, an dem jeder Mensch teilhaben kann, unabhängig von Rasse, Nationalität, sozialem Status, usw. Wenn also die Offenbarung des Absoluten, also des Universalen, im Menschen, im Individuum, wirklich am Punkt der Indifferenz zwischen Bewusstem und Unbewusstem, Natur und Geist, stattfindet, in der Nacht, in der „alle Kühe schwarz sind“, um einen weiteren berühmten Ausdruck Hegels zu diesem Thema zu verwenden (GW9, 17,27-29), dann bliebe die Übereinstimmung zwischen individuellem und universalem Handeln dem Zufall und der künstlerischen Inspiration des Augenblicks überlassen und es würde sich dabei nicht um einen Akt von Freiheit handeln, der nur vom Menschen abhängig ist. Diese Übereinstimmung wird aber von der absoluten Sittlichkeit vorausgesetzt, die jedoch die Freiheit, die Unabhängigkeit und Autonomie des Menschen, seine Verantwortlichkeit voraussetzt, und kann daher in keinem Fall auf einem mehr oder weniger zufälligen Akt begründet sein, vor allem dann, wenn es sich um eine absolute Ethik handelt, die prinzipiell für alle Menschen gültig sein soll.
Wenn die absolute Sittlichkeit wirklich absolut sein soll, so muss sich das Absolute prinzipiell jedem Menschen präsentieren können und es soll nur sein Willen entscheiden können, ob er diese Präsentation zulassen und das Absolute durch die „Anstrengung des Begriffs“ in sich aufnehmen will, ob er also dazu bereit ist, es zu begreifen.
Ab etwa Mitte des Jahres 1803 soll Hegel sich also mit diesem Widerspruch zwischen seiner eigenen ethischen Philosophie, begründet auf dem Begriff der absoluten Sittlichkeit, und der theoretischen Philosophie Schellings, bis zu diesem Moment Grundlage seines Philosophierens, auseinandergesetzt haben.
Er findet die Lösung dieser Frage in der Schwachstelle der philosophischen Auffassung seines ehemaligen Studienfreundes und jetzigen Universitätskollegen und hebt diesen mit einer neuen idealistischen Auffassung auf. Die Kritik Hegels basiert auf der Überlegung, dass die Philosophie Schellings auf einem Punkt verharrt, der dem Absoluten gegenüber ‚äußerlich‘ ist, d.h. sie stellt das Absolute zwar durch seine subjektiven und objektiven Manifestationen dar, aber es gelingt ihr nicht, es als das wahrzunehmen, was es in sich ist. Das Absolute wird in diesem Fall nicht auf spekulative, sondern auf reflexive Art und Weise betrachtet, nicht auf innere, sondern auf äußerliche, nicht auf immanente, sondern transzendente Weise.
Durch die langsame, schrittweise Erstellung seines philosophischen Systems als ‚Selbstdarstellung des Absoluten‘ und nicht als dessen Auslegung durch das reflektierende und philosophierende Subjekt, entwickelt Hegel ab dem Jahre 1803 diese Auffassung. Der junge Dozent hatte also verstanden, dass, will man zu einer vollständig beweisbaren Erkenntnis des Absoluten gelangen, die wahre Wissenschaft werden soll, die verschiedenen Begriffe der Struktur des Absoluten nicht durch das philosophierende Subjekt erklärt werden, sondern sich selbst auslegen sollen, einer soll sich aus dem anderen fast automatisch ergeben.
Nur auf diese Weise wird das Ergebnis, also die Erkenntnis des Absoluten, objektive Wissenschaft und für alle Menschen verständlich sein, vorausgesetzt, sie sind dazu bereit, die „Anstrengung des Begriffs“ auf sich zu nehmen, eine unverzichtbare Bedingung der Wissenschaft.
Die logische und notwendige Erkennbarkeit des Absoluten ist nämlich die Voraussetzung für die Absolutheit der Sittlichkeit, also auch für ihre Erreichbarkeit im Prinzip durch jeden Menschen, und daher letzen Endes für die wahre Demokratie, wie Hegel sich im Nachsatz zum System der Sittlichkeit ausdrückt. Nur von einem solchen ‚höheren Standpunkt‘ aus, der nicht subjektiv, sondern objektiv, nicht reflexiv, sondern spekulativ ist, kann man ein wahres Wissen des Absoluten aufbauen, man kann also zum Verständnis des Fundaments der absoluten Sittlichkeit gelangen, bzw. zur Übereinstimmung zwischen individuellem und universalem Handeln.(4)
Ist der Mensch nämlich zu diesem wahren Verständnis des Absoluten gelangt, so wird er sich auf diese Weise von seinem endlichen Sein zum unendlichen Sein, von seinem subjektiven und empirischen Charakter zur Absolutheit erhoben haben, weil er „eins“ mit dem Absoluten geworden ist, und zwar der Auffassung folgend, die Hegel bereits am Ende seines Aufenthaltes in Frankfurt erarbeitet hatte.
