MENU
Wahrheit und Fake News

Wahrheit und Fake News

CHRISTOPH JAMME

Wahrheit und Fake News

 

*

 

Wir leben angeblich in einem Zeitalter der Information, aber diese Informationen werden zunehmend zum Problem oder besser, nicht die Informationen selbst eigentlich, sondern die Wege, sie sich zu beschaffen. Jugendliche zum Beispiel holen sich ihre Informationen nicht bei klassischen Medien, sondern bei YouTube und anderen sozialen Medien. Wenn man anfängt, sich mit einem Thema auseinanderzusetzen, kann YouTube wie Scheuklappen funktionieren. Das was YouTube dem Nutzer anbietet, fußt immer auf dem, was er vorher gesucht hat oder neu eingibt. Die Empfehlungsalgorithmen von YouTube blenden also auf Dauer andere vielleicht störende Sichtweisen aus und bestärken den Nutzer in seiner eigenen (vielleicht sich radikalisierenden) Meinung. Das macht diese sozialen Medien auch höchst anfällig für Demagogie, wie die aktuelle Kampagne gegen die EU-Urheberrechtsreform gezeigt hat. Oft tritt an die Stelle des Sachbezugs von Reden die emotionale Mobilisierung. Mit einer Welle von falschen Behauptungen überschwemmen Populisten den öffentlichen Raum. Immer mehr Menschen sind zum Beispiel davon überzeugt, dass der Klimawandel gar nicht von uns Menschen verantwortet wird. Anders lautende Aussagen von Klimaforschern halten sie für ein Symptom einer globalen Verschwörung. Die Alternative kann aber auch nicht sein, die Skeptiker umstandslos in die Ecke von geistlosen Zeitgenossen zu stellen. Auf diese um sich greifende Skepsis muss die Philosophie eine Reaktion anbieten. Diese besteht darin, detailliert zu erklären, welche Argumente und Gedankengänge Klimawissenschaftler zu ihren Ergebnissen führen. Weltweit gibt es seit einigen Jahren eine wachsende Community von Wissenschaftsphilosophen (zum Beispiel Eric Winsberg), die sich intensiv mit Klimaforschung auseinandersetzen und deren Vorgehen, die dabei einfließenden Annahmen, die herrschenden Unsicherheiten und den Gültigkeitsbereich ihrer Aussagen philosophisch kritisch prüfen. 


Es ist wichtig, das Philosophen sich aus der akademischen Deckung hervorwagen und sich zu politisch und ökonomisch relevanten Themen äußern. Viele, nicht nur Vertreter des liberalen Lagers, sehen in den gezielten Falschnachrichten von Rechtspopulisten eine Bedrohung. Zur Demokratie, so scheint es, gehört eine an Fakten orientierte Politik. So verschickte vor kurzem die Staatskanzlei von Rheinland Pfalz folgende Mitteilung: „Wir sind davon überzeugt, dass die vorbehaltlose Anerkennung von Fakten zum Wertefundament unserer liberalen Öffentlichkeit gehört. Die Bereitschaft, ja die Notwendigkeit, Gewissheiten von Annahmen und Fakten von Meinungen zu trennen, ist für das Gelingen einer demokratischen Debatte unerlässlich.“ (Als Autoren dieser „Erklärung“ firmierten Ministerpräsidentin Malu Dreyer und der Schriftsteller Robert Menasse. Dass ausgerechnet Menasse auf Faktentreue schwört, ist allerdings etwas komisch, da er selbst Fakten erfunden hat). So richtig es ist, dass Wissen, nicht Gefühle handlungsleitend sein sollen, ansonsten der Ruin des Gemeinwesens droht, so richtig ist es andererseits auch, dass eine faktengesättigte Politik nicht per se mit Demokratie und umgekehrt eine demokratische Verfassung nicht notwendigerweise mit einer Herrschaft der Fakten verbunden ist. Ja, so hat der Altphilologe Jonas Grethlein vor kurzem geschrieben, „die Berufung auf Fakten hat eher einen elitären Zug; sie setzt eine Bildung voraus, die man für sich selbst in Anspruch nimmt und seinen Gegnern abspricht. So berechtigt die Empörung über gezielte Desinformation auch ist, das Pochen auf Objektivität und Anprangern von sophistischer Rethorik kann selbst eine rethorische Strategie und ein Mittel für handfeste Partikularinteressen sein.“ (FAZ 18.12.2018).
 

