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Die Philosophie Europas
Inwiefern entspricht das heutige Europa philosophischen Ideen?
von
Philipp Dettmer
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Inhalt
3. Das Wertefundament der Europäischen Union
4.2 Kritischer Vergleich mit Realpolitik
Ganz Europa fragt sich: Wohin treibt Polen? 2015 wurde die Prawo i Sprawiedliwość, kurz PiS-Partei, bei der Parlamentswahl in Polen stärkste Kraft in beiden Kammern und konnte sogar eine Alleinregierung aufstellen. Diese konservativ ausgerichtete Partei verfolgt einen nationalen Kurs und vertritt überwiegend eine skeptische Position gegenüber der Europäischen Union (EU). Aufgefallen ist sie vor allem durch zentralisierende Reformen, sowie einem repressiven Umgang mit Oppositionellen. Durch eine Medienreform im Jahre 2015 wurde die Pressefreiheit im Land eingeschränkt, doch die antidemokratische Rückwärtsentwicklung spitzte sich in den darauffolgenden Jahren weiter zu. Zwar ist Polen rein formell ein souveräner Rechtsstaat, weshalb die Regierung normalerweise der Verfassung Polens unterliegt, es lässt sich jedoch feststellen, dass sich die Regierung aus ihrem gesetzlichen Rahmen herausbewegt und durch Rechtsbrüche die eigene Verfassung ändert.[1],[2] Durch dieses Verlassen des gesetzlichen Rahmens ist die Bevölkerung in Polen, vor allem aber die regierungskritische Population, der Willkür des Staates ausgesetzt. Richter werden durch zweifelhafte Kündigungsschreiben entlassen und Privatpersonen, welche auf Demonstrationen gegen die Regierung gehen, zu hohen Geldstrafen verklagt. Diese Ungleichbehandlung vor Gericht, sowie die Einschränkung der Pressefreiheit sind Indikatoren dafür, dass die Rechtsstellung des Einzelnen nicht mehr gesichert ist. Es lässt sich also festhalten, dass die formelle Rechtsstaatlichkeit nicht eingehalten wird, da sich der Staat nicht an seine rechtliche Bindung an das Gesetz hält und zudem die Unabhängigkeit der Gerichte durch die Ersetzung vieler Posten durch parteinahe Richter nicht mehr garantiert werden kann. Dieses Rechtsstaatlichkeitsprinzip ist allerdings eines der wichtigen Wertefundamente der Europäischen Union, welches weiter unten genauer erläutert wird. Die schwachen und harmlosen Reaktionen der Europäischen Union auf die polnische Verletzung ihrer Grundwerte hat eine Grundsatzdebatte ausgelöst, auch da sie kein Einzelfall darstellen. Denn nicht nur Polen und ihr direkter Nachbar Ungarn, auch andere Länder in Europa stellen im Zuge des Rechtsrucks innerhalb Europas fest, dass das Prinzip des Rechtsstaats und eine gemeinsame Europäische Position keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Die Interessen der Staaten innerhalb der EU driften zusehend auseinander, wobei große Uneinigkeit darüber besteht, was dieser Staatenzusammenschluss eigentlich sein soll.
Im Folgenden wird der Versuch unternommen, sich dieser Grundsatzdebatte mithilfe zwei historisch philosophischer Gestaltungsideen eines gemeinsamen Europas anzunähern, um jene mit der heutigen Umsetzung der Europäischen Union zu vergleichen. Das Thema der europäischen Zusammenarbeit hat dabei wie oben beschrieben eine große Aktualität und die Diskussion weist verhärtete Fronten auf, weshalb dieser Vergleich als Bestandsaufnahme dient. Es wird analysiert, welche Lehren die EU aus dieser philosophischen Retrospektive ziehen kann.
Um einen Blick auf die philosophischen Ideen einer europäischen Politik werfen zu können, ist es wichtig, sich damit zu beschäftigen, welche Rolle die Philosophie in der Politik spielt. Dieser Abschnitt soll sich deshalb mit den Aufgaben der politischen Philosophie beschäftigen, und was ihr Beitrag zu einer Reformation der Europäischen Union sein kann. Formell beschäftigt sich die politische Philosophie oder auch politische Ethik mit der Frage nach den Bedingungen der Legitimität und der Legitimation der Ausübung von politischer Macht. Um ein ethisches Handeln in der Politik zur Verwirklichung von Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden und der Bürger- und Menschenrechte zu gewährleisten, befasst sie sich mit der Entwicklung und Rekonstruktion von Normen[-systemen].[3] Die empirische Politikwissenschaft beschäftigt sich mit der Analyse von politischen Themen, politischen Institutionen und internationalen Beziehungen und sucht dabei nach einer adäquaten Beschreibung der Phänomene, um Vorhersagen über künftige Entwicklungen zu treffen. Die politische Philosophie untersucht, wie die unterschiedlichen Gegenstandsbereiche miteinander zusammenhängen und in ein „größeres Ganzes“ eingeordnet werden können.[4] Die Rolle dieser philosophischen Perspektive auf die Politik ist von großer Wichtigkeit, da sie anhand normativer Fragestellungen einerseits erfassen möchte, wie Politik sein soll, andererseits nach den Bedeutungen von Begriffen fragt. Ideale wie Freiheit oder Demokratie werden unterschiedlich aufgefasst, weshalb die Philosophie ein gründlicheres Verständnis der Werte und Prinzipien anstrebt, welche den politischen Begriffen, Fragen und Institutionen zugrunde liegen. Dabei ist sie jedoch nicht losgelöst von der empirischen Politikwissenschaft, da sich diese Werte in den unterschiedlichen politischen Systemen und Institutionen realisieren. Die Zusammenarbeit der beiden Perspektiven ist deshalb bedeutend, da sie so den konkreten Anwendungsbezug der Praxis nicht aus den Augen verliert und einen Bezug zu gesellschaftlich relevanten Themen herstellt. Eine Zusammenarbeit mit anderen empirischen Wissenschaften und Gesellschaftsbereichen wurde vor allem durch die Kritische Theorie hervorgehoben. Die Hauptaufgabe der politischen Philosophie bestehe darin, Überzeugungen, welche im öffentlichen Diskurs als selbstverständlich hingenommen werden, kritisch zu hinterfragen und durch eine Einordnung des Geschehens in theoretische Zusammenhänge eine neue Perspektive aufzuwerfen. Der Philosoph müsse dabei das überzeugendste Argument finden und somit auch seine eigene Meinung in Frage stellen.[5]