‚Das Absolute zu erkennen‘ nach der Auffassung der Philosophie als Wissenschaft bedeutet nämlich ‚das Absolute zu sein‘, da das Absolute laut Definition kein besonderes Wesen sein kann, muss es – wie nach der Etymologie des Terminus ‚absolut‘ – ‚gelöst‘, ‚frei‘ sein, etwas, das zwar von den besonderen Seienden getrennt ist, aber trotzdem in ihnen vorhanden ist und wirkt (sonst wäre kein Absolutes). In dem Moment, in dem die subjektive Vernunft das Absolute wissenschaftlich erfasst, also eine immanente sich-selbst-beweisende Logik verfolgt, gibt sie alles Empirische, Subjektive usw. auf und lässt in sich dieses freie, gelöste Etwas auftreten, das in allen Wesen vorhanden ist. Dadurch stellt sie nicht mehr die Vernunft des individuellen Menschen dar, sondern das Absolute an-sich, das nun im subjektiven Geist des Individuums vorhanden ist. Somit hat das Individuum das Universelle in sich aufgenommen bzw. es hat sich zum Allgemeinen erhoben. Auch sein Handeln, ebenso wie sein Wissen, wird ab diesem Moment nicht mehr das Handeln eines bestimmten empirischen Wesens darstellen, sondern das Handeln des Absoluten selbst sein, und dieses Handeln wird all jenen Individuen zu eigen sein, die zu dieser Form der Erhebung gelangt sind.
Auf diese Weise hat Hegel mit der Auffassung der Philosophie als Wissenschaft die absolute Sittlichkeit begründet.
Für die Grundstruktur des philosophischen Systems des Idealismus und die des Seins hat dies folgende Bedeutung:
- Erstens, das Absolute ist neben Natur und Geist nicht als dritter Aspekt zu sehen, es ist kein Seiendes unter Seienden.
- Zweitens, das Absolute ist mehr oder weniger bewusst und mehr oder weniger notwendig oder frei in beiden, Natur und Geist, vorhanden.
- Drittens, das Absolute ist die Substanz, die von sich selbst ausgeht, sich aus sich selbst entwickelt, sich eine äußerliche Existenz als Natur gibt und als Geist in sich selbst zurückkehrt. Da es sich um das ‚Absolute‘ handelt, muss es von Natur und Geist vorausgesetzt werden, und daher in diesem Sinne auch vor beiden kommen (in logischer und nicht in chronologischer Bedeutung), was Hegel in der Wissenschaft der Logik klar zum Ausdruck bringt, als er deren Inhalt so definiert:
„[...] die Darstellung Gottes, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist.“ (GW21,S. 34,9-11)
Weil sich das Absolute dem Menschen in der Philosophie präsentiert, kehrt es, nachdem es in der Natur und in dem Geist Form genommen hat, zu seiner ursprünglichen Gestalt zurück, die nicht materiell und damit nicht Zeit und Raum unterworfen sein kann, weil sie in diesem Fall nicht ‚frei‘, ‚gelöst‘, sondern ein Wesen wäre. Sie muss hingegen die ideelle Gestalt des Begriffs, des Denkens sein. Nur wenn das Absolute auf diese Weise begriffen wird, ist es kein drittes Wesen neben Natur und Geist, sondern stellt ihre Einheit dar, verleiht ihnen erst das Dasein, indem es ihnen den besonderen Charakter verleiht, die Entäußerung (die Natur) oder Rückkehr-in-sich (der Geist) ein und derselben Substanz zu sein.
So erfasst, ist das Absolute nicht mehr als ‚Substanz‘ zu betrachten, als etwas Statisches im Sinne der Auffassung Spinozas bzw. Schellings von der Philosophie der Identität, sondern als ‚Subjekt‘, ein Ausdruck, der in der Sprache Hegels etwas Dynamisches, sich-selbst-Enwickelndes beschreibt.
Diese Grundauffassung wird vorausgesetzt, als Hegel zum ersten Mal im Sommersemester 1803 eine Vorlesung über die gesamte Philosophie ankündigt, und zwar als System der spekulativen Philosophie und nicht mehr, wie bisher, nur über die beiden Teile Logik/Metaphysik und Philosophie der Sittlichkeit (es handelt sich in diesem zweiten Fall um Vorlesungen zum Naturrecht) (1).