Erschwerend hinzu kommt, dass die Wirklichkeit nicht jene ontologische Festgröße ist, als die sie von Frank Böckelmann bis Norbert Bolz gegen unliebsame politische Gegner des linksliberalen Spektrums in Stellung gebracht wird. Die "Wirklichkeit“, so Christian Geyer, lässt sich nicht "vom Baum pflücken wie ein reifer Apfel". Wer das Reale als „Realissimum“ (Böckelmann) monopolisiert, blendet aus, dass sich aus prinzipiellen erkenntnistheoretischen Erwägungen wie aus praktischer politischer Erfahrung über Konzepte des Realen nun einmal nicht hinaus gelangen lässt. „Eine der großen Leistungen der Kulturwissenschaften“, so Helmuth Lethen, „hat darin bestanden und besteht noch immer darin, zu untersuchen, welche sprachlichen und visuellen Konstruktionselemente die ’Effekte des Realen’ erzeugen, wie Wirklichkeiten durch routinierte oder unerwartete Techniken einer – sei es aus sich heraus leuchtenden (evidentia), sei es als bloß scheinhaft eingestuften – Offenkundigkeit produziert werden.“ Genauso verhält es sich mit der Berufung auf vermeintliche Wahrheiten. Auch hier tut eine grundlegende philosophische Besinnung  not.           

 I.
Der Begriff der Wahrheit gehört zu den umstrittensten Begriffen der Philosophie. So hat Kant die Auffassung vertreten, dass es kein allgemeines Kriterium der Wahrheit gebe (KrV B 82).  Aber er ist eben unverzichtbar, denn Wissenschaft beruht auf Wissen und dieses auf dem Besitz der Wahrheit. Die Frage nach der Wahrheit – in erster Linie: was Wahrheit ist, also die Frage nach dem Begriff  (dem Sinn, der Bedeutung, dem Wesen usw.) der Wahrheit – ist mithin eine zentrale Frage der Philosophie. Zählt die Wahrheitsthematik doch zu jenen privilegierten Mitgliedern des philosophischen Problembestandes, schreibt G. Siegwart, die durch keinen der zahlreichen Wechsel der Denkungsart an Interesse eingebüßt haben oder gar wirksam ins Obsolete abgeschoben worden sind. Nach Siegwart darf diese Überlebensfähigkeit als zuverlässiger Indikator für die Überkomplexität des Problems in der Gemeinschaft der Philosophen gedeutet werden.


