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ZWEITES STADIUM (1799-1800): Entstehung der theologischen Dialektik

ZWEITES STADIUM (1799-1800): Entstehung der theologischen Dialektik

 

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ZWEITES STADIUM

(1799-1800)

Entstehung der theologischen Dialektik

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Dieses Stadium in der Entwicklung des Hegelschen Denkens ist durch den Übergang von in erster Linie religiösen zu vorwiegend philosophischen und metaphysischen Überlegungen([8]) geprägt, und zwar im Sinne einer Kontinuität und nicht eines Bruchs. In der Tat ändert sich weder die Problematik noch die Bedeutung der Überlegungen  Hegels, sondern allein die Form, mit der er diese entwickelt. Es überwiegt nicht mehr die auf Vorstellungen basierte Form der religiösen Erkenntnis, sondern auf Begriffen basierte Form der Philosophie.

Dieser Übergang stellt das Herzstück und das Zentrum in der Entwicklung des Hegelschen Denkens dar, auch weil hier zum ersten Mal ein Begriff auftaucht, der später das wichtigste Merkmal der gesamten nachfolgenden Gedankenentwicklung sein wird: die Systematik. Und tatsächlich ist die wichtigste Quelle dieses Stadiums das sogenannte Systemfragment (heute Text 63 und 64 von GW2): Aus dem überlieferten Titel sind schon die Merkmale ersichtlich, die diesen Text von den anderen uns überlieferten Jugendschriften unterscheidet.

Hegel selbst zeigte sich übrigens im schon berühmten Brief an Schelling vom 2. November 1800 sehr wohl der Tatsache bewusst, dass sich in dieser Periode seiner geistigen Entwicklung eine grundlegende Änderung vollzog, und zwar in der Art und Weise, in der er seine Weltanschauung konzipierte. Zu jenem Tag interpretierte er seine jüngste geistige Entwicklung so:

„In meiner wissenschaftlichen Bildung, die von untergeordnetern Bedürfnissen der Menschen anfing, mußte ich zur Wissenschaft vorgetrieben werden, und das Ideal des Jünglingsalters mußte sich zur Reflexionsform, in ein System zugleich verwandeln; ich frage mich jetzt, während ich noch damit beschäftigt bin, welche Rückkehr zum Eingreifen in das Leben  der Menschen zu finden ist“ (Br. 1, S. 58-60).([9])

Der Text 64 von GW2 wurde am 14. September des gleichen Jahres fertiggestellt, also gerade 40 Tage vor der Verfassung dieses Briefes. Die autobiographischen Überlegungen Hegels, die er dem Freund und zukünftigen Kollegen mitteilt, gründen sich offensichtlich auf die intellektuellen Fortschritte aus der letzten Periode, die auch in seiner systematischen Schrift, von der uns leider nur wenige Seiten überliefert wurden, enthalten sind.

Das Hauptmerkmal dieses Stadiums ist also zumindest in formaler Hinsicht sicherlich die Systematik. Untersuchen wir nun den Gedankeninhalt dieser Systematik, d.h. den logischen Schritt, der dieses Stadium vom vorhergehenden unterscheidet.

In den Texten zum vorhergehenden Stadium zeigt Hegel, verstanden zu haben, dass sich in der auf Vorstellungen basierten Form, mit der Jesus das religiös-metaphysische Prinzip der universellen Liebe formuliert und ausgedrückt hat, der Begriff der Einheit der Gegensätze als ontologisches Universalprinzip verbirgt. Nun macht er einen weiteren Schritt vorwärts, denn er bestimmt mit größerer Präzision den Begriff, der in der Vorstellung der universellen Liebe enthalten ist: Es handelt sich um den Begriff der Vereinigung von Mensch (als Vernunft) und Gott (als Welt).

Hegel versteht nämlich durch die Überlegungen aus dem Jahre 1799-1800, die schließlich in der Fertigstellung des Textes 64 ein objektiven Mittelpunkt… von GW2 am 14. September ihren Höhepunkt fanden, dass das religiöse Prinzip der Lehre Jesu die Identität zwischen der menschlichen Vernunft - sicherlich nicht als Intellekt der endlichen Formen der Reflexionsphilosophie verstanden, sondern als spekulative Vernunft des religiösen Erkennens -  und dem unendlichen Geist ist, der sich in der Natur durch ihre verschiedenen Lebewesen entwickelt und verbreitet. Dieser unendliche Geist ist ‚Gott‘, aber nicht als Vorstellung, die auf Glauben begründet ist, sondern als Begriff im pantheistischen Sinne.([10])

Dies ist der wichtigste Inhalt dieses zweiten Stadiums, in dem die Vorstellung des religiös-metaphysischen Prinzips der universellen Liebe in den entsprechenden Begriff umgewandelt wird. Natürlich muss man diesen Begriff noch genauer bestimmen, aber dies ist nicht gerade einfach.

