MENU
Identität: Der Schlüssel für ein gemeinsames Europa

Identität: Der Schlüssel für ein gemeinsames Europa

               

Identität: Der Schlüssel für ein gemeinsames Europa

von

Sara Zwischenbrugger

*

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

1. Einleitung                                                             1

2. Was bedeutet Identität?                                       2

3. Wofür ist politische Identität wichtig?                   3

4. Die zwei Komponenten politischer Identität         4

5. Nationale, Regionale und Europäische Identität  4

6. Europäische Identität und Philosophie                 7

7. Fazit                                                                    11

Quellenverzeichnis

 

1.Einleitung

In Vielfalt geeint“ – so lautet das Motto der Europäischen Union seit dem Jahre 20001.
Heute, 18 Jahre später scheint dieser Leitspruch an Kraft verloren zu haben und in Vergessenheit geraten zu sein.

Aktuelle politische Entwicklungen zeigen, wie sehr Menschen die Frage nach dem eigenen Platz innerhalb dieser „Vielfalt“, die Frage nach Zugehörigkeit und Identität beschäftigt. Vor allem rechte Phänomene, wie beispielsweise Brexit in Großbritannien, rechtspopulistische Parteien wie Alternative für Deutschland in Deutschland, Lega Nord in Italien, Front National in Frankreich, Freiheitliche Partei Österreichs in Österreich und Fidesz in Ungarn betonen scharfe Abgrenzung verschiedener Kulturen und Nationalismus. Kulturelle Unterschiede innerhalb Europas und auch innerhalb einzelner Nationalstaaten werden von vielen Menschen als Hindernisse für Zusammenarbeit empfunden.

Allen diesen rechtspopulistischen Bewegungen ist eines gemeinsam: Identität und der Wunsch nach Selbstbestimmung werden stark betont. Doch wodurch definiert sich dieses „Selbst“ und worin genau besteht die „Fremdbestimmung“?

Heutige Herausforderungen, wie beispielsweise der Klimawandel und die Flüchtlingskrise, verlangen nach gemeinsamem Handeln. Alleingänge der einzelnen Nationalstaaten reichen bei den Ausmaßen vieler aktueller Probleme nicht mehr aus. Wie lässt sich die „Fremdbestimmung“, in eine Selbstbestimmung umwandeln, die zugleich den Zusammenhalt in Europa fördert?

 Was bedeutet „Vielfalt“ in Europa tatsächlich und wie kann diese innerhalb eines stärker geeinten Europas, als es in der heutigen Form vorliegt, bestehen? Wie sähe ein solches in Vielfalt geeintes Europa tatsächlich aus?

Gibt es einen gemeinsamen europäischen Nenner innerhalb dieser Vielfalt, einen Grundstein, auf dem das Europa der Zukunft gebaut werden kann?

Als Versuch, Ansätze für Antworten auf diese Fragen geben zu können, beschäftigt sich diese Hausarbeit mit der Bedeutsamkeit von Identität für die Gestaltung eines gemeinsamen Europas der Zukunft.

 

2.Was bedeutet Identität?

Das Wort Identität stammt ursprünglich vom lateinischen Begriff „ĭdem“, was „dasselbe“ bedeutet2. Der Begriff Identität hat viele Bedeutungen und wird in verschiedensten Bereichen verwendet. Zum einen bezeichnet er die Eigentümlichkeit eines Wesens, welche sich von allen anderen Wesen unterscheidet, zum anderen bedeutet er in der Logik schlicht das Prinzip der Ununterscheidbarkeit2. In der Psychologie bezeichnet Identität die als „Selbst“ erlebte innere Einheit der Person2.

Synonyme des Wortes sind Echtheit, Ichbewusstsein, Wesensgleichheit, Gleichartigkeit3.