 Im Folgenden will ich mich zunächst mit der theoretischen Wahrheit beschäftigen, also mit einem erkenntnistheoretischen bzw. epistemischen Wahrheitsbegriff, bevor ich dann auf die moralische Dimension eingehen will. Ich will zunächst versuchen, Ihnen einen ganz kurzen Überblick über zentrale Wahrheitsbestimmungen zu geben, die seit der Antike diskutiert werden. (Vgl. zum Folgenden den Artikel ‚Wahrheit‘ von Petra Kolmer, in: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Bd 3, Freiburg i. Brsg. 2011, 2397-2415). Da ist zunächst die ontologische Wahrheitsbestimmung, wie sie Platon in seinem Dialog Der Staat formuliert hat. Nach dem Staat ist es die „Idee des Guten“, die dem Seienden die Wahrheit verleiht, also sowohl das in Wirklichkeit Seiend-sein wie auch das als Wahrheit Erkennbar-sein; an Rang steht sie demnach noch über der Wahrheit. Berühmt geworden ist diese ontologische Wahrheitsbestimmung in der Formulierung von Augustinus: „verum mihi videtur esse id quod est.“ (Wahr scheint mir, was ist). Berühmt geworden ist daneben die ebenfalls in der Antike, nämlich ursprünglich bei Aristoteles, begründete sogenannte Korrespondenztheorie oder Adäquationstheorie der Wahrheit, der im Mittelalter von Thomas von Aquin die gültige Formulierung gegeben wurde: “veritas est adaequatio rei et intellectus“ (Wahrheit ist die Übereinstimmung des Dinges und der Vernunft). Daraus hat sich der klassische Verifikationismus entwickelt, der heute von Russell, Wittgenstein und Austin vertreten wird: eine Aussage ist genau dann wahr, wenn sie mit einem bestehenden Sachverhalt, d.h. einer Tatsache, übereinstimmt. Das entscheidende Problem für diese Theorie ist, den in der Definition auftretenden Ausdrücken „Tatsache“ und „Übereinstimmung“ eine klare Bedeutung zu verleihen. Heidegger hat daher den traditionellen Wahrheitsbegriff als bloße „Gewissheit“ kritisiert und gefragt, was im Beziehungsganzen der Adaequatio von Intellectus und Res immer schon unausdrücklich mitgesetzt ist bzw. welchen Charakter dieses Mitgesetzte hat. Der Rückgang auf die Subjekt-Objekt-Relation wie auch der damit einhergehende Ausgang vom Erkennen (das im Urteilen vollzogen wird) greifen zu kurz. Damit stellt sich die Aufgabe, die Seinsart des Erkennens eigens zu befragen. Diese liegt im „Entdeckend-sein“ der Aussage, was ontologisch jedoch nur auf dem Grunde des In-der-Welt-Seins möglich ist. Das Entdecken der Aussage und die Entdecktheit von innerweltlichem Seienden gründet aber ihrerseits in der Erschlossenheit oder Verschlossenheit des Daseins. D.h. dass die Wahrheit dem Seienden immer wieder neu abgerungen werden muss. Heidegger findet das schon im griechischen Äquivalent für Wahrheit, A-letheia, was Erschlossenheit, Unverborgenheit bedeutet. Auf die ontologischen Aspekte einer Wahrheitstheorie macht auch die (an G.W.F. Hegel orientierte) Kohärenztheorie L. B. Puntels aufmerksam, die Wahrheit als System von Systemen (Sprache und Welt) – neu – zur Geltung bringt und im Blick vor allem auf die Adaequationstheorie  einen integrativen Ansatz verfolgt. Ausgangspunkt ist die schon bei spätmittelalterlichen Autoren formulierte Erkenntnis, dass selbst dann, wenn ein propositionaler Wahrheitsbegriff als Ausgangspunkt gewählt wird, eine reine Satzanalyse (etwa im Rahmen einer formalen Semantik) nicht ausreicht. Es muss nämlich auch geprüft werden, wie Sätze überhaupt mit der Wirklichkeit verbunden sind und durch sie wahr gemacht werden können. Und für eine solche Prüfung ist es entscheidend, dass erläutert wird, was hier unter Wirklichkeit überhaupt zu verstehen ist. Dahinter steht die wiederum auf das Mittelalter zurückgehende begriffsrealistische Annahme einer „an sich“ propositional strukturierten Welt, die vor allem von Hegel und dem späten Wittgenstein vertreten wurde. Hier ist Welt theoretisch wesentlich eine Gesamtheit von Tatsachen, ein „intelligibler Bereich“, der durch eine satzförmige Sprache ausdrückbar und auch auf Ausdrückbarkeit hin angelegt ist. Nach Puntel kann unter Propositionen also nicht nur der Informationsgehalt eines Satzes, sondern muss auch noch eine, ja die primäre ontologische Identität verstanden werden, wenn der für die Objektontologie charakteristischen Entgegensetzung von Sprache und Wirklichkeit der Boden entzogen und Wahrheit – übrigens mit Wahrheitsanspruch – in dem Sinne philosophisch zur Geltung gebracht werden können soll, wie wir sie intuitiv verstehen: als realistische Korrespondenzrelation im Sinne der Adäquationstheorie der Wahrheit. Eine ähnliche Kohärenztheorie finden wir auch bei Otto Neurath und Nicolas Rescher: die Wahrheit einer Aussage besteht darin, dass sie sich kohärent in ein System von Aussagen integrieren lässt. Eine große Rolle in der Gegenwart spielt auch noch die Konsensustheorie der Wahrheit (Peirce, Habermas): eine Aussage ist dann wahr, wenn sich unter idealen Bedingungen ein Konsens über sie ergäbe.


