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Education for Future -
Philosophische, pädagogische und neurobiologische Gründe
für die Revolution unseres Bildungssystems
von
Larissa Weber
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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Richard David Precht zur Notwendigkeit einer Bildungsrevolution
2.1. Geschichtlicher Hintergrund zum Bildungsbegriff und der Entwicklung zum heutigen Schulsystem
2.2. Grundvoraussetzungen für erfolgreiches Lernen
2.3. Die aktuelle Situation in unseren Schulen
2.3.1. PISA
2.3.2. G8
2.3.3. Effizienz des Gelernten
2.3.4. Leistungsbewertung durch Noten
2.3.5. Chancenungleichheit und soziale Selektion
2.4. Anforderungen der heutigen Zeit
2.5. Vision eines besseren Schulsystems
3 Verknüpfung zu Ansichten von Marco de Angelis
4 Fazit
5. Fußnoten
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Schule – der Ort, der Heranwachsende auf das komplexe Leben in einer globalisierten Welt vorbereiten soll und sie darin unterstützt, ihren persönlichen Weg darin zu finden. So sollte es zumindest sein. Doch diese Bildungsinstitution beruht größtenteils auf Konzepten der letzten Jahrhunderte. Jedoch haben sich die Anforderungen an die Bildung der zukünftigen Gesellschaft angesichts der aktuellen Herausforderungen stark gewandelt. Doch warum steht das deutsche Schulsystem so oft in der Kritik und schneidet im europäischen Vergleich so schlecht ab? Mit welchen pädagogischen Konzepten können Kinder und Jugendliche effizienter auf die Zukunft vorbereitet werden? Wie kann man erreichen, dass sie den Bildungsweg als ganzheitlich gebildete Persönlichkeiten abschließen?
Im Verlauf dieser Arbeit werden die Kritik Richard David Prechts am aktuellen Schulsystem, sowie dessen Vorschläge für eine Reform des Bildungssystems vorgestellt. Anschließend findet eine Verknüpfung mit dem Buch von Marco de Angelis statt, welches im Seminar behandelt wurde.
2. Richard David Precht zur Notwendigkeit einer Bildungsrevolution
Im folgenden Kapitel wird sich auf das Buch „Anna, die Schule und der liebe Gott – Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern“ bezogen. Dieses von dem Philosophen Richard David Precht verfasste Werk erschien im Jahr 2013 und zeigt ausführlich auf, welche Missstände in unserem Bildungssystem vorliegen und wie ein seiner Meinung nach pädagogisch wertvolleres Schulsystem aussehen könnte. Sonstige Quellen, wie beispielsweise aus dem Buch „Education for future“ von Gerald Hüther et al. aus dem Jahr 2020 werden als solche gekennzeichnet.
2.1. Geschichtlicher Hintergrund zum Bildungsbegriff und der Entwicklung zum heutigen Schulsystem
Zunächst einmal stellt sich die Frage, was unter Bildung überhaupt zu verstehen ist und wie die geschichtliche Entwicklung hin zu dem Bildungssystem, welches wir heute vorfinden, aussah.
Der Begriff Bildung stammt aus dem Althochdeutschen bildunga und bedeutet so viel wie erschaffen, gestalten, vorstellen. Er ist somit eine spezifisch deutsche Erfindung und be-schreibt die Charakterausbildung des Individuums durch die Erweiterung seines Horizonts und das Aneignen von Wissen. Jeder Mensch kann somit gebildet werden und soll sich durch eine gewisse Grundbildung in der Welt zurechtfinden können. Am englischen Wort education, vom lateinischen educare, was so viel wie „herausführen in die Welt“ bedeutet, wird deutlich, dass Bildung untrennbar mit Erziehung verbunden ist (Vgl. Hüther et al. 2020: 305). Bildung ist eine „weder zeitlich noch inhaltlich, weder kognitiv noch emotional eingegrenzte Aufgabe“ (Hüther et al. 2020: 305). Ein Mensch bildet sich mit jeder selbstbestimmten Handlung, zu jeder Zeit und an jedem Ort (Vgl. Hüther et al. 2020: 304).
Wesentliche Bedeutung bekam der Begriff im 18. Jhd., als der Ausspruch des Philosophen Francis Bacons, „Wissen ist Macht“ erneut aufgegriffen wurde. So wurde der Bildungsbegriff zum Synonym für sozialen Aufstieg und ein Herausstellungsmerkmal des gehobenen Bürger-tums gegenüber der Arbeiter- und Bauernschaft. Eine wichtige Rolle in der Diskussion um Wissen und Bildung spielte Alexander von Humboldt. Sein Ziel war es, allen Staatsbürgern einen Zugang zu Bildung zu verschaffen und sie so zu mündigen und kritisch reflektierenden Staatsbürgern zu erziehen. Hierfür plädierte er für eine allgemeine Bildung und Grundwissen, welches zur Humanität erziehen soll, statt der Ausbildung in speziellen Fachgebieten. Er stieß damit die noch immer aktuelle Debatte an: Bildung oder Ausbildung, was soll in unseren Schulen gelehrt werden.
Einig waren sich viele große Denker dieser Zeit zumindest darin, dass es sich bei Bildung nicht um einen reinen Wissensschatz handle, sondern dieser seinen Wert erst durch die prakti-sche Anwendung erhielte. Bildung sei also nichts, was der Einzelne besitzt, sondern was erst im Austausch mit anderen Menschen entsteht. Es ist also eine Praxis und kein Vorrat, wie Hegel es beschreibt. Bildung muss gelebt werden als eine Summe aus Wissensstoff aus Schule und Alltag, sozialem Umfeld und individuellen Mustern, die beim Vernetzen von Gelerntem im Gehirn entstehen. Ausschlaggebens ist im Endeffekt das Können, nicht das Wissen-wie-es-geht. Auch der Reformpädagoge Georg Kerschensteiner vertrat diese Ansicht. Bildung solle praxisbezogen sein und das Erlernen vielfältiger Fähigkeiten beabsichtigen, bevor junge Menschen in die berufliche Ausbildung zu spezifischen Fachkräften gehen. Seine Devise: „Gebildet ist, wer vieles kann, und nicht der, der viel weiß.“ (Precht 2013: 42) Unabhängig der Ansichten von Kerschensteiner und Humboldt entstand zu dieser Zeit die Berufs-schule, das Konzept der Jahrgangsklassen und die Benotung wurden eingeführt, Schulen wurden durch Steuermittel finanziert und 1810 entstand die erste Universität. Die Debatten zwischen einer allgemeinen Bildung und fachgebundenen Ausbildung blieb bestehen und wurde Ende des 19. Jhd. durch den US-amerikanischen Ingenieur Frederick Winslow Taylor vorerst beendet. Im Zuge der nun auftretenden arbeitsteiligen Arbeiter- und Angestelltengesellschaft und der „völlige[n] Normierung von Arbeitsabläufen in festgeschriebenen Prozessen“ (Precht 2013: 107), als Prinzip Taylorismus genannt, wurde auch das bestehende Bildungssystem maßgeblich verän-dert. Dieses tayloristisch geprägte Schulsystem, welches die Aufteilung in einzelne Diszipli-nen und die Vorbereitung auf ein Fachstudium beabsichtigt, hat in den Grundzügen noch bis zum heutigen Tag Gültigkeit.
In den 1960er Jahren sorgte das Buch „Die deutsche Bildungskatastrophe“ von Georg Picht für Aufmerksamkeit und erneuten Wirbel um das Schulsystem. Picht behauptete, dieses sei den Anforderungen des „zukünftigen Arbeitsmarktes einer modernen Export- und Dienstleistungsgesellschaft“ (Precht 2013: 51) nicht mehr gewachsen. Das humanistische Gerechtigkeitsideal nach Humboldt sei in Vergessenheit geraten und die große soziale Ungerechtigkeit durch das Bildungssystem noch verstärkt. Er trug damit in hohem Ausmaß zu einer Bildungsreform in den 60er Jahren bei. Viele neue Fachhochschulen wurden gegründet und innerhalb von 20 Jahren wurden Hochschul- und Fachhochschulabschlüsse in ganz Europa selbstverständlich. In den 70er- und 80er-Jahren galt Deutschland als das Land mit den besten Aufstiegschancen für Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern. Davon ist heute nicht mehr viel übrig. Die Veränderung des Arbeitsmarktes durch den technischen Fortschritt und die Auslagerung von Produktion in Niedriglohnländer, die Senkung von Sozialausgaben und die gezielte Förderung von Eliten hatten zur Folge, dass diese positive Entwicklung ins Gegenteil umschwang.
Ende des Jahrhunderts wurde das tayloristische System durch die Ausrichtung auf ökonomische Effizienz noch verstärkt. Das Zentrum für Hochschulentwicklung (CHE) wurde gegründet, um zu überprüfen, ob das Gelehrte in wirtschaftlicher Hinsicht sinnvoll ist, Bachelor- und Masterstudiengänge wurden eingeführt und die Regelstudienzeiten verkürzt. Das ganze Bildungssystem orientiert sich seitdem an der wirtschaftlichen Effizienz als höchste Instanz. Begriffe wie Bildungskapital und Bildungsmarkt machen das deutlich. Bildung gilt als zentraler Orientierungspunkt für langfristiges volkswirtschaftliches Wachstum und je gebildeter eine Gesellschaft, desto wirtschaftlich produktiver scheint sie zu sein. Dass Schulen so immer mehr zu „institutionalisierten Lernfabriken“ (Precht 2013: 106) wurden und die Organisationsstrukturen des Taylorismus nur noch fester, bewirkte, dass die eigentliche Aufgabe von Schule, die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler zu unterstützen und sie auf vielfältige Lebenswege vorzubereiten, immer mehr in den Hintergrund trat. 2010 versuchten Politiker in Hamburg dem entgegenzuwirken und den pädagogischen Aspekt durch mehrere Reformen, wie die Verlängerung der Grundschulzeit und die Auflösung des dreigliedrigen Schulsystems, wieder stärker in den Fokus zu rücken. Dieses Vorhaben scheiterte allerdings.