Eine solche Einordnung des aktuellen politischen Geschehens unter der Berücksichtigung der zugrunde liegenden Werte kann einen neuen Blickwinkel eröffnen, welcher neue Anhaltspunkte für eine Reformation und Transformation der Europäischen Union schafft. Sie muss dafür die vorherrschenden Strukturen der Europäischen Union auf ihre Legitimität und ihre Wertefundament untersuchen und fragen, wie diese Strukturen sein sollten. Durch das Einnehmen der Metaebene kann die politische Philosophie, in einer integrativen interdisziplinären Zusammenarbeit mit der empirischen Politikwissenschaft, so Begriffe wie Rechtsstaatlichkeit erforschen und kontextualisieren. Hierbei muss sie nach der sinnvollsten Strategie für eine europäische Zusammenarbeit suchen und diese in Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Akteuren in ein Konzept verwandeln. Wie kann beispielsweise Pressefreiheit definiert und in Strukturen umgewandelt werden, welche diese bestmöglich sichern? Es ist wichtig bei einer solchen Vorgehensweise die gesellschaftlichen Paradigmen und die zugrunde liegende politische Richtung zu berücksichtigen. Die EU bekennt sich hier im Vertrag von Lissabon zu einer sozialstaatlichen Politik. In dem Sinne wird beispielsweise in der Verfassung der Europäischen Union festgehalten: „Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes.“[6]
Das erste philosophische Werk, welches in diesem Text analysiert wird, ist das Manifest von Ventotene. Es ist eine programmatische Schrift aus dem Jahre 1941, welche von den italienischen Antifaschisten Altiero Spinelli und Ernesto Rossi verfasst wurde. Sie bestand zuerst aus vier Teilen, wurde jedoch 1944 von Eugenio Colorni in drei Teile umstrukturiert. Der erste Teil der Schrift ist eine Beschreibung der gesellschaftlichen Krise der Gegenwart zu Zeiten des zweiten Weltkrieges.[7] Um zu verstehen, welche Bedeutung und welchen historischen Kontext die in dieser Schrift vorgeschlagenen Ideen eines geeinten Europas hatten, ist es essenziell, sich mit dieser Beschreibung auseinanderzusetzen und Einblick zu erhalten, zu welchem Ergebnis die Nationalisierung geführt hat.
Es wurde die nationale Unabhängigkeit der Staaten anerkannt, welche dafür sorgte, dass die Menschen ungehinderte Bewegungsfreiheit erlangten und die Institutionen sich auf unterentwickelte Bevölkerungsschichten ausdehnten. Diese barg, gemäß dem Manifest, jedoch auch die Keime des kapitalistischen Imperialismus, welcher in letzter Instanz zur Bildung totalitärer Staaten führe. Die Nationen seien nunmehr kein Ergebnis des historischen Zusammenlebens von Meschen, vielmehr ein Organismus, der nur die eigene Existenz und Entwicklung im Auge hat, ohne dabei Rücksicht auf andere Staaten zu nehmen. Diese absolute Souveränität der Staaten habe zu einem Machtstreben aller gegen alle geführt, da sich jeder durch den anderen bedroht fühlte und seinen Lebensraum vergrößern wollte. Totalitäre Staaten seien am konsequentesten bei der Vereinigung militärischer Kräfte gewesen aufgrund eines Höchstmaas an Zentralisierung, wodurch sie den damaligen internationalen Anforderungen am besten gewachsen seien. Demnach genüge es, wenn nur ein Staat dem Totalitarismus verfalle, wodurch die anderen aus einem Erhaltungstrieb mitziehen. Hierdurch verdeutlichen die Autoren die Gefahren absoluter nationaler Souveränitäten und Alleingänge. Anstatt dem Bürger sein Recht zur Mitwirkung des Bildens eines Staatswillens zuzusprechen und so wie beispielsweise zur Weimarer Republik Pressefreiheit und ein progressives Stimmenrecht zuzulassen, bildeten diese Regime ein autoritäres Gewaltenmonopol, welches keine Korrektur durch Andersdenkende ermögliche. Die Autoren legen der Beschreibung eine sozialistische Sichtweise zugrunde, nach der ein Wirtschaftsregime nur zum Vorteil einiger Wohlhabenden funktioniere und das Proletariat sich ausnutzen lassen müsse, um zu überleben. Der kritische Verstand sei durch einen autoritären Dogmatismus untergraben und mit ihm die soziale Ethik der Freiheit und Gerechtigkeit, um so die Kollektivziele besser erreichen zu können.[8]
Doch wie kann nun ein Schritt hin zu einem geeinten Europa funktionieren, wie ein geeintes Europa geschaffen werden? Die wichtigste Voraussetzung für eine gelingende Gesellschaftsumstrukturierung sei das Nutzen der revolutionären Situation nach dem Krieg. Die so gewonnene Freiheit würde sich in der Zurückerstattung der Rechte zur Selbstbestimmung der Bürger äußern, etwa Rede- und Vereinsfreiheit. Um jedoch einen Klassenkampf und das erneute Ausnutzen reaktionärer Kräfte zum Stärken des patriotischen Gefühls zu verhindern, müsse im ersten Schritt die Beseitigung der Grenzen souveräner Staaten in Europa erfolgen. Diese Transformation ist bedingt durch bestimmte Gestaltungskriterien, welche historisch abgeleitet wurden und den Rahmen einer europäischen Gesellschaftsreform bilden. Folgende Kriterien wurden in der Analyse des Textes herausgearbeitet:
(1) Die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts unabhängiger europäischer Staaten sei nicht möglich, wenn auch nur eines der anderen militärisch ist. Hierfür ist im Manifest explizit eine europäische Armee vorgesehen.
(2) Ein Völkerbund erwiese sich als nutzlos, wenn er eine Aufrechterhaltung absoluter nationaler Souveränität fokussiere und keine militärische Gewalt anwende.
(3) Die Gefahr des Nichteinmischungsprinzips, da die interne Verfassung eines Landes auch vitale Bedeutung für andere europäische Staaten von Bedeutung wäre.
(4) Die Unlösbarkeit zahlreicher Probleme wie das Abstecken von Grenzen bedinge eine Europäische Föderation als Lösung.
Fernerhin brauche es eine solche Organisation, um eine friedliche Zusammenarbeit mit asiatischen und amerikanischen Ländern zu ermöglichen. Dieser „Bundesstaat“ müsse einerseits, um standhaft zu sein, aus ausreichend Organen bestehen, welche die allgemeine Ordnung mittels der Durchführung der Beschlüsse in den einzelnen Bundesstaaten aufrechterhalte. Andererseits bedarf es auch einer gewissen Autonomie der Staaten, um eine Entwicklung des politischen Lebens, gemäß der Wesensmerkmale der verschiedenen Völker Europas, zu garantieren.[9] Zum Verhältnis von Staat und Religion äußern sich die Verfasser des Textes kritisch und nehmen hier eine klare Trennung vor, betonen aber die Gleichbehandlung aller Religionen.