Interessant ist es, wenn man einmal die Rechtspraxis in Bezug auf die gängigen philosophischen Wahrheitstheorien betrachtet. Halten Theorie und Praxis des Rechts im Prinzip an der Korrespondenztheorie fest, indem sie den gerichtlichen Anspruch formulieren, tatsächlich Stattgefundenes zu rekonstruieren, so finden sich Annäherungen an die Konsenstheorie dort, wo das Straf- und Zivilrecht Einigungen und Kompromisse der Prozessbeteiligten zulassen. Ganz verzichtet wird auf einen „verobjektivierten Wahrheitsanspruch“ indes nirgendwo.


Bei allen Unterschieden besteht in der Philosophie heute weitgehend darin Übereinstimmung,  den Term “wahr“ nur auf Aussagen anzuwenden, d.h. und auf die logische Funktion von Sätzen, vor allem von Sätzen im deklarativ-theoretischen Kontext des Behauptens, Charakterisierens, Referierens auf, also auf komplexe Ausdrücke der „kognitiven“ (satzförmigen und ein ontologisches Begriffssystem einschließenden) Sprache. Weitestgehend Übereinstimmung besteht auch darin, dass der Begriff der Wahrheit vom Begriff der Begründung oder Rechtfertigung zu unterscheiden ist. Eine Aussage kann wahr sein, ohne dass sie begründet worden wäre, und ebenso kann sie begründet, aber falsch sein. Wahrheit ist außerdem – im Gegensatz zum Begriff der Begründetheit – absolut, d.h. nicht gradierbar. Während ein Gehalt mehr oder weniger gut gerechtfertigt sein kann, wäre es sinnlos zu sagen, dass eine Aussage wahrer als eine andere oder in dem und dem Grade wahr sei. 


Heut gibt es viele Theoretiker, die die These vertreten, dass „Wahrheit“ keinen kognitiven Gehalt aufweist und letztlich aufzugeben ist (postmoderne oder relativistische Denker). Gottlob Frege und Donald Davidson haben die These aufgestellt, „dass der Inhalt des Wortes ‚wahr‘ ganz einzigartig und undefinierbar ist“ (Frege 1918). Ich bin aber der festen Überzeugung, dass die eben wenigstens skizzenhaft aufgezeigte Vielfältigkeit und Nicht-Eindeutigkeit, die die philosophischen Wahrheitsbegriffe und Wahrheitstheorien seit jeher ebenso charakterisieren wie unsere nicht-philosophischen Wahrheitsverständnisse auch, philosophisch weder reduziert noch gar eliminiert werden kann. Denn was wir unter „wahr“ und „Wahrheit“ verstehen, ist abhängig von Leitüberzeugungen und grundlegenden Intentionen, die zu einer letztlich persönlich existentiellen Sicht auf die Wirklichkeit im Ganzen gehören. Diese Sicht umfasst eine oberste praktische  Zweckbestimmung. Wahrheit bzw. der Begriff ‚wahr‘ bezeichnet schon in der Antike nicht bloß das  Ziel der Erkenntnis, sondern auch das ethische Gebot der Wahrhaftigkeit.  Es steht ihm also nicht allein der Irrtum, sondern auch die Lüge gegenüber. Unsere Wahrheitsverständnisse, Begriffe und Theorien sind abhängig von begriffslosen Einsichten, die uns selbst, unsere Lebenserfahrung und unsere schwierige Existenz in der Welt betreffen.