Zusammenfassend wird deutlich, dass Bildung das Wichtigste für die Zukunft unseres Landes ist, darüber sind sich alle einig. Doch die Vorstellungen, was unter Bildung verstanden wird, gehen dabei weit auseinander. So wie das Schulsystem heute besteht, beruht es auf Strukturen des 18. und 19. Jhd., als die passive Rolle des Schülers gewollt war, und die Fachausbildung den überschaulichen Tätigkeitsfeldern angepasst war. Bis heute ist schulische Bildung ein „sich selbst verstärkendes System, das sich in Bezug auf die wichtigsten Lehrinhalte seit Generationen selbst bestätigt“ (Precht 2013: 118). Doch nun ist der Zeitpunkt erreicht, dies zu unterbrechen. Doch dafür muss man sich erstmal einig darüber werden, wie ein neues Schulkonzept aussehen könnte. Anregungen dazu und warum eine Bildungsrevolution so wichtig ist, wird sich im Verlauf der Arbeit zeigen.
2.2. Grundvoraussetzungen für erfolgreiches Lernen
Der Mensch strebt von Natur aus nach Wissen. Es liegt in seiner Natur, Wissen zu erwerben um daraus praktischen Nutzen zu ziehen. Er hat Freude an der sinnlichen Wahrnehmung und strebt nach Erkenntnis. Diese Aussage von Aristoteles ist das, was den Menschen ausmacht und ihn maßgeblich vom Tier unterscheidet. Gerade Kinder haben das tiefe Bedürfnis zu lernen. Sie tun das von sich aus, aus einer unbändigen Neugier heraus, sie wollen das Unbekannte um sich herum entdecken und verstehen. Sie lernen enorm schnell vielfältige Fähigkeiten, um schließlich zu selbstständigen Menschen heranzuwachsen. Bei jeder Lernerfahrung verändert sich unser Gehirn. Nervenfasern nehmen unzählige Reize auf, filtern diese und leiten sie über Synapsen weiter. Durch neue Lernerfahrung vervielfältigt sich die Anzahl der Synapsen an den Nervenzellen und die neuronalen Verbindungen werden gestärkt. Wenn in einem energiesparenden Zustand, auch Kohärenz genannt, außergewöhnliche Reize auftreten, werden Neurotransmitter und Stresshormone ausgeschüttet, die für mehr Aufmerksamkeit und ein erhöhtes Lernvermögen sorgen und die Person entweder in einen euphorischen Zustand versetzen und die Motivation erhöhen oder negative Emotionen wie Angst hervorrufen. Je intensiver eine Erregung ist, desto besser speichert das Gehirn das Erlebte ab. Der Begriff Lernen kommt vom indogermanischen Wort Lais, welches so viel wie Spur, Bahn oder Furche bedeutet. Erlebtes wird im Zusammenhang mit schon vorhandenen Informationen gespeichert, indem diese miteinander verknüpft werden und so ein immer komplexer werdendes Netzwerk darstellen. Die Informationen, die nicht verknüpft werden können, vergisst man direkt wieder, nur Angewandtes wird also zu Wissen.
Bei der Speicherung von Informationen durchlaufen sie folgende drei Stufen des Gedächtnisses. Diese sind das Ultrakurzzeitgedächtnis, bei dem Reize wahrgenommen und sofort wieder vergessen werden, das Kurzzeitgedächtnis, in dem man sich die Dinge bis zu ein paar Minuten merken kann und schließlich das Langzeitgedächtnis, welches dafür sorgt, dass Wissen über Jahre hinweg im Gedächtnis verankert bleibt (Vgl. Claus, 1992). Auch wenn die Fragen, warum es manchen Menschen leichter fällt zu lernen als anderen und wo die Intelligenz im Gehirn zu verorten ist, noch unbeantwortet sind, ist das Wissen der Hirnforschung, unter welchen Bedingungen Heranwachsende am besten lernen, so fortgeschritten, dass danach ausgerichtetes „gehirngerecht[es]“ (Precht 2013: 204) Lernen ein großes Potenzial für erfolgreicheren Schulunterricht birgt. Die entscheidenden Weichen für die spätere Entwicklung werden dabei in der frühen Kindheit gestellt. Prägenden Einfluss haben also nicht nur Familie und Kindergarten, sondern auch die Schulzeit.
Die wichtigste Grundvoraussetzung für erfolgreiches Lernen ist die Grundhaltung, die Heranwachsenden entgegengebracht wird. Menschen haben zwei „seelische Grundbedürfnisse“ (Hüther et al. 2020: 37), wie Gerald Hüther es nennt. Diese sind Verbundenheit und Zugehörigkeit zu den Mitmenschen sowie Autonomie und Gestaltungsfreiheit. Kinder müssen also, um ihre „natürliche Lust am Lernen und Gestalten und am Verbinden mit anderen“ (Hüther et al. 2020: 123) zu bewahren, als Subjekte behandelt werden. Das bedeutet, sie mit ihren Wünschen und Bedürfnissen ernst zu nehmen und ihnen den Freiraum zu geben, ihre Interessen und Begabungen zu entfalten (Vgl. Hüther et al. 2020: 123). Kinder müssen ihre eigenen Entscheidungen treffen können und Gelegenheit dazu haben, ihre Bedürfnisse und Wertvor-stellungen äußern zu können. Gelingt dies nicht, wird man zum Objekt der „Erwartungen, Bewertungen […] oder gar Anordnungen und Befehlen“ (Hüther et al. 2020: 37) anderer Menschen. Unter diesen Umständen kann es nicht gelingen, eigene Entscheidung für den persönlichen Lebensweg zu treffen und die angeborene Entdeckerfreude der Kinder wird unterdrückt. Kinder müssen, damit ein gutes Zusammenleben gelingen kann, verstehen, warum es bestimmte Regeln gibt und lernen zu respektieren, dass diese den Bedürfnissen ihrer Mitmenschen entsprechen. Es ist also eine Bildung nötig, die den respektvollen Umgang mit Mitmenschen und dem Planeten lehrt (Vgl. Hüther et al. 2020: 42). Die alleinige Aneignung kognitiver Fähigkeiten ist nicht ausreichend, um ein gelingendes Leben zu gestalten. Es ist notwendig, dass der Mensch eine innere Orientierung in sich findet, entsprechend den individuellen Werten. Hüther nennt dies die „Herzensbildung“ (Hüther et al. 2020: 88). Neben neurobiologischen Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen spielen also auch psychologische Faktoren eine wichtige Rolle für den Lernerfolg. Wer sich verstanden, akzeptiert und unterstützt fühlt, lernt nachhaltiger und mit mehr Leichtigkeit. Daraus resultierend ist das Ziel, ein angenehmes soziales Lernklima in den Klassenräumen zu schaffen, in denen die Schüler voneinander lernen und die Möglichkeit haben, eigene Ideen in den Unterricht einfließen lassen zu können.
Ein weiterer sehr wichtiger Aspekt für gelingenden Unterricht ist die Motivation der Schüler. Diese ist ausschlaggebend für den Lernerfolg des Einzelnen und von weitaus höherer Bedeutung als beispielsweise die Intelligenz. Kinder haben sehr früh eine sehr starke Eigenmotivation. Im Gegensatz dazu bilden sich Fähigkeiten wie Geduld und Selbstkontrolle erst im weiteren Verlauf des Lebens aus, woraus sich schließen lässt, dass sie nur das mit Erfolg lernen, woran sie auch Interesse haben. Die intrinsische Motivation wird bestärkt, wenn Schüler ein selbst festgelegtes Ziel erreichen. Im internen Bewertung- und Motivationssystem wird hier unterschieden zwischen dem Gefühl, Lust auf etwas zu haben und dem Bedürfnis, stolz auf sich zu sein, nachdem man eine Herausforderung gemeistert hat. Der Mensch kann also unterscheiden zwischen einem Ereignis, welches einen Lustgewinn hervorbringt und einem Ereignis, welches motiviert und vorantreibt; er ist dem Reiz nicht machtlos ausgeliefert. Je mehr positive Erfahrungen man macht, auf die man stolz ist, desto größer ist die Kraft, an neue Aufgaben und Projekte heranzutreten. Man spricht hier von der Selbstwirksamkeitserfahrung, welche als Begriff in den 70er Jahren von Albert Bandura geprägt wurde. Diese beinhaltet sowohl ein bestimmtes Ziel mit besonderem persönlichem Wert als auch die Selbsteinschätzung, ob sich dieses erreichen lässt oder nicht. Üben Kinder eine Tätigkeit mit stark ausgeprägter intrinsischer Motivation aus, geraten sie automatisch in einen Flow-Zustand, können über längere Zeit konzentriert bleiben und finden Erfüllung in der Tätigkeit selbst.