Zunächst einmal weil das Gesamtmanuskript, wovon die Texte 63 und 64 nur wenige Seiten enthalten, schwer verstümmelt bei uns angelangt ist: Von den angeblich 47 (laut Schüler) bzw. 49 (laut dem Herausgeber von GW2) handgeschriebenen Blätter des Originals besitzen wir nämlich zurzeit nur diese zwei Doppelblätter.([11])

Es gibt außerdem einen weiteren Grund logischer und nicht bloß philologischer Natur, der die Lektüre und Interpretation dieser Texte höchst schwierig macht: Es handelt sich um die Tatsache, dass sie den ersten Versuch Hegels darstellen, sich von der unsystematischen Form der vorhergehenden Texte abzuheben. Deshalb besitzen die zwei Texte weder die diskursive Einfachheit der Texte vor 1800 noch die logische Strenge der definitiv systematischen Veröffentlichungen. Bei ihnen haben wir es hingegen mit empirischen Begriffen, typisch für die frühere Denkform, zu tun, die dazu neigen, langsam die eindeutige Klarheit des systematischen Denkens zu erreichen. Diese Klarheit wird von Hegel in den Texten 63 und 64 allerdings nur teilweise erreicht, da die von ihm verwendete, großenteils religiöse Sprache natürlich nicht dazu geeignet ist, um den jetzt schon eindeutig philosophischen und systematischen Gedankeninhalt auszudrücken.

Dieser Gegensatz zwischen philosophischem Gedankeninhalt und religiöser Form des sprachlichen Ausdrucks ist die Ursache für die erwähnten Interpretationsschwierigkeiten bei diesen Texten Hegels. Versuchen wir trotzdem so genau wie möglich, auf der Grundlage des zur Verfügung stehenden Materials, die Fortschritte Hegels in diesem Stadium zu bestimmen.

 

ERSTER MOMENT

Umwandlung des religiösen Prinzips:

vom ontologischen Begriff der Einheit der Gegensätze im Allgemeinen

zum theologischen Begriff der Einheit der Gegensätze Mensch - Gott

 

Was die Umwandlung der religiös-metaphysischen Vorstellung betrifft, so ist der Grundbegriff des ersten Stadiums die Einheit der Gegensätze im Allgemeinen, während es in diesem zweiten Stadium die Einheit der Gegensätze Mensch - Gott wird.

Im Text 63 definiert Hegel nämlich alles, was existiert, als ‘Leben’. Er unterscheidet zwischen zwei Ebenen der Zugehörigkeit zum Leben: die Ebene der Individualität, von ihm als ‘endliches Leben’  definiert, und die Ebene der Universalität, als ‘unendliches Leben’ bezeichnet:

Das ungetheilte Leben vorausgesetzt, fixirt, so können wir die Lebendigen, –als Äusserungen des Lebens, als Darstellung desselben betrachten, deren Mannichfaltigkeit, die eben weil Äusserungen gesezt werden, zugleich gesetzt, und zwar als unendlich gesezt wird, die Reflexion dann als ruhende, bestehende, als feste Punkte, als Individuen fixirt; – oder ein Lebendiges vorausgesezt, und zwar uns die betrachtenden, so ist das ausser unserem beschränkten Leben gesezte Leben ein unendliches Leben von unendlicher Mannichfaltigkeit, unendlicher Entgegensezung, unendlicher Beziehung; als Vielheit, eine unendliche Vielheit von Organisationen, Individuen, als Einheit ein einziges organisirtes getrenntes und vereinigtes Ganzes – die Natur.“

(GW 2, S. 342, 3-13).

Das Leben beinhaltet also sowohl die Beziehung zwischen den  einzelnen Lebewesen als auch ihre Gegensätze und von diesem Standpunkt aus schließt Hegel

„[...] das Leben sey die Verbindung der Verbindung und der Nicht-Verbindung [...]