Nach einer Erklärung von Wolfgang Leidhold, Professor an der Universität zu Köln, kann der Begriff Identität in „logisch“ und „existentiell“ unterschieden werden4. Identität im logischen Sinne bezieht sich laut Ihm auf eine Sache, einen Begriff und auf Unveränderlichkeit. So besagt beispielsweise auch der in der Logik verwendete Satz der Identität, dass ein Gegenstand A genau dann mit einem Gegenstand B identisch ist, wenn sich zwischen A und B kein Unterschied finden lässt5.

Der Identitätsbegriff aus existentieller Sicht bezieht sich laut Leidhold auf eine Person und ihre individuellen Eigenschaften wie Name, Erfahrung, Geschichte usw.

Eine Person fühlt sich aufgrund ihrer Eigenschaften, welche kulturelle Eigenarten, Sprache, Wertvorstellungen oder Erfahrungen und Geschichte oder andere, auch äußerliche Merkmale, sein können, einer bestimmten Gemeinschaft zugehörig und identifiziert sich oder zumindest einen Teil der eigenen Persönlichkeit mit dieser Gemeinschaft.
Diese Hausarbeit beschäftigt sich mit einem bestimmten Teilbereich dieser existentiellen Identität, nämlich der politischen Identität.

Mit politischer Identität ist im Kontext dieser Arbeit das Zugehörigkeitsgefühl einer Person zu einem politischen Gemeinwesen wie einem Staat, einer Nation, einer Stadt oder einer Region gemeint.

 

3.Wofür ist politische Identität wichtig?

Die politische Identität ist für den Menschen wichtig, da sie sozialer Zusammenhalt und Zugehörigkeit bedeutet und dadurch dem Individuum ein Gefühl der Sicherheit und des Schutzes innerhalb einer Gemeinschaft bietet. Für die Gemeinschaft, als Zusammenschluss vieler Menschen z.B. in der Form eines Staates, bedeutet diese Identität, bezogen auf das Gefühl der Zugehörigkeit ihrer Mitglieder, ebenfalls Sicherheit, weil sie die Basis für Vertrauen und Kooperationsbereitschaft darstellt.

Der Politikwissenschaftler Thomas Meyer schrieb dazu, in Bezug auf die Europäische Union, folgendes: „Wie für jedes andere politische Gemeinwesen auch, so ist für die Europäische Union ein ausreichend ausgebildeter Sinn gemeinsamer Bürgeridentität eine notwendige Bedingung sowohl für die Legitimität ihres politischen Handelns als auch für die Solidarität ihrer Bürger.“ 6

Genau diese Solidarität fehlt in der Europäischen Union, der heutigen politischen Organisation Europas, bisher häufig. Dass dies eine Gefahr für die Sicherheit der europäischen Gemeinschaft darstellt, wird dann deutlich, wenn nicht im Sinne des geeinten Europas gehandelt wird, sondern im Sinne einzelner Nationalstaaten. Diese werden zwar vom Rückhalt ihrer Bevölkerung getragen, agieren jedoch viel zu oft gegen das Wohl der gesamten europäischen Gemeinschaft und der Weltgemeinschaft.

Als Beispiel dazu steht die Flüchtlingskrise, bei der viele Nationalstaaten ihren Unwillen zur Zusammenarbeit verdeutlichen, indem Grenzen und Häfen geschlossen werden, auch wenn klar ist, dass das Problem dadurch nicht gelöst wird, sondern nur von sich weg und zu den anderen hingeschoben wird. Dabei ist genau dieser Gedanke, nämlich die Unterscheidung des „Selbst“ und des „Anderen“ sehr gefährlich, weil diese Trennung vor allem in der heutigen Zeit der Globalisierung nicht mehr so einfach ist wie sie es früher war, als Berge und Meere noch eine reale Grenze für Menschen darstellten.
 

Das Identitätsempfinden des Bürgers ist deshalb so wichtig, weil sie ein „Wir“ enthält und damit Bewusstsein für das Zusammenleben schafft. Die meisten Menschen empfinden bei einem „Wir“ wahrscheinlich mehr Verantwortungsbewusstsein als bei einem „Anderen“. Diese Tatsache spielt nicht nur beim Fußball eine wichtige Rolle, wo Teamgeist und Zusammenhalt ausgiebig gefeiert werden, sondern bedeutet vor allem für das Funktionieren eines Staates sehr viel.