Dem gegenüber steht die extrinsische Motivation, die von äußeren Faktoren gewährt wird. Dies kann eine versprochene Belohnung von außen sein wie soziale Anerkennung oder Noten. Durch einen extrinsischen Anreiz geht die intrinsische Motivation oft verloren. Dieser Kor-rumpierungseffekt führt dazu, dass die ursprüngliche Motivation, sich aus persönlichem Inte-resse einem bestimmten Thema zu widmen, um sich Wissen anzueignen, zerstört wird und Schüler nur für die angestrebten Noten lernen. Es ist ein Teufelskreis, da die Selbstbestimmtheit der Schüler verletzt wird, was sich wiederrum negativ auf die Motivation auswirkt. Es ist an dieser Stelle anzumerken, dass nicht alle äußeren Anreize die intrinsische Motivation grundsätzlich zerstören. Lob und Anerkennung tun gut und bestärken den Schüler, doch sollte dieser darauf nicht von Anfang an hinarbeiten.
Ein weiterer wichtiger Grund für Demotivation und Lustlosigkeit im Unterricht ist die Reizüberflutung, die darüber hinaus zur Unkonzentriertheit führen kann. Dabei ist die Konzentrationsfähigkeit biologisch bedingt und die Menge an Unterrichtsstoff sollte an die jeweilige Entwicklungsstufe des Gehirns des Schülers angepasst sein. So beträgt die Aufmerksamkeits-spanne eines Sechsjährigen circa 15 Minuten, während sich ein Elfjähriger schon 30 Minuten am Stück konzentrieren kann. Außerdem ist der unmittelbare Zusammenhang von Lernen und körperlicher Bewegung nicht außer Acht zu lassen. Durch physische Aktivität werden die synaptischen Verbindungen im Gehirn gestärkt, neue Informationen können besser aufgenommen werden und Gelerntes wird stärker im Gedächtnis verankert. Wenn Unterrichten und Lernen erfolgreich sein sollen, ist es notwendig, mehrere Bewegungspausen einzulegen.
Das menschliche Gehirn ist außerdem nur bedingt dafür geeignet, viele Informationen auswendig zu lernen, wie das in der Schule oft der Fall ist. Besser kann man sich Fakten und Zusammenhänge über einen längeren Zeitraum durch das Verwenden vielfältiger Methoden einprägen. Dementsprechend nicht förderlich ist das Lernen von Stoff innerhalb der bestehenden Fächergrenzen. Um Zusammenhänge erkennen zu können, ist Interdisziplinarität gefragt (welche die Leuphana Universität als Vorbildrolle umzusetzen versucht). Schließlich hängt auch außerhalb der Schule alles miteinander zusammen. Für ein besseres Verständnis von komplexen Themen ist es hilfreich, das allgemeine Ziel vor Augen zu haben, auf das hingearbeitet wird und einzelne Aspekte an konkreten Beispielen herunter gebrochen zu erklären. Damit das Lernen in der Schule die gewünschten Früchte trägt, ist es also notwendig, den Unterricht so anschaulich wie möglich zu gestalten, um das episodische Wissensgedächtnis und das semantische Gedächtnis, welches für die Speicherung persönlicher Lebenserfahrung verantwortlich ist, zu verknüpfen. Wenn dies gelingt, kann das Gehirn neue Fakten in einen Zusammenhang mit Bestehendem bringen und die Information speichern.
Schüler müssen also Verbindungen zwischen dem Gelernten und ihrem persönlichen Leben erkennen können. In den Worten Prechts (2013: 221): „Verstehen heißt nicht kennen, sondern einsortieren.“
Unter diesen vorausgehenden positiven Umständen wird es möglich, dass die Schüler ihre individuellen Begabungen entfalten können. Diese sind schon pränatal angelegt und schlum-mern, falls sie noch nicht angesprochen wurden, als Potenzial (Vgl. Hüther et al. 2020: 174). Zur Entfaltung dieser ist keinerlei Förderung notwendig. Die Heranwachsenden benötigen nur ausreichend Freiraum um sich auszuprobieren und selbst zu entdecken. Durch die praktische Anwendung und das Aneignen von Wissen und Können werden diese schließlich zu den Stärken eines Menschen, welche ihn ausmachen (Vgl. Hüther et al. 2020: 174). Je besser ein junger Mensch diese kennt, desto eher kann er seinen Platz in der Welt finden, seine Stärken im sozialen Miteinander nutzen und im besten Fall im späteren Beruf einsetzen.
In Anbetracht der Funktionsweisen des menschlichen Gehirns wird deutlich, dass Lernen sehr individuell vonstattengeht. Kein Kind lernt exakt wie das andere. Lehrpläne lassen sich standardisieren, das Lernen allerdings nicht. Die individuelle Förderung des Einzelnen kommt in unserem Schulsystem jedoch sehr viel zu kurz. Dieser und andere Missstände werden im Folgenden beleuchtet.
2.3. Die aktuelle Situation in unseren Schulen
Das deutsche Schulsystem ist nicht gerade bekannt dafür, besonders herausragende Bildung bei dessen Schülern hervorzubringen. OECD-Studien belegen, dass Deutschland in Sachen Schulbildung unter allen Industrienationen am schlechtesten abschneidet. Fast acht Prozent eines Jahrgangs verlässt die Schule ohne Abschluss, doppelt so viele Schüler mit Migrations-hintergrund als ohne. Circa zwei Drittel aller Deutschen bemängeln die Art des Unterrichts und die unzureichende Grundbildung und bewerten das aktuelle System als nicht zukunftsfähig. Doch woran liegt das? Was passiert in den Schulen, dass wir heute so einen Missstand erleben?
Im weiteren Verlauf wird deutlich werden, dass das bestehende Bildungssystem von Precht an vielen Stellen sehr in Frage gestellt wird. Es ist aus diesem Grund anzumerken, dass Menschen in Deutschland sich grundsätzlich dankbar schätzen können, ein so gut ausgebautes und doch intaktes Schulsystem nutzen zu können. Außerdem trifft das Folgende nicht auf alle Bildungseinrichtungen zu. Es geht um allgemeine Kritik am System.
2.3.1. PISA
Woher kommen all die Aussagen, dass es um Deutschlands Bildungssystem so schlecht bestellt sei? Zum Beispiel von regelmäßig durchgeführten OECD-Studien. Unter anderem der deutsche Bildungsforscher Andreas Schleicher wünschte sich 1995, die Schulleistungen der Mitgliedsstaaten messen, vergleichen und bewerten zu können, um daraufhin Verbesserungen vornehmen zu können, die den Volkswirtschaften zugutekommen sollen. Seitdem wurden Studien wie PISA Teil einer „multinationalen Testindustrie“ (Precht 2013: 88) zur Evaluation von Schülerleistungen, für die ein enorm großer finanzieller und personeller Aufwand betrieben wird. Anhand von Tests, die die mathematische Kompetenz, die naturwissenschaftliche Grundbildung und die Lesekompetenz erfassen sollen, werden Daten veröffentlicht, die den Bildungspolitikern und der Bevölkerung zeigen sollen, wie es um das nationale Bildungssystem steht. Das Ziel der Studien ist durchaus als legitim anzuerkennen, ebenso der Fakt, dass das Thema Bildung und Bildungsrevolution so immer wieder in die Diskussion gebracht wird. Doch Precht ist nicht der Einzige, der besorgniserregende Kritik an diesem Verfahren äußert. Denn zur Bildung gehört lang nicht nur Faktenwissen, sondern viele qualitative Daten, die sich nicht messen und normieren lassen. Aussagekräftige Daten können so überhaupt nicht generiert werden. Ebenso wenig werden die Fragen gestellt, wie man Schülerleistungen stei-gern kann und ob das zu mehr Lebensqualität des Einzelnen und Wohlstand der Nation beiträgt.
2.3.2. G8
Eine Maßnahme, auf dieses erschreckende PISA-Ergebnis für Deutschlands zu reagieren, war 1993 die Einführung von G8 (achtjähriges Gymnasium). Bildungspolitiker vertraten sie Annahme, die Schulbildung müsse effizienter werden, was durch die Erhöhung des Umfangs vom Unterrichtsstoff und dem Leistungsdruck zu erreichen sei. Aufgrund des hohen wirtschaftlichen Drucks auf die Schulpolitik wurde schließlich die Entscheidung getroffen, das 13. Schuljahr abzuschaffen und die Gymnasialzeit von neun auf acht Jahre zu verkürzen. Die fortschreitende Globalisierung versetzt Politiker und Ökonomen in Angst, auf dem Weltmarkt nicht mehr wettbewerbsfähig zu sein, da Unternehmen immer jüngere Mitarbeiter suchen, die anpassungsfähiger, leistungsfähiger, belastbarer und formbarer als ältere Arbeitskräfte sind. Die Laufbahnen an Schule und Universität sollten folglich schneller beendet werden, ohne dass das Bildungsniveau absinkt. Doch dieser Beschleunigungswahn und die Annahme, schneller gehe mit mehr wirtschaftlicher Effizienz einher, sind in der Schule völlig fehl am Platz. Schon Humboldt zeigte, dass Bildung am besten in einem entspannten Rahmen ohne Druck gelingt. Dass nachhaltige Bildung langfristig für mehr ökonomischen Erfolg sorgt, wurde ebenfalls ausgeblendet. Die negativen Folgen davon, die Kürzung der Schulzeit ohne jeglichen Rat von Entwicklungspsychologen durchgesetzt zu haben und nicht über die persön-lichen Folgen für den Einzelnen und somit auch für die Gesellschaft nachgedacht zu haben, werden im Alltag sichtbar. Durch den erhöhten Leistungsdruck, die meist gleich gebliebene Menge an Unterrichtsstoff in weniger Zeit absolvieren zu müssen, sind zwei Drittel aller Gymnasiasten überfordert, ausgebrannt und haben das Gefühl, nicht zu genügen, obwohl sie gar nicht schlechter wurden. Doch statt der Begeisterung der Schüler am Lernen wird nur noch ihr Funktionieren gefördert. „Wer Vorgaben am genausten erfüllt, wird am höchsten gelobt.“ (Precht 2013: 105). Für die wirtschaftliche Verwertbarkeit des Wissens werden Fleiß, Spezialisierung und Anpassung an das System mehr wertgeschätzt als Kreativität, innovative Ideen und Originalität. Was das für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft bedeutet, „clevere, hochgezüchtete Spezialisten“ auszubilden statt „selbstbewusste und umsichtig gebildete Menschen“ bleibt offen (Precht 2013: 87).