(ebd., S. 344, 1-2 […])

und prägt somit einen Ausdruck, der in unmissverständlicher Weise die entstehende Dialektik ankündigt und unmittelbar auf die reife Wissenschaft der Logik verweist.([12])

Der Mensch gehört zum endlichen Leben, aber da er selbst Leben ist, besitzt er die Fähigkeit, sich vom endlichen zum unendlichen Leben, also zu Gott, zu erheben:

„Diese Erhebung des Menschen, nicht vom Endlichen zum Unendlichen,  denn dieses sind nur Produkte der blossen Reflexion, und als solcher ist ihre Trennung absolut , sondern vom endlichen Leben zum unendlichen Leben ist Religion. Das unendliche Leben kan man einen Geist nennen, im Gegensaz [zu] der abstrakten Vielheit, denn Geist ist die lebendige Einigkeit des Mannichfaltigen […]“ (ebd., S. 343, 5-9)

Dieser wichtige Gedanke wird gegen Ende des Textes noch deutlicher und verstärkt ausgedrückt:

„Dieses Theylsein des Lebendigen hebt sich in der Religion auf, das beschränkte Leben erhebt sich zum Unendlichen; und nur dadurch, daß das Endliche, selbst Leben [ist], trägt es die Möglichkeit in sich zum unendlichen Leben sich zu erheben.“

(ebd., S. 344-12-15).

Dieser Vorgang der Erhebung zum unendlichen Leben aus dem endlichen Leben heraus als Werk eines Wesens, das selbst zum endlichen Leben gehört, stellt also die Essenz  der Religion dar.

Das charakteristische Merkmal des Menschen ist also die ‘Religion’ (im Gegensatz zu der Philosophie, die beim Endlichen bleibt) und die Zugehörigkeit zu den  Ausdrucksformen des endlichen Lebens; Gott hingegen ist das unendliche Leben, d.h. das Ganze der Lebewesen, das aus verschiedenen Individuen besteht und allgemein ‚Natur‘ bzw. ‚Welt‘ oder auch ‚Geist‘ genannt wird.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass Hegel in diesem Text rzu dem folgenden Schluss kommt:

Die Philosophie muß eben darum mit der Religion aufhören (...)“ 

(ebd., S. 344, 15-16).

Da er nämlich noch keine spekulative Philosophie erarbeitet hatte, kritisiert der Philosoph aus Stuttgart in diesem Entwicklungsstadium die Philosophie als für den Verstand typische Erkenntnisform, die die Gegensätze getrennt hält, und stellt ihr die Religion gegenüber, die hingegen seiner Ansicht nach die Gegensätze vereinen kann.

Diese Auffassung wird sich während des Aufenthaltes in Jena verändern, wenn Hegel dann seine eigene Philosophie ausarbeiten wird, die dank der Formulierung der logischen Dialektik den spekulativen Charakter der Religion annehmen wird, d.h. ihre Fähigkeit, die Gegensätze Mensch-Gott zu vereinen.

Obwohl Mensch und Gott anscheinend in einem unüberbrückbaren Verhältnis des Gegensatzes zueinander stehen, endliches Leben der eine, unendliches Leben der andere, bilden sie in Wirklichkeit eine Einheit. Zwischen ihnen besteht nämlich eine Identität, die die Grundlage und Wahrheit der scheinbaren Opposition ist und sich auf der Tatsache gründet, dass sie beide ‚Leben‘ sind.

Die Endlichkeit des Menschen und die Unendlichkeit Gottes stellen daher nur die zwei verschiedenen Ebenen ihrer unterschiedlichen Zugehörigkeit zum Leben dar. Das endliche Leben ist ein Teil, das unendliche Leben das Ganze. Und es ist eben diese dem Gegensatz zwischen Mensch und Gott zugrundeliegende Identität, die eine religiöse Erhebung vom endlichen zum unendlichen Leben ermöglicht.

In der Religion erhebt sich der Mensch also zu Gott d.h.  zu dem unendlichen Leben.  Im Vorgang dieser Erhebung sind die beiden Gegensätze nicht mehr zwei, sondern eins, nicht mehr getrennt, sondern vereint. Hegel erklärt auch, dass diese Erhebung nichts Zufälliges, sondern etwas Notwendiges sei. Allein die Stufe, auf der ein bestimmter Mensch oder ein bestimmtes Volk bei ihrer Erhebung zum Unendlichen anhalten, sei zufällig. Die Erhebung selbst jedoch ist notwendig.