Der letzte Abschnitt dieses Werkes handelt von der faktischen Reform der Gesellschaft und welches Wertesystem diese bedingt. Für die Verbreitung der modernen Kultur sei ein freies Europa unabdingbar. Eine Schaffung dieser Freiheit und Einigkeit könne jedoch nur „[..] mit Wagemut und Entschlusskraft [..]“ erreicht werden.[10] Die damit verbundene Revolution müsse ihre Grundpfeiler im Sozialismus suchen, um den Prozess gegen soziale Ungerechtigkeit aufzunehmen. Konkret bedeute ein sozialistisches Wertefundament, sich einzusetzen für die Arbeiterklasse und Schaffung humanitärer Lebensbedingungen. Dies umfasse keine Verstaatlichung, doch sollen die Menschen sich die wirtschaftlichen Kräfte unterwerfen und diese möglichst rational leiten und kontrollieren, um nicht selbst von diesen beherrscht zu werden. Hierbei müssten sowohl die Individuen gefördert als auch die Objektive des Gemeinwohls beschützt werden. De facto implementiere dies für das europäische Zusammenleben:
(A) Keine privaten Unternehmen, die monopolistische Ausbeutung betreiben und nur wegen eines Kollektivinteresses aufrechterhalten werden, obwohl sie mit ihrem Kapital staatliche Organe erpressen.
(B) Eine Agrarreform zur Erhöhung der Anzahl an Grundbesitzern und eine Industriereform mit dem Ziel des Wachstums des Besitzes der Arbeiter, um ein unabhängigeres Dasein zu sichern.
(C) Gleiche Startbedingungen für alle Jugendliche, zur Förderung von Talent und nicht Reichtum.
(D) Die Sicherung der Lebensgrundlage, sodass kein Arbeiter gezwungen ist, einen ausbeutenden Arbeitsvertrag zu unterschreiben.
(E) Eine kollektive Wahl der Vertrauensleute durch die Arbeiter, wobei der Staat die Einhaltung der verhandelten Verträge durch Rechtsmittel zur Verfügung stellen müsse.
Das politische Leben in einem solchen Europa müsse deshalb von den Werten der erprobten Freiheit und einem starken Solidaritätsgefühl geprägt sein.[11] Den Freiheitsgedanken in den Mittelpunkt zu stellen, lässt sich von Kants Werk „Zum ewigen Frieden“ ableiten: „Daher hat die Vernunft also gleich einen doppelten Grund, eine republikanische Verfassung des Gemeinwesens zu verlangen. Einmal einen staatsrechtlichen, weil sie die einzig rechtmäßige, mit dem angeborenen Freiheitsrecht der Menschen in Übereinstimmung stehende bürgerliche Organisationsform ist.“[12] Diese Freiheit erfordere die Notwendigkeit repräsentativer Organe, neuer Gesetze, unabhängiger Justizbehörden, sowie Presse- und Vereinsfreiheit. Durch das Schaffen der Voraussetzungen eines freien Daseins, in dem alle Bürger am politischen Geschehen teilhaben können, stärke man nach einer Zeit die Akzeptanz der neuen Ordnung.[13]
Das Manifest denkt diese Gesellschaftsreform über die Grenzen Europas hinweg und eröffnet so eine Möglichkeit zur Schaffung eines Weltstaates: „Blickt man über den alten Erdteil hinweg auf alle Völker der Menschheit, muss man zugeben, dass die Europäische Föderation die einzig denkbare Garantie bietet, um die Beziehungen mit den asiatischen und amerikanischen Völkern auf eine Basis friedlicher Zusammenarbeit zu stellen, bis es soweit ist, dass die politische Einheit aller Völker des Erdballs erreicht werden kann.“[14]
Die zweite hier untersuchte Idee eines gemeinsamen Europas soll die Paneuropa-Union sein, welche 1922 gegründet wurde. Diese war eine Vorreiterbewegung für ein sowohl wirtschaftliches, aber auch politisch geeintes Europa, welches auf christlichen Werten aufbauen sollte. Die Forderungen und Ziele der Organisation und von Coudenhove-Kalergi waren ein Paneuropa nach dem Beispiel des Panamerikanismus. Das erste Programm, formuliert im „Paneuropäischen Manifest“, propagiert ein Ende nationalistischer Entwicklungen mit Bezugnahme auf den ersten Weltkrieg und sah die vernünftige Zukunft Europas in gegenseitiger Öffnung und dem Abschluss eines europäischen Paktes. Sollten die Länder Europas es nicht schaffen, ihre Streitigkeiten beizulegen, drohe ihnen eine Vernichtung in einem weiteren Weltkrieg.[15] Ähnlich wie das Manifest von Ventotene sieht also auch die Paneuropa-Bewegung die einzige friedliche Zukunft Europas in gemeinsamer Zusammenarbeit. Um die zugrundeliegenden Wertevorstellungen zu verstehen, wird sich der folgende Teil auf Sekundärliteratur und der heutigen Paneuropa-Union und ihrem Verständnis stützen, da Coudenhoves Schrift stark historisch geprägt ist und zum Teil fehlgeleitete Schlüsse beinhaltet: „Aus heutiger Sicht mag es erstaunen, dass Coudenhoves Pan-Europa-Betriebsamkeit ein gewisses (wenn auch begrenztes) Publikum erreichen konnte. Einige der Beobachtungen waren offenkundig falsch, wie jene von der angeblich bereits im Gang befindlichen politischen Einigung Amerikas.“[16] Ein Vergleich mit dem heutigen Europa wäre deshalb schwierig, weswegen eine neuere Interpretation der Paneuropa-Union, verabschiedet im Bamberger Programm vom 9. Juni 1996, herangezogen wird. Es muss bei einer Analyse der zugrunde liegenden Werte mitbedacht werden, dass das Christentum bis in die heutige Zeit einen maßgeblichen Einfluss auf die Wertevorstellung der Paneuropa-Union hat.