Bevor ich im Folgenden auf diesen praktisch-moralischen Wahrheitsbegriff eingehen will, sei nur am Rande noch auf einen Text aufmerksam gemacht, der in den letzten Jahren in der Philosophie und Literaturwissenschaft ziemlich Konjunktur hatte, nämlich Nietzsches Nachlassaufsatz Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne von 1873. Aufgrund des Charakters der Sprache als bloßer Metapher der Dinge kritisiert Nietzsche hier den von der Philosophie in der Sprache erhobenen Wahrheitsanspruch. Ein Begriff ist nur „das Residuum einer Metapher“ und Wahrheit somit nur „ein bewegliches Heer von Metaphern“, d.h. eine Illusion, von der wir nur vergessen haben, dass sie eine Illusion ist. In auffallender Nähe zur Sprachtheorie der Frühromantik lässt Nietzsche also der philosophischen Begriffsbildung eine künstlerische Metaphernbildung vorausgehen und erklärt die Wissenschaft zur „Begräbnisstätte der Anschauung“. Auf dem Höhepunkt der wissenschaftlichen Begriffsbildung breche dann aber das ursprüngliche Kunstbedürfnis wieder durch: „jener Trieb zur Methaphernbildung… ist dadurch, dass aus seinen verflüchtigten Erzeugnissen, den Begriffen…  eine Zwingburg für ihn gebaut wird, in Wahrheit nicht bezwungen und kaum gebändigt. Er sucht sich ein neues Bereich seines Wirkens und ein anderes Flußbette und findet es im Mythos und überhaupt in der Kunst.“ Damit kehrt Nietzsche das Grund-Folge-Verhältnis von Kunst und Wissenschaft um: weil er die Wissenschaft aus einem metaphorischen Trieb ableitet, ist die  Wissenschaft nur transitorischen Charakters und schlägt in Kunst um. Hier ließe sich jetzt noch viel über das Verhältnis von Mythos und Wahrheit sagen, was ich aber an anderer Stelle schon einmal ausführlich getan habe und deshalb hier nicht wiederholen will. 


II.
Kehren wir deshalb zur Wahrheit im moralischen Sinne zurück. Schon in der Antike gab es die feste Überzeugung, dass man schon allein deshalb sich um den Unterschied zwischen wahr und falsch Gedanken machen muss, weil man anders nicht verantwortlich politisch handeln kann. Seit Platons Dialog Theaitet und der Auseinandersetzung der Stoa mit der akademischen Skepsis geht es immer um die Differenz zwischen Meinung (Doxa) und Wissen bzw. um die Frage, wie man zu einer begründeten Meinung kommt. Es geht also um die Gründe. Es gilt zu zeigen, dass es nicht nur die Möglichkeit zu wahren Meinungen gibt, sondern dass man auch etwas wissen und nicht bloß meinen kann. In Platons Dialog Sophistes wird deshalb am Beispiel des Unterschieds zwischen Philosophen und  Sophisten die Frage gestellt, ob jemand wirklich alles wissen könne. Dem Sophisten fehlt der Charakter des philosophisch sich bescheidenden Denkers. Wenn der Sophist behauptet, er könne über alles antilogisch reden, erhebt er implizit den Anspruch darauf, allwissend zu sein. Platon aber weist nach, dass er nicht ein ursprünglicher Bildner oder Gestalter, sondern nur ein „Mimetes“, ein Nachbildner oder ein Darsteller bzw. kurzgefasst ein „Scheinkünstler“ ist (was dann im weiteren Dialog zu der Frage führt, wie sich der Schein logisch fassen lässt). Es geht also um die Gründe. Es ist nicht egal, ob man etwas vom bloßen Hörensagen her behauptet, ob man sich auf die Schlagzeilen einer Boulevardzeitung beruft oder auf in mehreren Studien bestätigte tatsächliche Eigenschaften eines Sachverhaltes. Das Begründen darf man nicht delegieren. Das muss jeder selbst tun, der eine Meinung äußert und dieser einen Geltungsanspruch zuweist. Man kann sich nicht, wie Trump das z.B. bei seinen Spionagevorwürfen gegen die Obama-Administration getan hat, auf beliebige Quellen berufen und seine eigene Qualitätskontrolle dieser Quellen aussetzen, ja verweigern. Aber auch im neuen Journalismus ist, wie Harald Martenstein jüngst kritisch angemerkt hat, das Wort ‚Wahrheit‘ zum Synonym für (politische) „Meinung“ geworden, was er am Fall Relotius illustriert.