2.3.3. Effizienz des Gelernten
Doch wie effizient ist dieses Lernen, wie es an unseren heutigen Schulen praktiziert wird? Laut dem Psychologen Thomas Städtler ist die Effizienz sehr fraglich. Er geht davon aus, dass nur rund ein Prozent des gesamten gelernten Schulwissens im Langzeitgedächtnis verankert wird. Stattdessen findet ein Training des Kurzzeitgedächtnisses statt und die Schüler sprechen von „Bulimie-Lernen“. Klar ist, eine umfassende Grundbildung wird so nicht erreicht. Außer-dem ist das, was wir in Schule und Universität lernen oft gar nicht mehr so relevant. In Zeiten digitaler Lexika kommt es nicht auf die Anhäufung von Wissen an, sondern um die persönlichen Fähigkeiten, dieses anzuwenden. Schon Immanuel Kant verstand unter Pädagogik die „Erziehung zur Persönlichkeit, Erziehung eines frei handelnden Wesens, das sich selbst erhalten, und in der Gesellschaft ein Glied ausmachen, für sich selbst aber einen inner[e]n Wert haben kann“ (Precht 2013: 28). Laut Precht geht es bei Bildung also darum, diesen inneren Wert zu stabilisieren, die Begeisterungsfähigkeit von Kindern zu erhalten und sie darin zu unterstützen, ihren eigenen Weg zu finden. Denn „zu[r] Persönlichkeit […] kann man sich nicht ausbilden, nur bilden“ (Precht 2013: 103). Bildung bedeutet also, vielfältiges Wissen differenzieren und miteinander verknüpfen zu können und daraus eigene Gedanken und Ideen zu entwickeln. Diese Kreativität, die es ermöglicht unbekannte Sachverhalte zu erforschen, wird allerdings von vornherein unterbunden. Denn von Anfang an steht fest, welches Ergebnis an Wissen das Resultat sein soll, welches dann durch Klausuren und Tests überprüft und bewertet wird. Dies untergräbt jegliche Möglichkeit, Kinder nach ihren individuellen Begabungen zu fördern, wenn alle Schüler zum gleichen Zeitpunkt das gleiche vorgegebene Klassenziel zu erreichen haben. Und das obwohl der jeweilige Prozess des Lernens so individuell ist wie die Kinder selbst. Schüler, denen das Lernen leichtfällt, sind so gezwungen, sich den langsam Lernenden anzupassen und umgekehrt. Das führt zu unbefriedigenden Lernerfolgen auf beiden Seiten. Die Erfahrung, als Individuum keine Bedeutung zu haben, also als Objekt behandelt zu werden und nicht von anderen Menschen differenziert zu werden, gepaart mit Druck und Stress von außen und gefolgt von Frustration und Prüfungsangst, führt zwangsläufig dazu, dass viele Kinder und Jugendliche nicht gerne in die Schule gehen und nicht viel vom Gelernten als Wissensschatz übrig bleibt.
2.3.4. Leistungsbewertung durch Noten
In der Kritik Prechts steht auch die Leistungsbewertung durch Noten. Dieses sechsstufige Notensystem wurde 1938 eingeführt; zu einer Zeit, als das Wissen über die psychischen Folgen dieses Systems bei Kindern noch nicht so fortgeschritten war wie heute. Inzwischen sind sich Hirnforscher wie Gerald Hüther und Manfred Spitzer einig, dass sich Noten kontraproduktiv auf den Lernprozess und –Erfolg der Schüler auswirken, da sie die intrinsische Motivation zerstören und dafür sorgen, dass Kinder nicht mehr des Lernens wegen, sondern nur aufgrund des Strebens nach guten Noten lernen. Außerdem messen sie nur, wie stressresistent ein Schüler ist und wie fähig, im richtigen Moment das wiederzugeben, was der Lehrer hören möchte. Eigenschaften wie Selbstbewusstsein, Charakterstärke und Teamfähigkeit werden völlig außer Acht gelassen. Die Fähigkeiten, auf die es im Leben und im späteren Beruf ankommt, sind durch Noten nicht quantitativ messbar. Auch als Erwachsene würden wir ständige Leistungskontrollen als unzumutbar bewerten. Kinder sind ihnen allerdings ständig und unumgänglich ausgesetzt. Zudem lässt sich im Schulalltag beobachten, dass sich Lehrer in dem Wissen, dass dies zu mehr Frust und Demotivation auf Seiten der Schüler führt, kaum noch trauen, schlechte Noten zu geben. Laut Precht ist dies ein eindeutiges Zeichen dafür, dass das Notensystem überholt ist.
2.3.5. Chancenungleichheit und soziale Selektion
Verfassungsrechtlich ist jedem deutschen Staatsbürger der Zugang zu Bildung garantiert und darf nicht aufgrund von Herkunft, Geschlecht, Religion oder sozialer Schicht eingeschränkt sein. Dennoch gehört Deutschland unter den OECD-Staaten zu den Ländern, in denen der soziale und wirtschaftliche Hintergrund einen besonders hohen Einfluss auf den Zugang zu Bildung und eine erfolgreiche Schullaufbahn hat. Ebenso die Selektion schwächerer Schüler sowie die Benachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund und/oder Behinderung zeigen auf, dass die Bildungschancen sehr ungleich verteilt sind. Auch das Bildungsniveau des Elternhauses gilt oft als entscheidender Faktor, ob eine erfolgreiche Schullaufbahn gelingt oder nicht.
Ein großes Problem stellt das dreigliedrige Schulsystem dar. Schon im Alter von zehn Jahren, so früh wie in keinem anderen Land Europas, abgesehen von Österreich, werden Grundschulkinder beurteilt, in welchen der drei Schultypen, Gymnasium, Realschule oder Hauptschule, sie anscheinend passen. Dass in diesem Alter wenig fundierte Klassifizierungen vorgenommen werden können, diese jedoch die Förderung der folgenden Schullaufbahn determiniert, was sich auf das gesamte Leben auswirken kann, ist leicht nachzuvollziehen. Außerdem ist das System sehr undurchlässig und das Aufsteigen in eine höhere Schulform eine große Herausforderung. Schnell kommt hier die Vermutung auf, es handle sich um soziale Selektion. Und das ist laut Precht auch der Fall. Das Bildungsziel, heruntergebrochen in Klassenzielen ist quantitativ, indem es in Noten gemessen wird und nicht qualitativ, an individuellen Lernfortschritten der Einzelnen gemessen. Das Ziel ist also die „Spreu vom Weizen“ (Precht 2013: 48) zu trennen. Fast die Hälfte eines Jahrgangs macht heute Abitur. Gleichzeitig befinden sich Hauptschulabsolventen am Rand der Gesellschaft. Wo Niedrigqualifizierte früher noch zur Mittelschicht gehörten, weil sie wichtige Arbeiten ausübten, war die Gruppe der heutigen „Bildungsverlierer“ nie so groß, denn Niedrigqualifizierte werden auf dem Ar-beitsmarkt durch die Automatisierung und Digitalisierung zunehmend ersetzbar gemacht. Ohne Schulabschluss sind die Aussichten auf einen Ausbildungsplatz noch schlechter und die Chance des sozialen Aufstiegs gleich null. Die Hauptschulen wurden zum „Auffangbecken und Verwahrungsort“ (Precht 2013: 58) der circa 950 000 Schüler, die sie in Deutschland besuchen. Humboldts Idee, dass der Berufsausbildung eine allgemeine Menschenbildung vorangehen solle, ist an diesen Orten kaum möglich, denn, wie Precht (2013, S. 59) es be-schreibt, sind Hauptschulen oft Bildungseinrichtungen, „in denen die sogenannten Bildungs-armen genau das bleiben – arm an Bildung“. Das Selbstwertgefühl der Schüler ist dement-sprechend niedrig und der Teufelskreislauf von Frustrationserlebnissen macht es unmöglich, guten Unterricht zu gestalten. Dieses Konzept der Hauptschule ist also absolut nicht mehr zeitgemäß, denn es stellt keinerlei allgemeine Bildungsgrundlage dar und eröffnet den Schülern keine Berufsperspektiven. Eine ähnliche Selektion wie durch das Aufteilen in Schultypen findet durch die Nichtversetzung in die nächste Klassenstufe statt, die Anfang des 19. Jhd. eingeführt wurde. Oft betrifft das Schüler der unteren Gesellschaftsschichten, welche sowieso schon benachteiligt sind, weil den Familien Geld für gezielten Nachhilfeunterricht fehlt und die Eltern ihren Kindern zum Beispiel aufgrund eines Migrationshintergrunds und schlechten Deutschkenntnissen keine Unterstützung bei den Schulaufgaben sein können.