Der junge Denker drückt sich zu diesem Thema folgendermaßen aus:

[...] Religion ist irgendeine Erhebung des Endlichen zum Unendlichen, als einem gesezten Leben und eine solche ist nothwendig, denn jenes ist bedingt durch dieses; aber auf welcher Stuffe der Entgegensezung und Vereinigung die bestimmte Natur eines Geschlechts von Menschen stehen bleibe, ist zufällig in Rücksicht auf die unbestimmte Natur.“ (GW 2, 347, 14-19).

Der logische Übergang in diesem Stadium besteht also darin, dass der allgemeine und abstrakte Begriff aus dem vorherigen Stadium - die Einheit der Gegensätze - nun zum spezifischen Begriff der Einheit zwischen Mensch und Gott geworden ist, und zwar in der eben dargelegten Bedeutung. Mensch und Gott, das endliche und das unendliche Leben, die Vernunft und die Welt, werden in der Religion eins: Obwohl scheinbar entgegengesetzt, bestehen sie nämlich in Wirklichkeit aus derselben Grundsubstanz, die in ihrem ganzheitlichen Aspekt Gott oder dem unendlichen Leben entspricht, während ihr Teilaspekt unter anderem dem Menschen oder dem endlichen Leben entspricht.

So wie der im vorhergehenden Stadium formulierte Begriff der Einheit der Gegensätze dem ontologischen Wert der absoluten Idee entspricht, so entspricht dieser Begriff der spezifischen Einheit der beiden Gegensätze Mensch-Gott dem theologischen Wert, den das logisch-metaphysische Prinzip der Idee in der Philosophie des reifen Hegels, insbesondere in der "Wissenschaft der Logik", haben wird. Die Bedeutung dieses theologischen Wertes liegt darin, dass Gott, bzw. das logische Prinzip  der Welt, weder ausschließlich ein Begriff der Vernunft ist (logisch-formaler Wert der Idee von Gott, typisch für die Kantische Philosophie), noch ein Wesen außerhalb der Welt und außerhalb der Herrschaft der Vernunft (metaphysisch-unkritischer Wert der Idee von Gott, typisch für die institutionelle christliche Religion). Gott ist vielmehr die unauflösliche Einheit von Vernunft und Welt, von Denken und Sein, beides Aspekte ein und derselben Substanz, die Hegel in den Texten 63 und 64 als ‘Leben’ und im reifen philosophischen System als ‘Idee’ definiert.

Weitere Erläuterungen zum theologischen Wert des Begriffs der absoluten Idee werden im entsprechenden Kapitel der dritten Periode gegeben werden, das spezifisch der Diskussion dieses Begriffs gewidmet sein wird. An dieser Stelle war es nur angebracht, auf den theologischen Wert der absoluten Idee hinzuweisen. Dieser Wert wird von Hegel ab der Verfassung der "Logik/Metaphysik" im Jahr 1804/05 ausführlich dargestellt und in den systematischen Texten 63-64 von 1799-1800 zum ersten Mal explizit formuliert.

Der Begriff der Einheit der Gegensätze Mensch-Gott bildet also den Hauptinhalt der Umwandlung der christlichen Originalvorstellung der universellen Liebe in den entsprechenden philosophischen Begriff. Wenden wir uns nun dem entsprechenden Begriff aus der Umwandlung der Vorstellung des ethischen Ideals vom Anbruch des Reichs Gottes zu.

 

ZWEITER MOMENT

Umwandlung des ethischen Ideals:

vom Begriff der Gemeinschaft

zum Begriff des religiösen Lebens

 

Wir befinden uns nach wie vor in der Zeit 1799-1800 und die Hauptquellen sind auch in diesem Fall die Texte 63 und 64. Was die Umwandlung des ethischen Ideals betrifft, so ist der Hauptbegriff dieses Stadiums ‘das religiöse Leben’. Hegel fasst die verschiedenen bisherigen Anwendungsversuche des Prinzips der Einheit der Gegensätze auf die menschliche Gemeinschaft zusammen. Er fasst sie jedoch noch in subjektiver Hinsicht, bzw. vom menschlichen Standpunkt und seiner Beziehung zur Gottheit aus zusammen: Es ist der Standpunkt der Religionsphilosophie, also der denkenden Betrachtung der religiösen Erfahrung.