Die so genannte Wissensgesellschaft nimmt heute von außen, um mit Dieter Simon (dem ehemaligen Präsidenten der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften) zu sprechen, eine „verzweifelte Ähnlichkeit mit einer Glaubensgesellschaft“ an. Die Mythen der Wahrheit und der puren Rationalität, der Objektivität, ja auch der Unabhängigkeit in der Wissenschaft werden mit unfassbarer Brutalität zerlegt. Dass dieser inzwischen fast tägliche Angriff auf Objektivität, dass die inzwischen omnipräsenten Fake-News unsere Demokratie zunehmend unterhöhlen, ist warnend schon von der großen Hannah Ahrendt herausgearbeitet worden. In ihrem Aufsatz Wahrheit und Politik unterscheidet sie zwischen Tatsachen-Wahrheiten und Vernunft-Wahrheiten, die unterschiedliche Gültigkeitskriterien beanspruchen. Tatsachen stehen außerhalb der Übereinkunft und freiwilliger Zustimmung, Meinungen über Tatsachen tragen nichts zu ihrem Gehalt bei. Vernunftwahrheiten sind Prinzipien, die unseren Normen und Werten zugrundeliegen und auf Gründen beruhen, die im gesellschaftlich-politischen Diskurs allererst hergestellt werden. Tatsachen- und Vernunftwahrheiten gehören in den politischen Raum, aber verhalten sich wie Feuer und Wasser, weil über die Tatsachenwahrheit nicht pluralistisch gestritten werden kann (die Wahrheit ist despotisch, sagt Hannah Ahrendts). Aktuell behandelt die mediale Inszenierung Tatsachen so, als seien sie Meinungen, über die öffentlich gestritten werden kann (ein gutes Beispiel ist der Klimawandel). Die Folge ist die Inklusion des Unterschieds und damit der Tatsache selbst. Die heute zu beobachtende Transformation in Politik und Gesellschaft geht über die Lüge hinaus. Sie betrifft unsere Wissensordnung, die unser Denken und Handeln orientiert (so Christina Schües). Unser Bezug zur Wirklichkeit und unser Orientierungssinn braucht die Tatsachenwahrheit, sie braucht das Urteil „Wahr“ oder „Falsch“. Ahrendt schreibt: „Wo Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen ersetzt werden, stellt sich heraus, dass es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt.“ Die Wahrheit ist unersetzbar. Wenn nun die Wissensordnung, die die Gesellschaft und die einzelnen Menschen orientieren soll, nur auf einer diffusen Pluralität von Meinungen beruht, die argumentativ weder an die Vernunft noch mit Erfahrungen rückgebunden werden kann, dann ist die Situation prekär. Heute erleben wir nicht nur die gerade am Beispiel des Klimawandels angesprochene Relativierung unliebsamer Tatsachen-Feststellungen als bloßer Meinungsäußerungen, sondern wir erleben einen Angriff der Politik auf Tatsachen wie zum Beispiel die Manipulation der Geschichtsschreibung durch die Politik. Wir sprechen deshalb heute von einem „postfaktischen Zeitalter“. „Postfaktisch“ bezeichnet eine Diskussionskultur, in der Fakten – also dass etwas der Fall ist – als Argumente keine oder eine geringere Rolle spielen. Die Vorstellung, dass es so etwas wie eine objektive Wahrheit nicht gebe, führt zu einer allgemeinen Verdächtigung der Eliten. Es entsteht ein Generalverdacht gegen die Wissenschaft, die „Experten“. Das Ideal der Wissenschaft ist die Wahrheit. Nach ihr, der Unerreichbaren, strebt sie. Aber das Ideal ist aktuell verblasst, verliert Freunde und Anhänger (so Dieter Simon). Am Ende entsteht etwas sehr Gefährliches: die totale Nivellierung alles Wissens und Nichtwissens oder das Gefühl des totalen Verlustes von Kriterien zur Unterscheidung. Eine Gesellschaft kann, wenn sich dieser Verlust ausbreitet, nicht mehr funktionieren. 