Doch worauf genau beruht dieser Teamgeist innerhalb Europas? Worauf beruht die europäische Identität, wenn doch dieses „Andere“ sogar schon im Motto der Europäischen Union, ausgedrückt durch „Vielfalt“, steckt?

 

Die zwei Komponenten politischer Identität

Um diese Frage zu beantworten ist es notwendig politische Identität genauer zu betrachten. Der britische Professor für Politik Michael Bruter unterscheidet beim politischen Identitätsbegriff zwei Komponenten: die „kulturelle Identität“ und die „staatsbürgerliche Identität“.7
Kulturelle Identität bezieht sich auf kulturelle Eigenschaften einer Gemeinschaft wie beispielsweise Sprache und Traditionen. Diese ist häufig auch sehr stark an geografische Gegebenheiten gebunden und hat einen starken emotionalen Charakter. Der Begriff der Heimat und Familie spielt hier eine große Rolle.

Die andere Komponente, die staatsbürgerliche Identität, beschreibt laut Bruter, die Identifikation eines Menschen mit einem politischen System, welches seine Rechte und Pflichten bestimmt.7

 

5.Nationale, regionale und europäische Identität

Beide dieser Identitätsformen werden heutzutage hauptsächlich von den einzelnen europäischen Nationalstaaten repräsentiert.

Beim Betrachten der Geschichte wird jedoch deutlich, dass die europäischen Nationalstaaten relativ junge, künstliche Konstrukte sind, deren kultureller und staatsbürgerlicher Identitätsanspruch ebenfalls erst geschaffen wurde und keineswegs bereits seit jeher in der Gesellschaft verankert war.8

Überall in Europa wurden Nationen geschaffen indem unabhängige und kulturell unterschiedliche Regionen zu großen Kultur- und Staatseinheiten zusammengeschlossen wurden. Deshalb sind die meisten europäischen Nationen geschichtlich betrachtet keine 

kulturellen Einheiten, sondern ein Zusammenschluss verschiedener oft ähnlicher Kulturen. Bevölkerungen wurden sozusagen zu „Deutschen“, „Italienern“ und „Franzosen“ gemacht und erzogen (zum Beispiel durch das Einführen und Lehren einer Standardsprache).

Die kulturelle Vielfalt Europas, wird folglich nicht ausreichend durch die Nationalstaaten repräsentiert, sondern liegt eigentlich in den kleineren kulturellen Einheiten, nämlich den Regionen. Diese haben sich über einen sehr viel längeren Zeitraum kulturell entwickelt und zeigen ursprüngliche und natürliche kulturelle „Grenzen“. Auch die meisten Städte, vor allem Großstädte, sind keine künstlich „geschaffenen“, sondern „gewachsene“ kulturelle Einheiten.

Die kulturelle Identität ist folglich eigentlich in den Regionen und Städten verankert, wird aber häufig durch nationale Identität überdeckt.

Aus diesem Gedankengang lässt sich ableiten, dass auch die europäische Identität keine stark fundierte kulturelle Identität sein kann, denn sie würde sich damit genauso wie die Nationalstaaten über bereits bestehende kulturelle Einheiten legen und diese „vereinheitlichen“.
 

Mit 24 verschiedenen Amtssprachen9, die sich in unzähligen Dialekten entfalten, unterschiedlichsten geografischen Landschaften, verschiedenster Musik, Speisen, Religionsformen, unterschiedlicher Geschichte, Traditionen und Mentalitäten ist Europa keine kulturelle Einheit, sondern viel mehr der Inbegriff kultureller Vielfalt.
Der gemeinsamen Nenner, der die europäische Identität begründet, ist folglich wo anders als in der kulturellen Lebensart zu finden.

Die Essenz einer europäischen Gemeinschaft liegt vielmehr in einer der Früchte der Kultur: der bereits erwähnten „staatsbürgerlichen“ Identität.