Die ersten Visionen Coudenhoves von einem geeinten Europa waren mehr Reaktion auf die außenpolitischen Umstände der Zeit und weniger konkrete Vorstellung, wie ein solches Europa gestaltet werden könne: „Die Notwendigkeit, Europa zu einigen, leitete Coudenhove nun ausschließlich aus äußeren Gefahren ab; über die innere Ausgestaltung der Union machte er keine Aussage, insbesondere nicht über die Rolle demokratisch-parlamentarischer Willensbildung bei der Formierung einer europäischen Union.“ Um diese Gefahren abzuwenden, benötigte es nach Coudenhove die Gründung einer Paneuropäischen Union.[17] Die Monatsschrift `Paneuropa´, welche zuerst im Frühling 1924 erschien, beinhaltete sowohl kapitalistische als auch bolschewistische Kritik und die Bewegung hielt strikt an einer politischen Neutralität fest.[18] Die heutige Paneuropa-Unionsbewegung nimmt jedoch eine sozialistische Einstellung ein, da sie sich zu der sozialen Gerechtigkeit und Solidarität bekennt.
In dem erwähnten Bamberger Programm der Paneuropa Union Deutschland e.V. konkretisiert diese ihre Wertevorstellungen, welche sie in vier thematische Abschnitte gliedert:
(1) Europa als christliche Wertegemeinschaft
(2) Europa als Gemeinschaft der Freiheit
(3) Europa als Gemeinschaft des Rechts
(4) Europa als Gemeinschaft des Friedens
Im ersten Abschnitt bekennt sich die Bewegung zum Christentum als Herz Europas und glaubt damit an ein christliches Europa als Kontinent der Menschenwürde. Hierbei steht die Achtung Gottes im Vordergrund und Tendenzen wie Nihilismus und Atheismus sollen bekämpft werden. Der zweite Abschnitt stellt, wie schon Spinelli und Kant, die Freiheit eines geeinten Europas in den Vordergrund. Jeder Mensch solle demnach das Recht auf freie Entfaltung haben und jedes Volk auf kulturelle, wirtschaftliche und politische Entfaltung. Neben der freien Selbstbestimmung der Völker soll auch das Subsidiaritätsprinzip gestärkt werden, also eine gewisse Autonomie der Völker aufrechterhalten werden. Diese Freiheit werde geschützt durch die Bekennung zu einer sozialen Gerechtigkeit und Marktwirtschaft zum Schutz der Schwachen in der Bevölkerung, also eine inkludierende Gesellschaft. Ebenfalls soll Verantwortung übernommen werden für die Lebensgrundlagen der zukünftigen Generationen, aus der christlichen Sicht mit Begründung zum Erhalt der göttlichen Schöpfung. Die Paneuropa-Union strebt dabei ein geeintes Europa freier Menschen an, welches auf internationaler Ebene für seine Ideale einsteht. Hierfür müsse ein Kampf gegen die menschenverachtenden Ideologien des Kommunismus und Nationalismus geführt werden, welche die Freiheit und Menschenrechte unterdrücken. Der nächste Abschnitt handelt von der Bekräftigung Europas als Gemeinschaft des Rechts, wobei es eine universelle Geltung der Menschenrechte geben solle, sowie eine gesicherte Rechtsstaatlichkeit. Im Zuge dessen solle ein solches Europa eine klare europäische Wertegemeinschaft sein, welche die Menschen vor Unterdrückung durch Staaten schützen solle, allerdings auch jegliche Gefährdung des menschlichen Lebens verurteilt, wie etwa Abtreibung und Euthanasie. Auf den Aspekt der Abtreibung wird später noch einmal genauer eingegangen. Eine solche rechtsstaatliche Vereinigung könne dadurch eine Vorreiterrolle für andere Staaten auf der Erde einnehmen. Im vierten und letzten Abschnitt wird der Wert des Friedens hervorgehoben. So solle ein solcher Staatenzusammenschluss die Freundschaft zwischen allen Völkern Europas und einen europäischen Patriotismus fördern. Aus diesem Grund solle eine Zersplitterung der europäischen Staaten und das Entstehen nationaler und sozialer Konflikte bekämpft und der „nationale Kleingeist“ angegangen werden. Der Beitritt in ein solches Paneuropa dürfe dabei unter keinen rein wirtschaftlichen Interessen stattfinden und die Aufnahme anderer europäischer Völker nur garantiert werden, wenn diese bestimmte Bedingungen erfüllen, so beispielsweise Anforderungen an eine gesicherte Rechtsstaatlichkeit oder die Sicherstellung der Menschenrechte. Einmal Mitglied, sei eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik unumgänglich, um die Sicherung des Friedens zu gewährleisten und sie zu einer politischen Einheit weiterzuentwickeln.[19] Für einen Vergleich mit der heutigen Europäischen Union wird die Berufung auf christlich-konservative Werte außer Acht gelassen, da innerhalb der EU eine Gleichheit der Religionen herrscht und Atheismus anerkannt ist: „Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit.“[20]
Was mit einer reinen wirtschaftlichen Zusammenarbeit in verschiedenen Gemeinschaften wie der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) begann, entwickelte sich durch fortschreitende Integration zunehmend zu einer politischen Union. Das Wertefundament der europäischen Union, welches 2000 in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union festgehalten wurde, basiert auf der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Europäischen Sozialcharta, den Verfassungen von den Mitgliedsstaaten, internationalen Menschenrechtsdokumenten sowie Rechtsprechungen von europäischen Gerichtshöfen. Die Charta ist seit 2009 für alle Mitgliedsstaaten, außer Polen, bindend.[21], [22] Durch diese Bindung, bekennen sich alle Unterschriftspartner zu den hier festgehaltenen Werten. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union wurden dem Vertrag zur Europäischen Union angehängt, in welchem in Artikel 2 ebenfalls die gemeinsamen Werte der Europäischen Union formuliert wurden.[23] Innerhalb dieses Artikels werden 6 Werte aufgelistet auf denen die Europäische Union aufbaut:
(1) Würde des Menschen, welche unantastbar sei und geachtet und geschützt werden müsse
(2) Freiheit, welche unter anderem die persönlichen Freiheiten wie Achtung des Privatlebens, Gedankenfreiheit, Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit und die Meinungsäußerung beinhalte und durch die Union verteidigt werden müsse
(3) Demokratie, welches das aktive und passive Wahlrecht eines jeden Erwachsenen vorsieht
(4) Gleichstellung, welche gleiche Rechte für alle Bürger vor dem Gesetz sichert
(5) Rechtsstaatlichkeit, wobei Recht und Gesetz von einer unabhängigen Justiz gesichert werden und der Europäische Gerichtshof als letzte Instanz akzeptiert werden müsse
(6) Menschenrechte, welche von der Charta der Grundrechte der EU geschützt werden und die Nichtdiskriminierung aufgrund von Geschlecht, der „Rasse“, der Hautfarbe, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters, oder der sexuellen Ausrichtung sichert.