Um einen sehr geglückten Ausdruck von Hegel selbst zu verwenden, kann das religiöse Leben folgendermaßen definiert werden:

Im religiösen Leben wurde sein Verhältnis zu Objekten, sein Handeln als ein Lebendig erhalten, oder als ein Beleben derselben aufgezeigt, [...]“ (GW 2, S. 345, 22-23).

Es besteht also darin, der Existenz einen Sinn zu verleihen, es ist der höchste Ausdruck des menschlichen Geistes, der seine eigenen Möglichkeiten im Leben, seine eigene materielle Beschaffenheit organisiert und plant.

Um die gegenseitige Abhängigkeit zwischen religiösem Prinzip und ethischem Ideal, und insbesondere die Abhängigkeit des Zweiten von Ersterem zu unterstreichen,  erklärt Hegel, dass der Grad der Glückseligkeit bzw. der Einheit des Menschen mit sich selbst und mit der ihn umgebenden Welt, daher auch der Grad des Bewusstseins um den Sinn des eigenen Lebens im natürlichen und sozialen Umfeld, den ein Volk erreicht, eben von der Art der Beziehung abhängt, die der Mensch mit der Gottheit aufbaut, also vom Grad der Vereinigung von Vernunft und Welt durch das Verständnis Gottes, des logischen Prinzips der Welt. Dieses Verhältnis zwischen Mensch und Gottheit wiederum, also zwischen endlichem und unendlichem Leben, hängt von der moralischen Verfassung des Volkes, vom Grad der Glückseligkeit ab, und entspricht somit bereits einem  typischen dialektischen Kreis.

Es handelt sich offensichtlich um zwei verschiedene Arten von Abhängigkeit. Die erste Abhängigkeit, also die des ethischen Ideals vom religiösen Prinzip, ist eine „logische“ Abhängigkeit. Die zweite, die des religiösen Prinzips von den ethischen Lebensbedingungen, ist hingegen eine „historische“ Abhängigkeit. Damit beginnt sich die außerordentliche Fähigkeit Hegels herauszukristallisieren, die innere Dialektik der Geschichte zu verstehen, die ab 1807 die herausragendsten Werke hervorbringen wird, in erster Linie die Phänomenologie des Geistes und dann die großen historischen Rekonstruktionen der Vorlesungen, insbesondere über die Weltgeschichte.

Das Ideal des religiösen Lebens stellt also den Hauptbegriff dieses zweiten Stadiums des Hegelschen Umwandlungsprozesses der ethischen Vorstellungen des ursprünglichen Christentums in die entsprechenden philosophischen Begriffe dar. Dieses Ideal fügt den Geist wieder in die Materie ein, wobei allerdings noch eine Grenze bestehen bleibt: der subjektive Standpunkt. Der religiös lebende Mensch bleibt jedoch eben ein Mensch, also ein empirisches, endliches, begrenztes Subjekt. Die Vereinigung mit Gott, mit dem unendlichen Leben, ist daher noch nicht vollständig.

Diese Grenze des religiösen Lebens ist übrigens nicht zufällig, sondern unvermeidlich. Hegel spricht hier vom „Schicksal“ des religiösen Lebens (GW 2, 34523-24) und verwendet dabei einen der bedeutendsten Begriffe aus der Periode zwischen 1795 und 1800.

Im religiösen Leben kann sich also die Vereinigung zwischen endlichem und unendlichem Leben nicht vollständig vollziehen, da der individuelle Mensch darin nicht zur Erkenntnis des unendlichen Lebens an-sich und zur Beseitigung jeglicher noch existierender Barriere zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen, der Subjektivität und der Objektivität usw. gelingen kann. Im religiösen Leben kann diese Vereinigung von Subjektivität und Objektivität nicht stattfinden.

Diese „absolute“ Ebene (also die Ebene der Identität zwischen subjektiven und objektiven Aspekt in der logischen Aussage) kann nur erreicht werden, wenn es gelingt, die Elemente der religiösen Erfahrung, also des Empirischen - auch wenn dieses schon zum Unendlichen und daher zur eigenen Aufhebung hingewandt ist -  vollständig beiseite zu lassen und sich zur Ebene der reinen Begriffe zu erheben, also zum „Reich der Schatten“, wie Hegel sich in diesem Zusammenhang in einer nicht nur klaren, sondern auch äußerst eindrucksvollen Definition der Logik ausdrückt:

Das System der Logik ist das Reich der Schatten, die Welt der einfachen Wesenheiten, von aller sinnlichen Concretion befreyt“ (GW 21, 42).