Die Staatlichkeit der EU besteht bereits ansatzweise im Hintergrund, doch sie ist durch die Souveränität der einzelnen europäischen Nationalstaaten stark beschränkt.

Wie bereits erläutert bezeichnet die staatsbürgerliche Identität laut Bruter, die Identifikation eines Menschen mit einem politischen System, welches seine Rechte und Pflichten bestimmt.7

Die Gesetze verschiedener europäischer Nationalstaaten unterscheiden sich zwar, aber die allgemeinen Rechte und Pflichten der Bürger beruhen auf denselben Wertvorstellungen auf denen die Europäische Union einst gegründet wurde: 

die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören, Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern.10

Wie stark diese Werte mit der europäischen Identität zusammenhängen wird beispielsweise in folgendem Zitat von Heinz Kleger, Professor für Politische Theorie, deutlich:

Dieser Selbst- und Erfahrungsbezug von Werten ist wiederum für die Politik, die kollektiv entscheiden muss, eine wichtige Voraussetzung. Sie muss daran anknüpfen und kann darauf aufbauen. Werte sind also für Individuen wie für Gemeinwesen, in denen kollektiv entschieden wird, etwas Grundlegendes, da sich durch sie Identifikationen und Identitäten ergeben – individuell wie kollektiv." 11

Mentalität wird durch Kultur stark beeinflusst und kann sich deshalb sehr zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen innerhalb Europas unterscheiden, aber die letzten Gründe, also die Grundwerte, sind dieselben. Deshalb sollten auch die Pflichten und Rechte aller, die diese Grundwerte vertreten, dieselben sein.

Ein europäisches Volk gibt es nicht, aber Bürger, die in einem Europäischen Parlament gleichberechtigt abstimmen, im Sinne einer europäischen Republik“ 12 – diese Aussage der deutschen Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot verdeutlicht, dass das „Wir“ in Europa, vor allem im Europa der Zukunft, nicht in einem kultureller Vereinheitlichung und in der Schaffung eines europäischen kulturellen Volkes, welches sich kulturell von anderen Völkern unterscheidet, liegt, sondern in den Rechten und Pflichten der europäischen Bürger, genauer gesagt also in den europäischen Wertvorstellungen.

Der römische Politiker und Philosoph Cicero meinte dazu:

Der Staat ist also die Sache des Volkes; das Volk aber ist nicht jede Vereinigung von Menschen, welche auf irgendeine Weise geschlossen wurde, sondern es ist diejenige Vereinigung einer Menschenmenge, welche basierend auf ihrer Übereinstimmung in den Rechtsvorstellungen und auf ihrer Gemeinsamkeit des Vereinigungsnutzens zusammengeschlossen wurde.“ 13

Um zu verdeutlichen, warum diese Wertvorstellungen unabhängig von kulturellen Eigenheiten für alle Bürger gelten, ist es wichtig ihren Ursprung zu beleuchten: nämlich die Philosophie.

 

6.Europäische Identität und Philosophie

In dem „Manifest für die philosophische Identität des europäischen Volkes“14 des italienischen Professors für Philosophie Marco de Angelis wird die Rolle der Philosophie, genauer gesagt des Idealismus, für Europa deutlich.

De Angelis beschreibt den Begriff des Staates folgenderweise:

Um den Begriff des Staates zu bestimmen, ist es notwendig, das Prinzip, auf das sich dieser stützt, zu begreifen. Wir können dieses als „Prinzip der schöpferischen Rationalität“ definieren. Dieses versteht sich als die in jedem Menschen präsente universelle absolute Vernunft. Der philosophische Staat ist vor allem ein auf der schöpferischen Rationalität als Eigenschaft und essentieller Gabe jedes Menschen basierender Staat.“ 15

Folglich ist die staatsbürgerliche Identität eigentlich eine philosophische Identität, denn die Rechte und Pflichten des Bürgers, auf die sie sich bezieht, sind philosophische, genauer gesagt idealistische Werte, weil sie auf der idealistischen Annahme basieren, dass jeder Mensch, wie von de Angelis beschrieben, „schöpferische Rationalität“, im Sinne von absoluter Vernunft, besitzt.