Die Charta umfasst eine konkretere Beschreibung dieser Werte und weitet diese auf 7 Felder aus, welche auch Auswirkungen auf andere Spannungsfelder beschreiben, wie Umweltpolitik oder Sozialpolitik und hier klare Rahmenbestimmungen setzt, wie beispielsweise: „Ein hohes Umweltschutzniveau und die Verbesserung der Umweltqualität müssen in die Politiken der Union einbezogen und nach dem Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung sichergestellt werden.“[24] Das Wertefundament der Union ist dementsprechend in der Theorie vielseitig und konkret niedergeschrieben. Es bildet die Grundlage für die politischen Entscheidungen und wird von dem Europäischen Gerichtshof gesichert.
Doch inwiefern deckt sich dieses Wertefundament mit den beiden philosophischen Ideen, welche Diskrepanzen bei der Vorstellung eines geeinten Europas herrschen vor? Aus einer theoretischen Perspektive ähneln sich die determinierenden gesellschaftlichen Paradigmen, in dem die Union den Gestaltungsideen folgt und eine sozialistische Politik anstrebt. Jedoch beinhaltet das Manifest von Ventotene eine größere soziale Dimension als dessen Umsetzung. So strebt es eine Zerschlagung missbräuchlicher wirtschaftlicher Monopole und progressive Reformen zur Bekämpfung der Arm und Reich Schere durch eine solche Vereinigung an. Der Lebensstandard der Arbeiter solle dabei gesichert werden, während die EU nicht mal einen einheitlichen Mindestlohn einführen konnte, in sechs Ländern der Union gibt es gar keinen Mindestlohn.[25] Ebenfalls warnt das Manifest, unter den Eindrücken seiner Zeit, vor den Gefahren des Kapitalismus und kritisiert diesen als ausbeutendes Element, was heutige Wirtschaftsanalysen bestätigen: „Ausbeutungsverhältnisse kennzeichnen die gesellschaftlichen Beziehungen weiterhin, auch in einem durch informatisierte, vernetzte und globalisierte Produktion geprägten Kapitalismus.“[26] Die EU stellt keine solche Kapitalismuskritik auf und enthält dementsprechend auch eine geringere sozialistische Ausdehnung bezogen auf die Umsetzung ihrer zugrundeliegenden sozialen Paradigmen.[27] Es kann folglich eine klare Abstufung und eindeutige Differenzen festgestellt werden, welchen Umfang eine solche Sozialunion aufweisen solle und welche Anforderungen sie an ihre Mitgliedsstaaten zu stellen habe. Ebenfalls herrschen unterschiedliche Vorstellungen davon, inwieweit die Mitgliedsstaaten souverän und die existierenden Ländergrenzen bestehen bleiben sollen. Die Paneuropa-Union bekräftigt hier den Eigenwert der historisch gewachsenen Regionen und das Recht auf freie Selbstbestimmung des Volkes. Ähnlich die EU, welche zwar die Binnengrenzen durch einen gemeinsamen Binnenmarkt aufgehoben hat, jedoch die Souveränität der Staaten zum Teil erhalten hat.[28] Allerdings wurden hier auch viele Rechte auf supranationale Organe übertragen, welche beispielsweise bindende EU-Gesetze verabschieden.[29] Das Manifest von Ventotene sieht hier jedoch eine Gefahr des wiederkehrenden Nationalismus und die Abschaffung der Grenzen, welche Europa in souveräne Staaten aufteile, als unumgänglich. Ein Europa, welches die nationalen Patriotismen nur ergänze wie von der Paneuropa-Union vorgeschlagen, sei anfällig für eine Rückkehr zum Nationalismus: „Vor allem Dingen werden sie die Wiederherstellung des Nationalstaates ins Feld führen. Sie gewinnen so jenes Volksempfinden für sich, das am weitesten verbreitet ist und am leichtesten zur Beute reaktionärer Manipulation wird: das patriotische Gefühl.“[30] Der europäische Patriotismus solle hier also nicht ergänzende Funktion besitzen, sondern diese nationalen Zugehörigkeitsempfinden ersetzen. Eine solche Substituierung würde weitreichende Folgen für die Wahrnehmung eines vereinten Europas implementieren und eine verstärkte europäische Identität zur Folge haben. Diese europäische Identität ist jedoch in der Europäischen Union trotz Maßnahmen wie Erasmus+ kaum existent, fühlen sich nach einer Umfrage des Eurobarometers weniger als 10% der Befragten in ihrer Identität europäisch.[31] Neben dieser Unterschiede lassen sich aber auch Überschneidungen finden, wo die Ideen in das eigentliche Wertefundament Einzug hielten. Hier ist die Idee der Freiheit hervorzuheben, welche in der Geschichte der europäischen Philosophie schon bei Kant und Hegel eine entschiedene Rolle spielte. So erkannte und leitete bereits Hegel die in sich begründete Freiheit einer jeden Person her: „Der Geist in der Unmittelbarkeit seiner für sich selbst seienden Freiheit einzelner, aber der seine Einzelheit als absolut freien Willen weiß; er ist Person, das Sichwissen dieser Freiheit, welches als in sich abstrakt und leer seine Besonderheit und Erfüllung noch nicht an ihm selbst, sondern an einer äußerlichen Sache hat.“[32] Die inhärente Freiheit des Menschen wurde sowohl in beiden philosophischen Vorstellungen eines geeinten Europas, als auch in dem Vertrag der Europäischen Union selbst, in Form der Bekenntnis zu der Würde des Menschen und der allgemeinen Menschenrechte, aufgegriffen. Hervorgehoben wird hier von dem Manifest besonders die Vereins- und Pressefreiheit, sowie unabhängige Justizbehörden, aber auch die Paneuropa-Union sieht ein vereintes Europa als eine Gemeinschaft des Rechts. Diese politische Realisierung des Begriffs der Freiheit in der Justiz wurde von der Europäischen Union als Wert der Rechtsstaatlichkeit umgesetzt. [33]