Dieser weitere Schritt nach vorne bildet den Hauptinhalt des nachfolgenden Stadiums der immanenten Entwicklung des Hegelschen Denkens. Darin geht der junge schwäbische Philosoph von der reflexiven zur spekulativen Erkenntnis über, seine Sprache wird jene der idealistischen Philosophie und selbst sein Berufsleben ändert sich: Wechsel an die Universität Jena, Beginn der akademischen Laufbahn, Austritt aus der Bildungsisolation, Eintritt in die philosophische Auseinandersetzung.

All das wurde erst durch die bereits vollendete Formulierung der Grundstruktur seines philosophischen Systems ermöglicht, das Hegel mit Hilfe seiner historisch-religiösen Studien verwirklicht hatte.  Er verfügte nämlich schon seit Ende 1800 zumindest in Ansätzen über ein metaphysisches Prinzip, mit dem er der toten Materie des logisch-metaphysischen Wissens seiner Zeit neuen Geist einhauchte, und über ein ethisches Ideal, mit dem er die kalten Glieder der Kantischen und Fichteschen Ethik belebte.

Bevor wir jedoch zum dritten und letzten Stadium übergehen, wäre es sinnvoll, zuerst noch einige Worte zur grundlegenden Frage zu sagen, ob das Systemfragment bzw. die Texte 63 und 64, die uns davon übriggeblieben sind, als erstes System Hegels bezeichnet werden kann oder nicht.

Aus den bisherigen Ergebnissen lässt sich unserer Meinung nach ableiten, dass es sich bei diesem Fragment tatsächlich um Hegels ersten systematischen Versuch handelt. Darin finden wir nämlich sowohl die Abhandlung der menschlichen Welt (ethisches Ideal des religiösen Lebens) als auch der natürlichen Welt (Prinzip des unendlichen Lebens und der Natur als Lebewesen); vor allem aber beinhaltet es auch das Verständnis der Beziehung zwischen dem Menschen und der Natur durch die Auffassung der Einheit der Gegensätze Vernunft und Welt in Gott, in der Bedeutung von unendlichem Leben oder Alleben. In dieser Auffassung vereinigt Hegel die drei Begriffe der Metaphysik und der Theologie, wenn auch innerhalb der erwähnten subjektiven und reflexiven Grenzen: die Begriffe der Seele, der Welt und von Gott. In der Tat hat man ein philosophisches System dann, wenn es gelingt, diese drei Grundaspekte des Seins in einer einzigen Auffassung zu vereinigen. Mehr als ein ‚Versuch‘ scheinen aber zumindest die erhaltenen Texte nicht zu enthalten. Solange die zahlreichen fehlenden Seiten verschwunden bleiben, muss die Frage nach der Vollständigkeit dieses philosophischen Systems, in dem alle einzelnen Teile auch wirklich entwickelt sein sollten, unbeantwortet bleiben.

 

FUßNOTEN


[8]) Man kann zwischen diesen beiden Aspekten des Hegelschen Denkens keine klare Trennung vornehmen, da die religiösen Reflexionen vor 1800 viele philosophische Elemente enthalten, während jene nach diesem Datum noch viele typisch religiöse Elemente aufweisen. Dies wird vom Fragment Vom göttlichen Dreieck aus dem Jahre 1804 und den Berliner Vorlesungen über die Beweise der Existenz Gottes eindeutig bewiesen.

[9]) Was die Frage der Wichtigkeit dieses Schrittes für die Entwicklung des Hegelschen Denkens betrifft, vgl. Kapitel 7 meiner Arbeit Weisheitslehre, 139 ff.

[10]) Zum Hegelschen Pantheismus siehe das erste Kapitel von Weisheitslehre.

[11] ) Siehe GW 2, Editorischer Bericht, S. 653-654.

[12]) Der vollständige Satz im Text 63 lautet: „[…] ich müßte mich so ausdrükken, das Leben sey die Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung [...]“  (zur "Wissenschaft der Logik" vgl. die Kapitel "Das Leben" und "Die absolute Idee" in der Lehre vom Begriff).

 

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