Damit schließt sich der nächste wichtige Faktor an, der für den schulischen Werdegang von großer Bedeutung ist: Die familiäre Herkunft. Ob man Akademiker-Eltern hat oder aus einer Familie mit Migrationshintergrund stammt, die noch nicht lange in Deutschland lebt, ist entscheidend für die Förderung des eigenen Kindes. Nun lässt sich dies nicht für alle Familien verallgemeinern, doch Zahlen zeigen, dass nur 15 Prozent der Hauptschüler Deutsche sind und weniger als ein Prozent aller Kinder aus Arbeiterfamilie später in Führungspositionen arbeiten.
Die Frage ist: Könnte diese Chancenungleichheit gewollt sein, wenn die Wirtschaft von kurzzeitig angestellten Arbeitskräften im Niedriglohnsektor profitiert und die Allgemeinheit als Entschädigung das Zahlen von Sozialleistungen bevorzugt? Ist es beabsichtigt, dass die gesellschaftlich Privilegierten Bildung als Statusgarant sehen? Schließlich hat Bildung in den meisten Fällen heutzutage drei Funktionen: Erstens, sich für einen Beruf zu qualifizieren, der Status und finanzielle Sicherheit garantiert, also die Kapitalisierung von Bildung. Zweitens die Legitimation dieses sozialen Status‘ und somit auch der Einkommensunterschiede und drittens das Wahren dieser Statusposition durch die Weitergabe von Wissen an die Kinder und maximale Förderung, also ein „Monopolisierungseffekt durch [die] Weitergabe von Startvor-teilen“ (Precht 2013: 48, zit. nach Bude 2011: 35-37).
Lässt es sich wirklich nicht vermeiden, dass Menschen in diesem Wettbewerb auf der Strecke bleiben, wie Bildungspolitiker so oft behaupten? Anders ist das an stark nachgefragten Privatschulen: Lehrer dieser Schulen sind im Schnitt motivierter, es herrscht ein besseres Lernklima und die pädagogischen Konzepte sind innovativer. Warum übernehmen öffentlich Schulen letztere Konzepte nicht auch, wenn dies für mehr Zufriedenheit bei Eltern und Schülern sorgt? Auch mit Blick auf diese Erfolge stellt sich die Frage, ob das Prinzip der öffentlichen Bildung folglich so überhaupt erhalten bleiben kann. Um dem Grundsatz des gleichen Zugangs zur Bildung gerecht zu werden, muss sich das System öffentlicher Schulen dringend reformieren. Denn im Endeffekt läuft es auf die Frage hinaus: „Will ich das Beste für mein Kind – oder will ich das Beste für die Gesellschaft, in der mein Kind später leben wird? Dabei ist am Ende die zweite Option die Voraussetzung für die erste“ (Precht 2013: 80). Das Ausweichen auf elternfinanzierte Privatschulen ist also keine Lösung für das Problem. Das gesamte Schulsystem muss sich revolutionieren. Wenn es um die Zukunft der Bildung kommender Generationen und somit der Gesellschaft geht, ist es erforderlich, mehr finanzielle Mittel für das öffentliche Schulsystem aufbringen.
2.4. Anforderungen der heutigen Zeit
Es wurde nun deutlich, dass eine grundlegende Veränderung des Bildungssystems notwendig ist, um uns als Gesellschaft in eine positive Richtung weiterzuentwickeln. Welchen Einfluss hat Bildung auf die Entwicklung der Gesellschaft? Wie muss sich das Bildungssystem an die Anforderungen der heutigen Zeit anpassen?
Vorwegnehmend ist es wahrscheinlich, dass ein neues Bildungssystem die gesamte Gesellschaft reformieren würde und somit „der vielleicht wichtigste Teil einer großen sozialen Transformation“ (Precht 2013: 22) ausmachen würde. Bildung ist (neben Religion) einer der wichtigsten Faktoren für den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft. Als politischer Auf-trag sorgt das Bildungssystem dafür, dass die Bürger ein Grundverständnis von demokratischen Prozessen erlangen und verstehen, wie das politische System funktioniert, um Anteil an der repräsentativen Demokratie zu nehmen. Wirtschaftlich gesehen ist Deutschland ein Land, dessen Wohlstand auf Know-How statt Ressourcen basiert. Dementsprechend spielt die Bildung eine große Rolle für die Zukunft des Landes. Sich bei der Frage, in welche Richtung unser Schulsystem sich entwickeln sollte, von Arbeitsmarkprognosen beeinflussen zu lassen, ist allerdings wenig zielführend. Bildungsforscher prognostizieren, dass 65 Prozent der Heranwachsenden in Berufen arbeiten werden, die es heute noch nicht gibt. Da also keiner genau weiß, was in Zukunft auf uns zukommt, ist es weniger wichtig, was den Schülern gelehrt wird. Von viel größerer Bedeutung ist, dass sie lernen, sich selbstständig Wissen anzueignen, um sich in der komplexen Welt zurechtzufinden. Außerdem kann der Arbeitsmarkt sich in Zeiten geburtenschwacher Jahrgänge kein Aussortieren von jungen Menschen in der Schule leisten, welche in alten und neuen Berufen später unentbehrlich für die Wirtschaft sein werden. Im Zuge der Digitalisierung verschwinden viele Jobs, vor allem in der Produktion. Gleichzeitig entstehen aber besonders im quartären Sektor neue Arbeitsfelder, bei denen es darauf ankommt, komplexe Netzwerke zu organisieren. Auf dem zukünftigen Arbeitsmarkt werden deshalb Qualitäten wie Flexibilität, Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit, Fremdsprachenkompetenz, interdisziplinäre Kompetenz, aber auch emotionale Intelligenz gefordert. Darum kommt es zukünftig auf eine vielseitige, ganzheitliche Bildung an, um komplexe Prozesse verstehen und organisieren zu können. Wir brauchen „selbstständig den-kende Menschen, kreative Konfliktlöser, führungsstark[e] und in höchstem Maße teamfä-hig[e]“ (Precht 2013: 19) Menschen. Die Aufgabe der Schule sollte es also sein, die Persön-lichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen zu unterstützen, damit diese sich so gut wie möglich in der Welt zurechtfinden und sie zu ermutigen, ihre Lebensgestaltung aktiv in die Hand zu nehmen. Die heutigen Gestaltungsmöglichkeiten bieten so viel Freiheit, dass es wichtig ist, zu lernen, mit dieser umzugehen und den eigenen Weg zu finden. Außerdem bringt sie die Notwendigkeit mit sich, sich in dieser schnelllebigen Zeit der Informationsverbreitung das ganze Leben lang zu bilden. Hierfür ist es ausschlaggebend, dass Kinder ihre Freude am Lernen beibehalten, ihnen bewusst ist, wofür sie sich bilden und lernen, ihre eigenen Potenziale in ihrer Aufgabe und der Gesellschaft zu entfalten. Da Wissensbereiche sich so schnell erweitern und es durch die Digitalisierung möglich wurde, jeder Zeit darauf zuzugreifen, wird es immer weniger wichtig, nach Beenden der Schullaufbahn einen bestimmten Wissensstand aufweisen zu können. Lehrer sind in Zukunft also viel eher als „Darstellungs- und Vermittlungskünstler“ (Precht 2013: 141) gefordert wie als Wissenslieferanten. Zudem kommt hinzu, dass das Lernen über Lernsoftwares immer beliebter wird. Folglich muss sich die Schulbildung der digitalen Revolution anpassen und kann diese nutzen, indem sie die an vielen Schulen noch mangelhafte Medienkompetenz stärkt. Die wahre Bildung des 21. Jhd. ist, sich in diesem Netzwerk orientieren zu können, Quellen auf ihre Vertrauenswürdigkeit prüfen zu können, zu beurteilen, zwischen den Zeilen zu lesen und Wissen einen Sinn, Tiefe und Bedeutung zu verleihen. Hierfür sind persönliche Qualitäten gefragt, die im aktuellen Schulsystem nicht herausgebildet werden und die wohl eher in Assessment-Centern beurteilt werden anstatt anhand der Noten eines Schul- und Hochschulabschlusses.
Um auf den Aspekt des lebenslangen Lernens zurückzukommen, ist außerdem zu beobachten, dass Lernen immer mehr aus seiner institutionellen Verankerung gelöst wird. Universitäten stellen Vorlesungen kostenfrei im Internet zur Verfügung und Forscher halten Präsentationen auf YouTube. Um zu vermeiden, dass darauf nur die sowieso schon höher gebildeten Bürger zurückgreifen und die soziale Kluft zwischen den Menschen, die sich permanent weiterbilden und denen, die das nicht tun, größer wird, muss schon in der Schule ein Bewusstsein für diesen Wandel und die Freude am ständigen Sich-Weiterentwickelns geschaffen werden.