Daraus lässt sich herleiten, dass diese Werte nicht an eine bestimmte Kultur oder Nation gebunden sind, sondern für alle Menschen gelten, da alle Menschen diese absolute Vernunft besitzen. Damit sind die europäischen Grundwerte, genauso wie die Philosophie, zwar aus der Kultur entstanden, jedoch befinden sie sich auf einer Ebene, die über der kulturellen europäischen Vielfalt und über den Nationalitäten liegt und alle Menschen weltweit einschließt.

Um noch genauer zu begründen warum die europäischen Grundwerte philosophische, genauer idealistische Werte sind ist es notwendig ihr Verhältnis zu der Realität der Bevölkerung und ihren eigentlichen Sinn oder Nutzen für die Bevölkerung zu erläutern.

De Angelis schreibt, dass die Philosophie des Idealismus im Einklang mit der Wissenschaft ist und dass sie „weises“ Verhalten vorgibt, damit Menschen möglichst gut miteinander leben können:

 „Das Hauptmerkmal der idealistisch-philosophischen Zivilisation ist, dass ihr die Welt- und Lebensauffassung des Menschen in der Welt rationalisierter Art ist. Sie besteht also in einer Philosophie des Idealismus […]. Diese Philosophie ist in völligen Einklang mit den empirischen Naturwissenschaften und bündelt den gesamten Komplex menschlichen Wissens in einem philosophischen System. Dieses philosophische System begründet dann auch eine ethisch- politische Orientierung, bzw. gibt vor, welches individuelle (moralische) und soziale (politische) Verhalten weise ist, weil es geeignet ist, den Menschen auf bestmögliche Art leben zu lassen.“ 16

Man kann sagen, dass die Grundwerte der Europäischen Union für eine solche idealistisch-philosophische Zivilisation in Europa erarbeitet wurden, denn ihr Ziel ist es genau diese „bestmögliche Art zu leben“ für die Menschen zu sichern. Den meisten Menschen fehlt es aber bisher an Bewusstsein für diese gemeinsame Philosophie und damit an Bewusstsein für die europäische Identität als eine philosophische Identität.

Europa wird bisher nicht als philosophischer Staat anerkannt, weil die Europäische Union noch nicht handlungsfähig genug ist, um jedem Menschen in Europa diese „bestmögliche Art zu leben“ auf gleiche Weise sichern kann. Viele Menschen glauben daran, dass nur die Nationalstaaten dies tun können, auch wenn bei den großen Herausforderungen wie Klimawandel und Flüchtlingskrise, aber auch innerstaatliche Probleme, wie z.B. hohe Arbeitslosigkeit und Finanzkrisen, schnell klar ist, dass sie dies nicht gut alleine schaffen können.
Solange die Menschen den philosophischen Staat Europa nicht erkennen, wird die nationale Identität (im Sinne des reinen Nationalstaates, nicht kulturelle Identität im Sinne der Kultur) gegen eine europäische Identität ankämpfen.

Laut de Angelis ist ein idealistisch-philosophischer Staat nicht von nationalen Grenzen und auch nicht von einer europäischen Grenze beschränkt: „Die organisierte menschliche Gemeinschaft, d.h. der Staat als Weltstaat ohne jegliche geographische Grenze, ist der erste ethische Wert der absoluten Ethik.“ 17

Dies ist auch zu begründen, wenn man auf die Geschichte der Entstehung der philosophischen Überlegungen, wie Freiheit und Menschenwürde usw. blickt. Diese sind nicht innerhalb der Grenzen eines einzelnen Nationalstaates entstanden und auch nicht nur dort geblieben. Es gab immer einen Austausch verschiedenster philosophischer Ideen, wobei Denker und Denkerinnen verschiedenster Nationalitäten wie z.B. Platon, Aristoteles, Giordano Bruno, Descartes, Rousseau, Kant, Hegel usw. gemeinsam zu den Wertvorstellungen des heutigen Europas und damit einer europäischen, übernationalen Philosophie, beigetragen haben. Dabei stand kein nationaler Konkurrenzgedanke im Vordergrund - im Gegenteil: die Blüte vieler Wertvorstellungen erfolgte erst durch diesen Austausch und gegenseitige Anerkennung über Nationen hinweg.