Die Fragmente der Philosophie des Geistes von 1803/04, die die Grundlage für die angekündigten Vorlesungen Hegels bilden, werden nämlich von der römischen Zahl III. eingeleitet, und diesin Übereinstimmung mit der Ankündigung für die Vorlesungen im Winter 1803/04 bedeutet, dass die Philosophie des Geistes den dritten Teil des Systems darstellen musste.“
Da das Fragment, auf das sich Cantillo bezieht, aus dem Winter 1803/04 stammt(2), muss man zu dem Schluss kommen, dass Hegel spätestens in dieser Periode bereits die Hauptstruktur seines eigenen philosophischen Systems konzipiert hat, und zwar in seiner triadischen und auch definitiven Form. Kimmerle meint in seiner Studie über die Chronologie der Jenenser Schriften Hegels zu diesem Thema:
„Wesentlich ist ferner, daß in diesem Stück eine ‘Philosophie des Geistes’ entworfen wird, die Hegel zum erstenmal für das Wintersemester 1803/04 angekündigt hatte, so daß wir hier die Entstehung der ‘Trias von Idee, Natur und Geist’ im Hegelschen System der Philosophie vor uns haben.“ (S. 158)
Diese beiden Schlussfolgerungen, zu denen uns die beiden aufmerksamen Hegelforscher führen, lassen den weiteren Schluss zu, dass Hegel in dieser Periode zumindest die Grundlinien seiner Auffassung vom Absoluten bereits formuliert haben musste und sich somit schon definitiv von der Schellingschen Auffassung der Identitätsphilosophie distanziert hatte. Denn sonst hätte er nicht seine eigene Auffassung von der Entwicklung des Absoluten als Subjekt durch die Natur und den Geist ausgearbeitet. Diese Auffassung wird jedoch in den erhalten gebliebenen Fragmenten der Naturphilosophie und der Philosophie des Geistes sowie in den verschiedenen Ankündigungen der Vorlesungen, die er in diesen Jahren an der Universität Jena hielt, vorausgesetzt (3).
Fassen wir zusammen: im Herbst 1803 führt Hegel eine äußerst wichtige begriffliche Operation durch, auch in Übereinstimmung mit der Ankündigung einer Vorlesung über Philosophiae universae delineationem im Sommersemster und einer anderen über Philosophiae speculativae Systema (complectens Logicam et Metaphyscam, philosophiam naturae et philosophiam mentis) im darauffolgenden Wintersemester: Er versteht die Einheit zwischen Welt des Menschen und Welt der Natur und vereinigt die Fragmente der Philosophie des Geistes (das ehemalige System der Sittlichkeit) und der Naturphilosophie in einem einzigen System der spekulativen Philosophie, das die angemessene Form der Erklärung und Erkenntnis des Absoluten enthält.
An diesem Punkt der Ausarbeitung seines philosophischen Systems hat Hegel also folgendes schon formuliert:
- Die begriffliche Struktur der natürlichen Welt in dem Manuskript zur Naturphilosophie von 1803, indem er die ursprüngliche Auffassung der Natur als „Organismus“ weiterentwickelte (siehe die systematischen Texten 63-64 aus dem Jahre 1799-1800);
- Die begriffliche Struktur der Welt des Menschen in dem Manuskript zur Philosophie des Geistes von 1803/04, indem er den ursprünglichen Begriff der absoluten Sittlichkeit ausarbeitete, der zum ersten Mal in der Abhandlung Über die verschiedenen Behandlungsarten des Naturrechts (1802) sowie im System der Sittlichkeit von 1802/03 formuliert wurde.
Was ihm jetzt noch zu tun bleibt, ist das Absolute selbst auszuarbeiten und sich daher aufgrund der eben erzielten neuen Ergebnisse aufs Neue mit der Problematik der Erhebung des Menschen vom endlichen (oder relativen) zum unendlichen (oder absoluten) Bewusstsein auseinanderzusetzen, und zwar aufgrund der präzisen Definition der Frage der Erkennbarkeit des Absoluten, die von ihm schon in den systematischen Texten von 1799-1800 erahnt wurde.
ENDNOTEN
1) Vgl. Kimmerle "Zur Chronologie...", S. 159 und die Einführung von Cantillo zu "Hegel. Filosofia dello spirito jenese".
2) Es handelt sich um die Nummer 63 der ersten Chronologie von Kimmerle (S. 143 und 160).
3) Diese Ankündigungen der verschiedenen Kurse wurden von Kimmerle in den "Dokumenten zu Hegels Jenaers Dozententätigkeit (1801-1807)" publiziert und kommentiert. Kimmerle hat auch eine eigene Rekonstruktion der Entwicklung des Hegelschen Denkens in Jena vorgeschlagen, und zwar in der Abhandlung "Zur Entwicklung des Hegelschen Denkens in Jena".
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