Warum das Schulsystem heutzutage so ist, wie wir es vorfinden, lässt sich im geschichtlichen Rückblick gut nachvollziehen. Es wird allerdings deutlich, dass dies nicht mehr zeitgemäß ist. Trotz der an vielen Stellen fehlenden Innovationskraft, wurden bereits große Anstrengungen darauf verwendet, den Schulalltag zu verbessern, beispielsweise durch das Fach Lernen lernen, durch jahrgangsübergreifenden Unterricht und Selbstkontrollbögen. Da allerdings nur versucht wird, diese Veränderungen an das überholte System „dranzuflicken“, sind diese neuen Konzepte oft wirkungslos. Eine Veränderung des gesamten Bildungssystems ist also unumgänglich.
Ein wichtiges Prinzip, welches in Zukunft dafür notwendig sein wird, ist die Abschaffung des Bildungsföderalismus. Die Bundesregierung kann kaum Einfluss auf die Schulpolitik nehmen und somit auch keine innovativen Neuerungen bundesweit einführen. Damit das gelingt, braucht es „kollektive Anstrengung und eine zentrale Koordination“ (Precht 2013: 321). Das Chaos und die Niveauunterschiede, die daraus resultieren, dass jedes Bundesland ihre Schulbildung allein vorgibt, bekommt man im Alltag oft zu sehen und zu spüren. Dieses System ist „zu umständlich, zu ineffektiv, zu langsam und zu teuer“ (Precht 2013: 323). Grundlegende Veränderungen müssen also von der Bundespolitik beschlossen und koordiniert werden, damit diese nationale Gültigkeit erfahren. Prechts (2013: 323) Vorschlag ist, in diesem Zuge einen „nationalen Bildungsrat[s]“ zu gründen, mit dem Ziel, dass Länder wichtige Zuständigkeiten an den Bund abgeben müssen und die Kommunen und Städte dafür mehr Selbstbestimmungsrecht über die einzelnen Schulen bekommen, die sich an den national festgelegten Standards orientieren. Dies würde die Gestaltungsfreiheit in der Umsetzung dieser Standards erhöhen und Schulen wäre es möglich, in einen kreativen Wettbewerb untereinander zu gehen, indem sie sich durch unterschiedliche Profile und Schwerpunkte auszeichnen. Die einzige Möglichkeit, im Rahmen des Bildungsföderalismus Veränderungen hervorzurufen, wäre sonst nur die, dass Parteien Bildungsreformen in ihre Programme aufnehmen, die von der Bevölkerung abgestimmt werden. Außerdem sollen alle europäischen Länder langfristig gemeinsame Bildungsstandards und eine gemeinsame Schulform anstreben.
2.5. Vision eines besseren Schulsystems
Im Folgenden soll es nun darum gehen, an konkreten Vorschlägen aufzuzeigen, wie ein innovativeres und nachhaltigeres Bildungssystem im 21. Jhd. konkret aussehen könnte. Als allgemeines Ziel der Schulpädagogik trifft es ein Zitat von François Rabelais sehr gut: „Kinder sind keine Fässer, die gefüllt, sondern Flammen, die entfacht werden wollen.“ (Kahl 2008). Damit dies gelingt, fordert Precht die Abschaffung des vierjährigen Grundschulmodells. In Ländern wie Finnland und Schweden, welche für ihr innovatives Schulsystem bekannt sind, hat sich ein langes gemeinsames Lernen bewährt. Dementsprechend soll die Grundschulzeit verlängert werden und die Aufteilung erst so spät wie möglich, etwa nach der 10. Klasse, stattfinden, damit mehr ihrer Begabungen zum Vorschein kommen können. Außerdem soll der Unterricht jahrgangsübergreifend stattfinden, um das voneinander Lernen der Schüler zu fördern. Dazu muss eine gesellschaftliche und politische Akzeptanz dafür entstehen, dass bestimmte Bereiche, das Bildungssystem einschließend, nicht an kurzfristiger wirtschaftlicher Effizienz gemessen werden können und dürfen.
Außerdem müssen Lehrpläne und Schulstoff gekürzt werden, mit bewussterem Blick auf die Inhalte, von denen Kinder und Jugendliche im späteren Leben noch Gebrach machen können. Wenn das allgemeine Bildungsniveau der Schulen angehoben werden soll, müssen weniger Inhalte mit mehr Tiefe vermittelt werden, um diese verstehen, einordnen und schließlich anwenden zu können. Johann Amos Comenius sagte in diesem Zusammenhang: „Lehrer, lehrt weniger, damit eure Schüler mehr lernen können“ (Precht 2013: 119).
Soziale Kompetenzen wie Hilfsbereitschaft, Verlässlichkeit, Teamfähigkeit und Fairness erlernen Kinder dabei in Projekten, in denen sie erworbenes Wissen unmittelbar auf ihre soziale Realität übertragen. Jede Art sozialer Praxis wirkt sich positiv auf die kognitiven Fähigkeiten aus, ebenso wie künstlerisch-kreative Aktivitäten wie theaterspielen, malen, musizieren und tanzen und sollten somit integraler Bestandteil des Unterrichts sein. Fachübergreifende Projekte würden dabei ermöglichen, Zusammenhänge besser zu verstehen und angesammeltes Wissen stärker miteinander zu verknüpfen, wodurch es besser im Gedächtnis verankert wird. Hier hinzuzufügen ist auch, dass Schule nicht der einzige Ort ist, an dem Bildung stattfindet. Vor allem während Freizeitaktivitäten machen Heranwachsenden wichtige Erfahrungen, die sie als Persönlichkeit wach-sen lassen. Sie erleben dabei das Meistern von kleinen Herausforderungen, Erreichen selbstgesteckter Ziele und Umsetzen neuer kreativer Ideen. Sie lernen außerdem, mit Misserfolgen und Scheitern umzugehen. Trotz des Verzichts auf das bestehende Notensystem ist es durchaus sinnvoll, Schüler durch spielerischen Wettbewerb zu motovieren und ihre Lernfortschritte in Zeugnissen festzuhalten, doch sollten diese sich an dem Maßstab der persönlichen Leistungskurve des Individuums und nicht am Vergleich mit anderen orientieren. Ebenso die Nichtversetzung führt in fast allen Fällen zu mehr Frustration und Demotivation und sollte somit nicht Teil zeitgemäßer Schulpädagogik sein. In Finnland und Dänemark wird dies gelöst, indem Kinder individuelle Förderung in den Bereichen erhalten, in denen sie Schwierigkeiten haben, was durch kleinere Klassen mit weniger Schülern und mehr Lehrern zu be-werkstelligen ist. Ein solches Konzept zu finanzieren wäre nicht sehr schwierig; Steuerein-nahmen und Gelder des Bundeshaushaltes würden lediglich umverteilt werden und es stünden mehr finanzielle Mittel zur Investition in das Bildungssystem zur Verfügung, aufgrund niedrigerer Sozialleistungen als Folge einer besseren Bildung und eines gelingenden Berufseinstieges.
Ein, dem Namen entsprechend sehr fortschrittliches und zukunftsfähiges Modell entwickelte der Reformpädagoge Carleton Washburne im Jahr 1922 unter dem Namen Progressive Education (Precht 2013: 226). Dieses beinhaltet unter anderem das Konzept des Mastery-Learning[s] (Precht 2013: 226). In diesem erstellte Washburne zu Anfang eine Übersicht der Dinge, die Kinder seiner Meinung nach in der Schule lernen und danach beherrschen sollten. Dies sind eine korrekte Rechtschreibung und gute Lesefähigkeit und ein Grundverständnis von Mathematik und Naturwissenschaften, um rechnen und abstrakt denken zu können. Precht fügt dem ein gutes mündliches Ausdrucksvermögen in der Muttersprache und Grundkenntnisse in Fremdsprachen hinzu, welche aufgrund der Globalisierung immer wichtiger werden. Mit diesem Wissen sollen die Schüler in der Lage sein, die historischen, politischen und wirtschaftlichen Dimensionen ihres Lebens nachzuvollziehen und selbstbe-wusst an Herausforderungen in ihrem Leben heranzutreten.
Statt nach Jahrgangsklassen strukturiert Washburne die Inhalte nach „Ebenen des Verstehens und Begreifens“ (Precht 2013: 227). So soll jedes Kind selbstständig lernen und sich die Inhalte im eigenen Tempo aneignen. Dadurch entstehen keine Lernlücken, die Schüler lernen stattdessen „dicht, kontinuierlich, passend und aufbauend“ (Precht 2013: 229), verstehen direkt und können das Wissen somit auch im Alltag anwenden. Die Lehrer dienen dabei als Lernbegleiter und Mentoren und werden nicht mehr als Gegner wahrgenom-men. Precht fügt an dieser Stelle hinzu, dass die Verbeamtung von Lehrern abgeschafft werden müsste, um zu vermeiden, dass Einzelne diesen Beruf aus falscher Motivation heraus ergreifen.