Viele Werte sind durch die Aufklärung, welche sich in Frankreich entwickelt hat, endstanden und andere wurden wiederum geprägt durch die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs in Deutschland. Auch das Christentum hatte Einfluss auf die Entstehung dieser Werte, jedoch sind sie nicht an die Religion gebunden. Sie sind vielmehr eine eigene Religion: eine Vernunftreligion im Sinne von Kant18, denn sie stehen, wie de Angelis es in seinem Buch ausdrückt, als idealistische Philosophie in völligen Einklang mit den empirischen Naturwissenschaften.
Kleger schreibt dazu: „Hier ist die Formulierung „Glaube an die Grundrechte“ aufschlussreich, die – unabhängig vom differenten konfessionellen Hintergrund – ein Ausdruck von Bürgerreligion ist. Es gibt sie auch ohne Gott."
19

Die „Bürgerreligion“ kann hier mit der Vernunftreligion Kants und Hegels20 und der Philosophie des Idealismus einer idealistisch-philosophischen Zivilgesellschaft, wie sie de Angelis beschreibt, verglichen werden:

Von der Zivilisation des Monotheismus, die in ihre unterschiedlichen Glaubensrichtungen aufgeteilt ist, gehen wir in die Zivilisation der Vernunftreligion bzw. der Philosophie, also der komplett rationalen Weise, das absolute zu erkennen und auszudrücken. Kurz gesagt: zur „Zivilisation des Idealismus […].“ 21

Auch der ehemalige Staatspräsident der Tschechischen Republik Václav Havel weist in einer Rede über die europäische Identität, vor dem europäischen Parlament 1994, auf die metaphysische Verankerung und damit den philosophischen Ursprung der europäischen Werte hin:  „Die Europäische Union beruht auf einem großen Ensemble zivilisatorischer Werte, deren Wurzeln zweifellos auf die Antike und das Christentum zurückgehen und die sich durch zwei Jahrtausende hindurch zu der Gestalt entwickelt haben, die wir heute als die Grundlagen der modernen Demokratie, des Rechtsstaates und der Bürgergesellschaft begreifen. Das Ensemble dieser Werte hat sein klar umrissenes sittliches Fundament und seine manifeste metaphysische Verankerung, und zwar ungeachtet dessen, inwieweit der moderne Mensch sich das eingesteht oder nicht. Man kann also nicht sagen, der Europäischen Union mangele es an einem eigenen Geist, aus dem alle ihre konkreten Prinzipien, auf denen sie beruht, hervorgegangen sind. Nur scheint es, dass dieser Geist zu. wenig sichtbar wird. […] Deswegen scheint mir, dass die wichtigste Anforderung, vor welche die Europäische Union sich heute gestellt sieht, in einer neuen und unmissverständlich klaren Selbstreflexion dessen besteht, was man europäische Identität nennen könnte, in einer neuen und wirklich klaren Artikulation europäischer Verantwortlichkeit in verstärktem Interesse an einer eigentlichen Sinngebung der europäischen Integration und aller ihrer weiteren Zusammenhänge in der Welt von heute, und in der Wiedergewinnung ihres Ethos oder — wenn Sie so wollen — ihres Charismas.“ 22

Auch wenn diese Rede vor 15 Jahren gehalten wurde, enthält sie eine aktuelle Botschaft.
Die „klare Selbstreflexion der europäischen Identität“, also der eigenen philosophischen Grundwerte ist heute für das Fortbestehen einer europäischen Gemeinschaft so dringend notwendig wie nie zu vor, um Zusammenhalt in der Bevölkerung zu schaffen.