Von den Wissenschaften erwartet die Gesellschaft unumstößliche Wahrheiten. evidenzbasiertes Wissen gegen Lügen und Halbwahrheiten. Die Rolle der Wissenschaft ändert sich aber mit der Gesellschaft, so der Münchener Soziologe Armin Nassehi. Sie enttäuscht die Hoffnung auf begründbares Wissen, das zeitstabil und anwendbar ist. Wissenschaft präsentiert nicht mehr nur Fakten. Die Enttäuschung ist groß, wenn Wissenschaft nicht die Eindeutigkeit bereitstellen kann, die man fürs politische Entscheiden oder für unternehmerische Strategien braucht. Es ist gewiss kein Zufall, dass die Philologie im Zeitalter von Fake News und Twitterdiplomatie international gerade wiederentdeckt wird. Der Indologe Sheldon Pollock sieht in ihr sogar die Grundlage freiheitlicher Ordnungen (vgl. die   kleine Streitschrift „Philologie und Freiheit“, 2017).
Wissenschaft, insbesondere die Philosophie, versorgt die Gesellschaft aber nicht nur mit Antworten, sondern mit den richtigen Fragen. Sie ist ein Versuch, die Dinge anders als zuvor zu entdecken. Wir müssen lernen, uns auf neue Fragestellungen einzulassen und zunächst zu fragen, was der Fall ist, bevor das immer schon politisch, moralisch oder ökonomisch bewertet wird. Solches Fragen ist heute dringender nötig denn je. Wahrheit ist also kein von den Philosophen erfundenes und auch kein akademisches Problem im Sinne theoretischer Spitzfindigkeiten, sondern stellt sich als Problem der Lebensbewältigung für jeden in sehr verschiedener Form immer wieder neu. Wahrheit hat mit dem lebensmäßigen Ernstfall zu tun, auch die theoretische Wahrheit noch. Die Frage nach der Wahrheit entspringt also einem ursprünglichen Interesse an Verlässlichkeit und ist eine Grundfrage des menschlichen Lebens. Sie lautet vortheoretisch (zuerst): „Was ist wahr?“ im Sinne von „worauf kann ich mich verlassen?“. Wahrheit, so verstanden, liegt der Differenzierung von Theorie und Praxis, von Erkennen und Handeln noch voraus und durchdringt alle Lebensbezüge. Eben deshalb kann man – auf dieser Ebene und also zunächst – ebenso korrekt von einem wahren Freund und einer wahren Aussage und einer wahren Begebenheit sprechen. Echtheit also und des Weiteren Verlässlichkeit kann also als die unmittelbare Einsicht ausfindig gemacht werden, in der die Rede von der wahren Aussage und alle „seinswahrheitlichen Reden“ übereinkommen: Was wahr ist, ist begründet (wie Aussagen) bzw. verlässlich (z.B. im menschlichen Miteinander). Deshalb ist Wahrheit eine Grundfrage des menschlichen Lebens – und dies auch dann noch, wenn wir, philosophisch–theoretisch reflektiert (potentiell mit Wahrheitsanspruch), danach fragen, was Wahrheit ist. In dieser Grundformulierung stellt sich die Wahrheitsfrage in Krisenzeiten, d.h. wenn das, was bisher zuverlässig zu sein schien, sich in einem radikalen Sinne als unzuverlässig beweist, also die epochale Wirklichkeitssicht zerbricht, die uns über persönliche Differenzen hinweg verbindet. Genau in einer solchen Zeit wie der unsrigen ist eine philosophische Besinnung auf Wahrheit nicht nur angebracht, sondern höchst aktuell und unverzichtbar. 

(September 2019)
 

Your comments

This page has no comments yet

Submit your comment

This blog encourages comments, and if you have thoughts or questions about any of the posts here, I hope you will add your comments.
In order to prevent spam and inappropriate content, all comments are moderated by the blog Administrator.

Access your Dashboard

Did you forget your password?

Did you forget your password? Ask for it!  Click here

Create an account

Not yet registered? Sign up now!  Click here

 
2824 Ansichten