Da der Maßstab der Zeit, in welcher Inhalte vermittelt werden, wegfällt, muss automatisch auch die Bewertung durch Noten wegfallen. Kinder sollen sowohl durch Einzel- als auch durch Gruppenarbeit Erkenntnisse aus unterschiedlichsten Bereichen gewinnen. In dieser Version eines Schulsystems werden alle individuell gefordert und gefördert. Im Wett-bewerb steht der Einzelne nur mit sich selbst, immer mehr lernen zu wollen. Das Lernziel entspricht nicht einer Note, die gegebenenfalls durch die subjektive Bewertung eines Lehrers gegeben wurde, sondern dem Erreichen eines bestimmten Lernstands. Auf diese Weise ist es außerdem möglich, lernbehinderte Kinder ohne Schwierigkeiten in der Schule zu integrieren. Auch der Notwendigkeit der Bewegung kann entsprochen werden, da Kinder in ihrem eigenen Rhythmus lernen und so individuell Bewegungspausen eingelegt werden können.
Das Konzept des Mastery-Learnings wurde in Modellversuchen in den Vereinigten Staaten von Amerika getestet und galt als großer Erfolg. Leider geriet es schließlich wieder in Vergessenheit, da sich das traditionelle System mit seinen festgefahrenen Strukturen durchsetzte. In Deutschland bekam der Reformversuch von Anfang an wenig Aufmerksamkeit. Angesichts der Tatsache, dass es sich in unser heutiges System der Leistungsgesellschaft integrieren ließe und es sich statt um ein Gegeneinander um ein Miteinander handeln würde, würde es sich lohnen, dieses Konzept für eine zukünftige Bildungsre-form in Erwägung zu ziehen.
Trotz aller Kritik am vorherrschenden System erkennt Precht an, dass Kinder und Jugendliche in Deutschland nach wie vor in eine Leistungsgesellschaft hineingeboren werden. Darauf sollten sie in der Schule auch vorbereitet werden und entsprechende Leistungsbewer-tungen und Zeugnisse erhalten. Diese sollten allerdings den Lernfortschritt und die Persön-lichkeit der Schüler beschreiben, und nicht von dem Urteil eines einzigen Lehrers abhängen. Hierfür ist es notwendig, dass mehrere Lehrer ihre Schüler gut kennen und ein Lehrer eine Klasse länger unterrichtet, um ein Verantwortungsgefühl für deren Lernfortschritt zu entwickeln. Hüther spricht hier von der Notwendigkeit einer intensiveren „Beziehungs- und Verantwortungskultur“ (Hüther et al. 2020: 37).
Dies gilt auch für andere. Eine ganzheitliche Bildung kann nicht mehr allein durch Kindergärten, Schulen und Universitäten bewerkstelligt werden. Die ganze Zivilgesellschaft, das persönliche Umfeld sowie politische Gremien sollten sich für die Bildung aller einsetzen und sich dafür verantwortlich fühlen. Eine Maßnahme, die weite Teile der Zivilgesellschaft in die Schulbildung miteinbezieht, ist, Pensionäre anderer Berufsgruppen die Möglichkeit zu geben, zu unterrichten. Durch ihre vielseitige praktische Erfahrung im Arbeitsalltag wäre dies eine große Bereicherung. Eine andere Gestaltungsmöglichkeit ist, Experten und bekannte Persönlichkeiten zu bestimmten Themen und Projekten in die Schulen einzuladen, wie es oft an der Leuphana Universität während der Konferenzwoche stattfindet. Dadurch werden Schüler und Studierende inspiriert, erweitern ihren Horizont und bekommen neue Anregungen.
Weitere wichtige Komponenten, die den Schulalltag laut Precht angenehmer gestalten würden, sind eine lernfreundliche Schularchitektur sowie Schuluniformen, die Äußerlichkeiten unwichtig machen. Des Weiteren spricht er sich für die Ganztagsschule bis 16 Uhr aus, die anbietet, dass Übungsaufgaben in der Schule erledigt werden. Das Nicht-angewiesen-sein auf die Unterstützung der Eltern sorgt so für mehr Bildungsgerechtigkeit.
Zusammenfassend wird deutlich, wie viele Menschen sich in der Vergangenheit Gedanken darüber gemacht haben, wie sich unser Bildungssystem in einer positiven Weise weiterentwickeln kann. Die konkreten Handlungsvorschläge zeigen, dass dieser Wandel möglich ist. Das menschliche Gehirn ist lebenslang in der Lage, eingefahrene Denkmuster an neue Gegebenheiten anzupassen. Dennoch passiert es immer wieder, wie es auch mit dem Mastery-Learning geschah, in alte Muster und Routinen zurückzufallen. Die bestehende Vorstellung davon, wie eine optimale Erziehung und Bildung ausse-hen könnten, ist so verschieden, dass es lange Zeit brauchen wird, bis eine grundlegende Veränderung vollzogen ist.
Trotz eventuell neuer Probleme, „lohnt es sich, im Interesse unserer Kinder, unserer Lehrer und unseres Landes dafür zu kämpfen, dass die Bildungspolitik den Blick auf die Bewahrung von Gestern verliert und endlich gemeinsam und in den großen Linien einig auf die Zukunft richtet“ (Precht 2013: 332).
3. Verknüpfung zu Ansichten von Marco de Angelis
Abschließend folgt eine Verknüpfung des Themas zu einigen Aspekten aus dem Buch „Philosophie für alle (1.0): Manifest für die philosophische Identität des europäischen Volkes“, im Jahr 2016 von Marco de Angelis veröffentlicht.
Angelis‘ Forderung nach einer stärker verbundenen Gemeinschaft der europäischen Staaten, basierend auf gemeinsamen ethischen Grundwerten wie Demokratie, Freiheit und soziale Gerechtigkeit, geht einher mit der Bestrebung Prechts, die jeweiligen Bildungssysteme der europäischen Länder durch gleiche Grundzüge auf eine gemeinsame Basis zu bringen. Wenn von einer „europäischen philosophischen Identität“ (Angelis 2016: 6) als ein Volk und ein Staatenbund die Rede ist, würde ein gemeinsames Bildungssystem, zumindest mit ähnlichen Grundzügen und Wissensinhalten, die Entstehung einer gemeinsamen Mentalität, Ethik und grundsätzlichen Werten sehr unterstützen und sich im Heranwachsen der jungen Generationen verfestigen. Die Sicherung des Friedens, die diese „Vereinigten Staaten von Europa“ (Angelis 2016: 6) zum Ziel hat, ist gleichzeitig Ausdruck der Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen, welcher so versucht wird nachzugehen.
Wie de Angelis (2016: 6) von dem Prozess der Bildung eines „wirklichen europäischen Staat[es]“ spricht, indem „wir endlich von der Währungs- und Wirtschaftseinheit zur politischen Einheit übergehen werden“, wird deutlich, dass er diese Veränderung als bereits kommend ansieht. Auch hier lässt sich eine Parallele ziehen, denn ebenso Precht und Hüther vertreten die Annahme, eine Bildungsrevolution sei schon im Gange bzw. wird in jedem Falle kommen und nicht aufzuhalten sein. Dabei gehen beide Prozesse Hand in Hand und treiben sich gegenseitig voran. In bewegten Zeiten, wie die Menschen sie gerade erleben, müssen sich die Grundsätze und mit ihnen die Systeme, den Anforderungen nach mehr Solidarität und Mut zu Innovationen anpassen. Be-wahrheitet sich die Annahme Angelis‘, dass die europäische Gemeinschaft folglich mehr globale Macht hätte, würde das im besten Falle zu mehr Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten führen, auch im Bezug auf ein höheres globales Bildungsniveau.
De Angelis (2016: 7) beschreibt, wie Einheiten in immer umfassenderem Rahmen wachsen könnten, von Dörfern zu Städten, Regionen und Nationalstaaten, bis hin zum „Kontinentalstaat“. In gleicher Weise könnte dies mit Veränderungen im Schulsystem geschehen, welche zuerst in der örtlichen Schule umgesetzt werden, folglich bundesweit und schließlich in der ganzen europäischen Gemeinschaft.
Zu dem wissenschaftlichen Aspekt der Philosophie äußert Angelis (2016: 9) in seinem Buch, die Philosophie sei keine von anderen Wissenschaften abgrenzbare Disziplin, habe keinen Ort und keine Zeit und „verschmilzt mit der Persönlichkeit, die sich mit ihr beschäftigt“. Sie sei nicht quantitativ messbar und ihre Anwendung oder Einfluss hänge vor allem von dem Menschen ab, der sich mit ihr befasst. Gleiches behauptet auch Hüther in seinem Buch „Education for future“. Bildung sei etwas, das immer, zu jeder Zeit und an jedem Ort geschehe, wo sich jemand mit einem bestimmten Thema auseinandersetzt (Vgl. Hüther et al. 2020: 304). Die zwei Kernaspekte von Philosophie und Bildung sind dabei das theoretische Wissen und das in die Praxis umgesetzte Handeln. Dabei ist ein fundiertes Wissen die Voraussetzung für reflektiertes Handeln. Laut Angelis kann ersteres als Wissenschaft betitelt werden und zweites als Weisheit bzw. die Fähigkeit, in „bestimmten Situationen angemessene Entscheidungen im Leben zu treffen, die es ermöglichen, das Leben in der jeweiligen konkreten Situation auf die bestmögliche Weise zu leben“ (de Angelis 2016: 9). Wie sehr die Philosophie an die Person gebunden ist, die sie ausübt, wird in der Bedeutung des Begriffs Philosophie als die Liebe zur Weisheit deutlich. Denn diese soll nicht nur der Einzelne für ein möglichst gelingendes Leben nutzen, sondern seine Weltkenntnis an seine Mitmenschen weitergeben und ihnen somit Gleiches ermöglichen. Dieser Aspekt des Verstehens und sich Zurechtfindens in der Welt setzen Precht und Hüther mit dem Begriff der Bildung gleich. Philosophie lässt sich somit mit umfassender Bildung gleichsetzen und sollte im Schulsystem von großer Bedeutung sein.