Diese klare Selbstreflexion besteht u.a. darin, klarzustellen, dass sich „europäisch“ zu fühlen nicht bedeutet sich nicht griechisch, nicht französisch usw. zu fühlen oder sich einer „Mischkultur“ der europäischen Kulturen zugehörig zu fühlen. Vielmehr bedeutet sich „europäisch“ zu fühlen die europäischen Grundwerte als gemeinsame Werte gemeinsam zu teilen.

Der gemeinsame Nenner eines Griechen, Polen, Franzosen, Ungaren, Deutschen und Italieners ist folglich nicht ihre Sprache, sondern die Wertvorstellungen, die durch ihre Sprachen ausgedrückt werden und die unabhängig der kulturellen Eigenart für alle Menschen gelten.

Europa, das kann man nicht oft genug wiederholen, ist kein Ort, sondern eine Idee. Europa ist nicht eine Kategorie des Seins, sondern des Geistes“.23

Dieses Zitat des französischen Journalisten Bernard-Henri Lévy beschreibt sehr schön, dass Europa im Grunde ein philosophisches Projekt ist, welches nicht unbedingt an geografische Gegebenheiten gebunden ist. Dadurch verdeutlicht es auch, dass Europa eigentlich gar keine Grenzen hat. Die Wertvorstellungen, für die Europa steht, sind nicht auf den Europäischen Kontinent begrenzt und sind auch durch den Einfluss anderer Kontinente entstanden.

Das, was Europa Symbolhaftigkeit bringt, ist das Bestreben, eine geistige Philosophie zu verkörpern, anstelle einer körperlichen Nation.

Sich „europäisch“ zu fühlen bedeutet folglich weit mehr, als auf demselben Kontinent zu leben. Es heißt vielmehr, sich darüber bewusst zu sein, dass es dieses große „Wir“ gibt, das über kulturelle Grenzen hinweg verbindet.

Vor allem aber bedeutet es, die bereits genannten Grundwerte zu teilen.

In der europäischen philosophischen Identität, wie de Angelis sie in seinem Buch beschreibt, liegt die Botschaft, dass Menschen unabhängig geografischer Herkunft und Kultur verbunden sind und enthält damit eine Friedensbotschaft für die ganze Welt.

 

7.Fazit

Für ein gemeinsames Europa, welches im Stande ist Herausforderungen zu meistern, ist ein gemeinsames Identitätsbewusstsein aller europäischen Bürger unbedingt notwendig. Dieses Identitätsbewusstsein, die europäische Identität, basiert auf den Grundwerten der Europäischen Union.

Dadurch, dass diese Grundwerte Überlegungen der Philosophie des Idealismus sind, gelten sie für alle Menschen und sind nicht an bestimmte Nationen gebunden.

Die auf ihnen basierende europäische Identität konkurriert deshalb nicht mit den vielen kulturellen Identitäten Europas, denn sie bezieht sich auf eine philosophische Geisteshaltung und nicht auf eine exklusive kulturelle Lebensart oder Tradition.

Durch die Philosophie ist die europäische Identität nicht an den europäischen Kontinenten gebunden, sondern an das Projekt und die Idee eines gemeinsamen Europas. Denn in 

diesem Projekt sind die gemeinsamen Grundwerte verankert und dadurch werden diese Werte in Europa „gelebt“ wie nirgends anders auf der Welt.

Um eine europäische Identität zu festigen, ist es wichtig, den philosophischen Charakter Europas zu betonen und Europa stärker als philosophische Einheit und weniger als begrenzten Kontinenten zu betrachten.

Durch die Entwicklung eines europäischen Bürgertums, einer neuen philosophisch- idealistischen Zivilisation im Sinne von de Angelis, in dem die Rechte und Pflichten jedes Individuums gleichermaßen, unabhängig der Nationalität, sichergestellt werden, kann der Zusammenhalt innerhalb Europas und weitergedacht auch der Friede in der gesamten Welt, gestärkt werden.

Die vielfältigen kulturellen Identitäten in Europa können gemeinsam mit einer starken europäischen philosophischen Identität bestehen. Es ist wichtig, dass diese gestärkt werden, damit nicht die Angst eines Identitätsverlustes und der „Fremdbestimmung“ durch ein übergeordnetes Europa besteht.