Es wurde dargelegt, welche Punkte der philosophischen Werke in der Theorie umgesetzt wurden und welche Differenzen bestehen. Es soll im Folgenden anhand einiger Beispiele die realpolitische Umsetzung dieser philosophischen Grundlage kritisch untersucht werden. Vor allem die Rechtstaatlichkeit ist ein umstrittenes Thema, welches aktuell wieder diskutiert wird. Für die Europäische Union stellt die Rechtsstaatlichkeit den Grundpfeiler aller weiteren Grundwerte dar, wie aus der Stellungnahme der Kommission zu den neuen Rahmenvorschriften zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit hervorgeht: „Die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit ist die Voraussetzung für den Schutz aller übrigen Grundwerte, auf die sich unsere Union gründet. Die Europäische Kommission ist die Hüterin der Verträge, also muss sie auch eine Hüterin der Rechtsstaatlichkeit sein[..]“[34] Dieser Schutz scheint jedoch schwach, da die Rechtsstaatlichkeit in einigen europäischen Staaten gefährdet ist. Hier ist, wie schon in der Einführung elaboriert, Polen als Beispiel zu nennen, welches durch Reformen die Unabhängigkeit der Justiz untergräbt. Jene Gefährdung wurde auch in dem Rechtsstaatlichkeitsreport 2020 von der Europäischen Kommission mit Sorge festgestellt: “Poland’s justice reforms since 2015 have been a major source of controversy, both domestically and at EU level, and have raised serious concerns, several of which persist. The reforms, impacting the Constitutional Tribunal, the Supreme Court, ordinary courts, the National Council for the Judiciary and the prosecution service, have increased the influence of the executive and legislative powers over the justice system and therefore weakened judicial independence.”[35] Solche Verletzungen der Unabhängigkeit der Justiz sind nach dem Manifest von Ventotene eine grobe Gefährdung der Freiheit, da nur solide rechtsstaatliche Organe die Voraussetzungen eines freien Daseins ermöglichen.[36] Die Paneuropa-Union strebt ein rechtstaatliches Europa an, welches Vorbild für die Völker der Erde sein soll. Allerdings fehlt einem Europa, welches aufgrund von eingeschränkten Mechanismen wie dem Vetorecht die eigene Rechtsstaatlichkeit nicht garantieren kann, die Glaubwürdigkeit diese vor internationalen Akteuren zu verteidigen. Eine weitere Missachtung gemeinsamer Werte, in diesem Falle der allgemeinen Menschenrechte, kann anhand der LQBT-Ideologie-freien Zonen in Polen festgestellt werden. Queere Menschen, die in solchen Zonen leben, würden eine zunehmende Diskriminierung beklagen und der polnische Präsident spricht ihnen sogar das Menschsein selbst ab: „Man versucht uns einzureden, das seien Menschen, aber das ist ganz einfach eine Ideologie.“[37] Indem der Staat LGBTQ+-Menschen ihre Garantie auf einen Schutz durch das Recht abspricht, setzt er sie der Willkür der Gesellschaft aus und verletzt dadurch ihre Menschenwürde. Die Wichtigkeit der Anerkennung durch andere wurde schon bei Hegel hervorgehoben: „[..] Die konkrete Rückkehr meiner in mich in der Äußerlichkeit ist, daß ich, die unendliche Beziehung meiner auf mich, als Person die Repulsion meiner von mir selbst bin und in dem Sein anderer Personen, meine Beziehung auf sie und dem Anerkannt sein von ihnen, das gegenseitig ist, das Dasein meiner Persönlichkeit habe.“[38] Eine Ablehnung der Anerkennung der Person und das Aussetzen der rechtlichen Willkür stellt eine ernsthafte Gefahr für queere Pol*innen da. Obwohl diese Zonen bereits ein Drittel der polnischen Gemeinden umfassen, hat die EU bisher keine rechtlichen Schritte gegen Polen unternommen und somit die LGBTQ+-Menschen in Stich gelassen. Ebenfalls für Proteste sorgte die deutliche Verschärfung des Abtreibungsverbots in Polen, mit der die Freiheit über den eigenen Körper bestimmen zu können deutlich eingeschränkt wurde. Das Europäische Parlament kritisiert diesen Schritt als rückschrittig im Hinblick auf die sexuelle Gesundheit und verweist auf die Frauenrechte als wichtigen Unterpunkt der Menschenrechte.[39] Durch diese beiden Beispiele wird deutlich, dass unter den Mitgliedsstaaten eine unterschiedliche Interpretation und Achtung der gemeinsamen europäischen Werte vorliegt. Neben einer differenzierten Wertevorstellung herrschen auch unterschiedliche Betrachtungsweisen über die Intensität der gemeinsamen Zusammenarbeit. Die Europäische Union wird deshalb auch als „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ bezeichnet, was die engere Zusammenarbeit einiger (Kern-)Mitgliedsstaaten beschreibt, solange andere noch nicht integrationswillig sind. Beispiele hierfür sind die gemeinsame Währungsunion und der Schengenraum, welche verdeutlichen, dass es eine unterschiedliche Bereitschaft zur Aufgabe der eigenen Souveränität gibt.[40] Jedoch darf es nicht zu einem Europa à la Carte kommen, wo sich die Mitgliedsstaaten ihre bevorzugten politischen Felder aussuchen, in denen sie eine Zusammenarbeit anstreben.[41] Solch ein Europa birgt, folgt man der Argumentation des Manifests von Ventotene, die Gefahren eines erneuten Auflebens des patriotischen Nationalismus, da der Patriotismus in diesen Ländern nicht durch einen europäischen ersetzt werden würde. Diese These bestätigt sich, wenn man sich die Ergebnisse der Wahlen aus Ländern anguckt, welche sich einer stärkeren Integration verweigern. Das politische Narrativ der PiS-Partei in Polen zeigt sich beispielsweise an der Haltung dieser Partei zum Geschichtsunterricht und dem Behandeln von polnischen Kriegsverbrechen.[42]