Angelis (2016: 11) spricht davon, Philosophie sei „die höchste der Wissenschaften und verein[e] alle anderen Wissenschaften in sich“. Neues Wissen kann dadurch generiert werden, dass auf Erkenntnisse früher gelebter Philosophen zurückgegriffen wird und gleichzeitig die heutige individuelle Sichtweise eines Menschen dazu beiträgt, zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Die Philosophie ist also laut de Angelis (2016: 10) ein „von der Liebe zur Weisheit und zur Wissenschaft geprägtes Verhalten“, das das Ziel hat, dass jeder Mensch durch die Vernunft seinen persönlichen Lebensweg findet, ein erfülltes Leben führen kann und ihm das auf der Grundlage von „wissenschaftliche[r] Weltkenntnis“ gelingt. Diese Definition entspricht also exakt dem, was in der vorliegenden Arbeit unter Bildung verstanden wird, und was durch die Veränderung des Bildungssystems erreicht bzw. verstärkt werden soll. Wissenschaftler beschäftigen sich dabei mit einer Disziplin, Philosophen aber genügt Grundwissen über vielseitige Fachgebiete, um daraus eine möglichst weise Lebensweise abzuleiten. Exakt dies fordert auch Precht durch eine ganzheitlichere Bildung. Die Philosophie ist laut Angelis die einzige Wissenschaft, die in der Lage ist, abzuschätzen, was in der Zukunft auf die Menschheit zukommt. Ihre Prinzipien sind allgemeingültig und können in einer ungewissen Zukunft Wegweiser sein.
Im weiteren Verlauf seines Buches erörtert Angelis die Begriffe der falschen und wahren Unendlichkeit. Unter letzterer versteht er dabei, dass der Mensch durch die Wiederholungen positiver und negativer Momente, erläutert auch am Beispiel des Studierens, Lernens und Schreibens von Prüfungen, einen Transformationsprozess erlebt und sich weiterentwickelt. Dieses Resultat ist das was zählt und gibt „den endlichen Momenten seiner Entwicklung einen Sinn“ (Angelis 2016: 36). So entwickelt sich das Individuum in der Schule, Universität und Lehre immer weiter und ist so im Stande, neue Herausforderungen im Leben anzunehmen. Das Resultat ist dabei schon vor dem Prozess des Werdens als „Potenz“ (Angelis 2016: 37) vorhanden. Hier lässt sich eine Parallele zu Hüther ausmachen, der von dem Potenzial spricht, was in jedem Menschen verankert ist. Beispielsweise ist der Schulabschluss „bereits präsent in jedem einzelnen Moment des Weges, der zum Endresultat führt“ (de Angelis 2016: 37). Dabei sind die Menschen vor allem schöpferische und rationale Wesen, die sowohl fähig sind zu verstehen, besonders aber zu erschaffen. Selbstverwirklichung und Glück erreicht das Individuum folglich durch das Erschaffen seines Lebens und das Ausleben seines schöpferischen Wesens.
Was Angelis (2016: 47) sich für die Umsetzung im Bildungssystem wünscht, ist das Lehren einer „Philosophie des Idealismus“, die alle empirischen Naturwissenschaften und Kenntnisse der Menschen über die Welt in einem System vereint. Dieses soll zu einer „ethisch-politischen Orientierung“ (de Angelis 2016: 47) beitragen, sodass alle Menschen eine gemeinsame Weltauffassung teilen. Die Grundlage würde die Entstehung eines Weltstaates begünstigen. Eine neue Art der Bildung würde dementsprechend das Lernen einer „als Muttersprache gelernten Weltsprache“ beinhalten, sowie gemeinsame Lehrprogramme, gepaart mit individuellen Inhalten der Nationen, die dazu beitragen, dass sich eine „weltweite Gemeinschaft der Weltbürger“ (Angelis 2016: 47) etabliert. Auch Precht fordert, dass Bildungsprogramme auf übergeordneter Ebene festgelegt werden. Er denkt dabei allerdings innerhalb der Landesgrenzen und strebt keine kollektive Vereinigung auf europäischer Ebene an.
Gelingen eine solche Erziehung und Bildung anhand gleicher ethischer Werte der idealistischen Philosophie, so würde das entscheidend zum zwischenmenschlichen Umgang beitragen. Wie auch Hüther es immer wieder fordert, betrachten sich Menschen in diesem Zuge als in ihrem Schöpferprozess einzigartige Subjekte, die ihr eigenes Potenzial entfalten und ihre Mitmenschen als Abbild ihrer Selbst anerkennen und unterstützen würden. Was Kant in seinem Kategorischen Imperativ und Hegel im Allgemeinen Selbstbewusstsein fordert, könnte durch eine ethisch ausgerichtete Bildung zur allgemeingültigen Maxime in der Gesellschaft werden und die Würde jedes Einzelnen würde gewahrt werden. Dies sollte in jedem Falle höchstes Ziel des Bildungssystems sein.
Um abschließend auf die mögliche Entstehung eines Weltstaats zurückzukommen, würde ein neues Bildungssystem, wie es Precht skizziert und auch Angelis andeutet, diese Entwicklung begünstigen. Für die aktive politische Teilnahme an der Demokratie, sowohl national als auch global, benötigen alle Menschen ein umfassendes fächerübergreifendes Wissen. Andersherum könnte auch ein Weltstaat zu mehr Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit führen, da allen Schülern weltweit die gleichen Grundwerte vermittelt würden. Würden zudem alle mit einbezogen, könnte sich ein neues Selbstverständnis sozialen Umgangs miteinander einstellen.
4. Fazit
Zusammenfassend wurde deutlich, welche Missstände im bestehenden Schulsystem vorliegen und dass es bereits viele Lösungsmöglichkeiten gibt, welche es gilt,
umzusetzen. Mithilfe philosophischer, pädagogischer und neurobiologischer Ansätze, wurde ermittelt, dass das tayloristische Schulsystem keine nachhaltige und ganzheitliche Bildung und Persönlichkeitsentwicklung der Schüler hervorbringt. Andere Unterrichtsformen, wie beispielsweise durch das Mastery-Learning präsentiert, würden außerdem langfristig zu mehr ökonomischer Effizienz und Zufriedenheit der Gesellschaft führen. Sie ermöglichen dem Einzelnen die Entfaltung seiner Potenziale und öffnet somit die Tore zur Entstehung einer solidarischeren Weltgemeinschaft.
Sehr treffend bringt Gerald Hüther (2020: 91-92) die aktuelle Situation aus einer zukünftigen Perspektive auf den Punkt: „Dann wird ebenfalls viel deutlicher als heute zu erkennen sein, dass es in diesem Bildungssystem niemals darum ging, Kinder und Jugendliche zu befähigen, ihr Leben selbstbestimmt und selbstverantwortlich in die eigenen Hände zu nehmen. Dass es nicht wirklich darauf ausgerichtet war, Heranwachsenden zu helfen, ihr Zusammenleben mit anderen Menschen und anderen Lebewesen so zu gestalten, dass es für alle fruchtbar und sinnerfüllend ist und nachwachsen-den Generationen neue Entfaltungsmöglichkeiten eröffnet, statt ihnen die Aufräumarbeiten aus einer ausgeplünderten und geschundenen Erde zu überlassen.“
5. Fußnoten
1) Zur leichten Lesbarkeit wird an einigen Stellen die männliche Form verwendet, es sind jedoch alle Geschlechter einbegriffen.
2) Precht, Richard David. Anna, die Schule und der liebe Gott: Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern. Orig.-Ausg., 1. Aufl. München: Goldmann, 2013.
3) PISA = Programme für International Student Assessment; internationale Schulleistungsuntersuchungen, die seit 2000 alle drei Jahre in den meisten Mitgliedsstaaten der OECD durch-geführt werden.
4) De Angelis, Marco, und Anja Unkels. Philosophie für alle (1.0): Manifest für die philosophische Identität des europäischen Volkes. Möhnesee: Phileuropa, 2016.
6. Literaturverzeichnis
Bude, Heinz. Bildungspanik: Was unsere Gesellschaft spaltet. München: Hanser, 2011.
Claus, Roman. Natura: Biologie für Gymnasien. Stuttgart: Klett, 1992.
de Angelis, Marco, Philosophie für alle (1.0): Manifest für die philosophische Identität des europäischen Volkes. Möhnesee: Phileuropa, 2016.
Hüther, Gerald, Heinrich, Marcell, Senf, Mitch. #Education for future: Bildung für ein gelin-gendes Leben. 1. Aufl. München: Goldmann, 2020.
Kahl, Reinhard. Die Schule geht in den Kindergarten. Zeit Online, 2008. https://www.zeit.de/online/2008/06/bildung-schule-kinderarten (Stand 15.03.2020).
Precht, Richard David. Anna, die Schule und der liebe Gott: Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern. Orig.-Ausg., 1. Aufl. München: Goldmann, 2013.
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