Zum Schluss soll ein abschließendes Fazit gezogen und ein Ausblick gegeben werden. Es wird im Folgenden eine Beantwortung der Leitfrage, inwiefern die betrachteten philosophischen Ideen eines geeinten Europas der heutigen Europäischen Union entsprechen, dargelegt. Wirft man einen Blick auf die den Werten zugrundeliegenden Paradigmen, so kann eine eindeutige soziale Perspektive der philosophischen Ideen festgestellt werden, welche sich auch in der EU realisiert. Jedoch umfasst der dargelegte Staatenbund des Manifests von Ventotene eine größere soziale Dimension als es die Europäische Union tut. Dies zeigt sich vor allem an der positiveren Haltung gegenüber dem Kapitalismus, was in einer schwächeren Harmonisierung der europäischen Sozialpolitik mündet, wie am Beispiel des Mindestlohns ausgeführt. Wie jedoch von Hegel beschrieben, ist eine Anerkennung des Menschen, also auch die Anerkennung seiner Arbeit, eine Notwendigkeit für die Menschliche Würde. Eine solche Hegemonie des kapitalistischen Wirtschaftssystems birgt dementsprechend die Gefahr für eine, im Manifest von Ventotene beschriebene, Ausbeutung der Arbeiter und erschwert außerdem die Bekämpfung des Klimawandels, da die Profitmaximierung als Leitprinzip wirkt. Weiterhin herrscht eine Differenz über das Bestehenbleiben von nationalen Grenzen und Patriotismen vor und die Europäische Union hat es nicht geschafft eine europäische Identität zu erschaffen, wodurch es innerhalb Europas zu einem erneuten Aufleben nationalistischer Tendenzen kommt, wie schon von Spinelli befürchtet. Allerdings wurden auch Werte wie Freiheit und Rechtsstaatlichkeit aufgegriffen, welche in der Theorie der Europäischen Union integriert wurden und so eine direkte Umsetzung der philosophischen Ideen darstellen. Die EU hat dadurch ein solides Wertefundament errichtet, welches die Grundlage für ihre Institutionen und Beschlüsse bildet. Die Freiheit als Grundprinzip des europäischen Zusammenlebens entfaltet sich mannigfach, so kann jeder ohne Reisepass die offenen Grenzen passieren oder steuerfrei Waren bestellen. Sie ist zu einem selbstverständlichen Teil unseres Alltags geworden, welche das europäische Alltagsleben prägt. Auch die Rechtsstaatlichkeit als fundamentales Prinzip wurde in den Verträgen der Europäischen Union festgehalten. Allerdings lässt sich am Beispiel dieser feststellen, dass in der Praxis unterschiedliche Anerkennungen der Werte und des Wesens der europäischen Union vorliegen. Es herrscht Uneinigkeit darüber, was ein geeintes Europa sein soll, wenn Osteuropäische Staaten sich auf ihre Souveränität berufen und europäisches Recht missachten. Während die Paneuropa-Union eine geeinte europäische Einheit anstrebt, droht die EU ein Europa à la Carte zu werden und eine rückschrittige Integration zu durchlaufen.[43]
Die EU scheint aus theoretischer Perspektive eine Werteunion und greift verschiedene philosophische Konzepte auf, doch verliert sie ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie diese philosophischen und historischen Werte in ihrer Realpolitik nicht entschieden verteidigt. Und diese Glaubwürdigkeit nach außen ist elementar, wenn sie, wie vom Manifest beschrieben, nur ein Zwischenschritt hin zu einem Weltstaat sein soll. So lässt sich festhalten, dass die EU eine zum Teil unterschiedliche Umsetzung darstellt als von philosophischen Werken gefordert und diese Unterschiede eine Durchsetzung ihrer Werte zunehmend erschweren.
Doch was kann die Europäische Union aus dieser Retrospektive lernen, wo sind die Ansatzpunkte für eine Transformation? Ein Rückblick auf philosophische Ideen über ein geeintes Europa gewährt trotz ihres Alters Einsicht auf die Gründe für momentane politische Geschehnisse und wo gegengesteuert werden kann. Hierdurch lassen sich bestimmte Reformempfehlungen aus der politischen Philosophie ableiten, welche durch die empirische Politikwissenschaft in Verträge und Institutionen umgesetzt werden muss. Auch wenn eine Umsetzung unter den momentanen politischen Strömungen kaum zu erreichen scheint, benötigt Europa im Hinblick auf die Eindrücke des zweiten Weltkrieges eine deutlich intensivere Zusammenarbeit. Eine verstärkte europäische Integration könnte ein weiteres Gedeihen nationaler Patriotismen verhindern und durch intensivierte Maßnahmen eine europäische Identität festigen. Um das Wertefundament besser verteidigen zu können, benötigt es eine ausgeweitete Kontrolle über die Umsetzung dieser Grundsätze in den Mitgliedsstaaten und bei Missachtung weitreichende Gegenmaßnahmen. Damit eine Einheit entstehen kann, muss sich darauf geeinigt werden, was Europa sein soll. Gleichwohl muss bei der Beantwortung dieser Frage berücksichtigt werden, dass es, folgt man der Argumentation des Manifests von Ventotene, keine Alternative zu der Europäischen Union gibt und diese ein wichtiges Gegengewicht zu anderen internationalen Akteuren darstellt: „Blickt man über den alten Erdteil hinweg auf alle Völker der Menschheit, muss man zugeben, dass die Europäische Föderation die einzig denkbare Garantie bietet, um die Beziehungen mit den asiatischen und amerikanischen Völkern auf eine Basis friedlicher Zusammenarbeit zu stellen[..].“[44] Zwangsläufig muss die EU deshalb ihre nationalen Grenzen abschaffen und eine Einheit werden, welche ihre Werte mit Ausdruck und Glaubwürdigkeit vertreten kann. Dann, und nur dann, kann sie die Staaten der Welt zusammenbringen und ein Weltstaat werden.
Lexika:
Meyers großes Taschenlexikon (1987); Band 6; S.251 f
Meyers großes Taschenlexikon (1987); Band 18; S.123
Monographien:
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich; Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaft im Grundrisse (1817); §488, §490
Herzog, Lisa; Politische Philosophie (2019); S.14-16; S.196-197
Höffe, Otfried; Immanuel Kant, zum ewigen Frieden (1995); S.91
Frommelt, Reinhard; Paneuropa oder Mitteleuropa – Einigungsbestrebungen im Kalkül deutscher Wirtschaft und Politik 1925-1933 (1977); S.11-12, S.15
Pammer, Michael; „Robustere Regierungsmethoden“: Richard Coudenhove-Kalergi und die Opportunität politischer Grundsätze (2012); S.485
Pieper, Mariane et al.; Empire und die biopolitische Wende (2007); S.295
Spinelli, Altiero. Rossi Ernesto; Das Manifest von Ventotene (1941)
Strube, Sonja A. et al.; Anti-Genderismus in Europa (2021); S.295 f
Internetquellen:
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Eurobarometer 1992-2017, Moreno-Frage, gewichteter Durchschnitt für die Europäische Union insgesamt, https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2Fs10273-018-2379-3.pdf [Stand: 11.03.2021]
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Wikipedia; Paneuropa-Union; https://de.wikipedia.org/wiki/Paneuropa-Union [Stand: 09.03.2021]
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Offizielle Dokumente:
Charta der Grundrechte der Europäischen Union; Artikel 10 – Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (2000); S.17
Vertrag über die Europäische Union (konsolidierte Fassung) (2012); Teil II, Art.3, Abs.3
Vertrag über die Europäische Union (konsolidierte Fassung) (2012); S.17
[1] Vgl. Meyers großes Taschenlexikon (1987); Band 18; S.123
[2] Klaus Bachmann; Analyse: Eine Justizreform, die Brücken verbrennt (18.04.2018); https://www.bpb.de/267803/analyse-eine-justizreform-die-bruecken-verbrennt?rl=0.4878534651048416 [Stand: 07.03.2021]
[3] Vgl. Meyers großes Taschenlexikon (1987); Band 6; S.251 f
[4] Vgl. Lisa Herzog; Politische Philosophie (2019); S.14
[5] Vgl. Lisa Herzog, Politische Philosophie (2019); S. 15 f., S.196 f
[6] EU-Vertrag (Teil II, Art.3, Abs.3) (2004)
5 Vgl. Altiero Spinelli, Ernesto Rossi; Das Manifest von Ventotene (1941); S.1
[8] Vgl. Altiero Spinelli, Ernesto Rossi; Das Manifest von Ventotene (1941); S.1 ff
[9] Vgl. Altiero Spinelli, Ernesto Rossi; Das Manifest von Ventotene (1941); S.3 ff
[10] Altiero Spinelli, Ernesto Rossi; Das Manifest von Ventotene (1941); S.8
[11] Vgl. Altiero Spinelli, Ernesto Rossi; Das Manifest von Ventotene (1941); S.19 f
[12] Otfried Höffe; Immanuel Kant, zum ewigen Frieden (1995); S. 91
[13] Vgl. Altiero Spinelli, Ernesto Rossi; Das Manifest von Ventotene (1941); S.11
[14] Altiero Spinelli, Ernesto Rossi; Das Manifest von Ventotene (1941); S.7
[15] Wikipedia; Paneuropa-Union; https://de.wikipedia.org/wiki/Paneuropa-Union [Stand: 09.03.2021]
[16] Michael Pammer; „Robustere Regierungsmethoden“: Richard Coudenhove-Kalergi und die Opportunität politischer Grundsätze (2012); S.485
[17] Vgl. Reinhard Frommelt; Paneuropa oder Mitteleuropa – Einigungsbestrebungen im Kalkül deutscher Wirtschaft und Politik 1925-1933 (1977); S. 11 f
[18] Vgl. Reinhard Frommelt; Paneuropa oder Mitteleuropa – Einigungsbestrebungen im Kalkül deutscher Wirtschaft und Politik 1925-1933 (1977); S.15
[19] Vgl. Paneuropa Union Deutschland e.V.; Das Bamberger Programm vom 9. Juni 1996 (1996); https://paneuropa.org/grundsaetze [Stand: 10.03.2021]
[20] Charta der Grundrechte der Europäischen Union; Artikel 10 – Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (2000)
[21] Vgl. Charta der Grundrechte der Europäischen Union; S.8 (2000)
[22] Vgl. Wikipedia; Charta der Grundrechte der Europäischen Union; https://de.wikipedia.org/wiki/Charta_der_Grundrechte_der_Europ%C3%A4ischen_Union [Stand: 10.03.2021]
[23] Vgl. Vertrag über die Europäische Union (konsolidierte Fassung); S.17 (2012)
[24] Vgl. Charta der Grundrechte der Europäischen Union; S.17 (2000)
[25] Vgl. Lohn-Info; Gesetzliche Mindestlöhne in anderen Staaten (01.01.2021); https://www.lohn-info.de/mindestlohn_andere_laender.html#:~:text=Ab%2001.04.2021%20sind%20es,auch%20keinen%20gesetzlich%20festgelegten%20Mindestlohn. [Stand: 10,03.2021]
[26] Mariane Pieper et al.; Empire und die biopolitische Wende (2007); S.295
[27] Verweis auf Seite 4 der Hausarbeit
[28] Vgl. Paneuropa Union Deutschland e.V.; Das Bamberger Programm vom 9. Juni 1996 (1996); https://paneuropa.org/grundsaetze [Stand: 10.03.2021]
[29] Vgl. Europäisches Parlament, Verbindungsbüro in Deutschland; Die Gesetzgebungsverfahren; https://www.europarl.europa.eu/germany/de/europ%C3%A4isches-parlament/gesetzgebungsverfahren [Stand: 11.03.2021]
[30] Altiero Spinelli, Ernesto Rossi; Das Manifest von Ventotene (1941); S.8
[31] Eurobarometer 1992-2017, Moreno-Frage, gewichteter Durchschnitt für die Europäische Union insgesamt, https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2Fs10273-018-2379-3.pdf [Stand: 11.03.2021]
[32] Georg Wilhelm Friedrich Hegel; Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaft im Grundrisse (1817); §488
[33] Verweis auf Seite 6 und Seite 8 f der Hausarbeit
[34] Europäische Kommission; Europäische Kommission stellt neue Rahmenvorschriften zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union vor; 11.03.2014; https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/IP_14_237 [Stand: 12.03.2021]
[35] Europäische Kommission; 2020 Rule of Law report – Country Chapter Poland (30.09.2020); https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?qid=1602579986149&uri=CELEX%3A52020SC0320 [Stand: 12.03.2021]
[36] Vgl. Altiero Spinelli, Ernesto Rossi; Das Manifest von Ventotene (1941); S.11
[37] Vgl. Sonja A. Strube et al.; Anti-Genderismus in Europa (2021); S.295 f
[38] Georg Wilhelm Friedrich Hegel; Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaft im Grundrisse (1817); §490
[39] Europäisches Parlament; Entschließungsantrag (24.11.2020); https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/B-9-2020-0373_DE.html [Stand: 12.03.2021]
[40] Vgl. Dr. Carsten Weerth; Europäische Union der verschiedenen Geschwindigkeiten (25.10.2018); https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/europaeische-union-der-verschiedenen-geschwindigkeiten-54512/version-339806 [Stand: 12.03.2021]
[41] Vgl. Bruno Zandonella; Europa à la carte (2009); https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/pocket-europa/16713/europa-a-la-carte [Stand: 12.03.2021]
[42] Florian Kellermann; Wie Geschichte umgedeutet wird (21.11.2016); https://www.deutschlandfunk.de/polen-wie-geschichte-umgedeutet-wird.1310.de.html?dram:article_id=371822 [Stand: 12.03.2021]
[43] Vgl. Paneuropa Union Deutschland e.V.; Das Bamberger Programm vom 9. Juni 1996 (1996); https://paneuropa.org/grundsaetze [Stand: 13.03.2021]
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