Ein Europa, welches durch stärkere Staatlichkeit in der Lage ist nach den Grundwerten der europäischen Bürger zu handeln, wird von diesen Bürgern auch nicht als „Fremdbestimmung“ und Bedrohung für die eigene Kultur empfunden, sondern zum Teil der Identität eines jeden Bürgers und somit zum „Selbst“.

Dieses gemeinsame philosophische Identitätsbewusstsein, welches dadurch entsteht, dass Europa von den Menschen als philosophischer Staat anerkannt wird, ist das Herz eines gemeinsamen Europas, welches so lange schlägt, wie die gemeinsamen Grundwerte von den Menschen weitergetragen werden.


Quellenverzeichnis

1 Vgl. https://europa.eu/european-union/about-eu/symbols/motto_de 03.03.2019

2 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Identit%C3%A4t 03.03.2019

3 Vgl. https://www.duden.de/rechtschreibung/Identitaet 02.03.2019

4 Vgl. Wolfgang Leidhold: Was ist die Europäische Identität und warum gibt es sie? Vortrag (Video) https://videos.uni-koeln.de/video/1656 02.03.2019

5 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Identit%C3%A4t_%28Logik%29 03.03.2019

6 Vgl. Thomas Meyer: Europäische Identität als Projekt (Buch, Seite 15) ISBN 978-3-531-15781-8

7 Vgl. Michel Bruter: Time Bomb? The Dynamic Effect of News and Symbols on the Political Identity of European Citizens (Bericht, 2009) http://cps.sagepub.com/content/42/12/1498 20.02.2019

8 Vgl. Günther Ammon: Das Europa der Regionen (Buch, 1994) ISBN 3-926777-42-7

9 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Amtssprachen_der_Europ%C3%A4ischen_Union 03.03.2019

10 Vgl. Grundwerte der Europäischen Union, Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV)

11 Vgl. Heinz Kleger: Gibt es eine europäische Zivilreligion? (Zeitschriftenaufsatz in WeltTrends Band 8, Seite 6; 2008 ISBN 978-3-940793-60-7)

12 Vgl. Ulrike Guérot in: Philosophie Europas Zukunft - Gemeinsam oder im Alleingang (Sendung, Kommentar bei 22:47 min; Arte, verfügbar vom 16/01/2019 bis 20/03/2019

13 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/De_re_publica 04.03.2019

14 Vgl. Marco de Angelis: Philosophie für alle (Buch) ISBN 978-3-00-054888-8

15 Vgl. Marco de Angelis: Philosophie für alle (Buch, Lektion 12, Seite 53) ISBN 978-3-00-054888-8

16 Vgl. Marco de Angelis: Philosophie für alle (Buch, Seite 47)

17 Vgl. Marco de Angelis: Philosophie für alle (Buch, Lektion 12, Seite 53) ISBN 978-3-00-054888-8

18 Vgl Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793)

19 Vgl. Heinz Kleger: Gibt es eine europäische Zivilreligion? S.12 (Zeitschriftenaufsatz in WeltTrends Band 8, Seite 12; 2008 ISBN 978-3-940793-60-7).

20 Vgl. Hegel: System der Sittlichkeit (Manuskript 1802/1803)

21 Vgl. Marco de Angelis: Philosophie für alle (Buch, Lektion 9, Seite 43) ISBN 978-3-00-054888-8

22 Vgl. Václav Havel: Über Europäische Identität (Rede, 8. März 1994 in Straßburg; gefunden in: Charta der Europäischen Identität; Europa-Union Deutschland)

23 Vgl. https://www.owep.de/artikel/205/meine-kriterien-fuer-europa 20.02.2019 (Sekundärquelle, Bernard-Henri Lévy zitiert von Bernhard Vogel in: Meine Kriterien für Europa)

*


 

 

 


 

 

 


 


 


 


 

Your comments

This page has no comments yet

Submit your comment

This blog encourages comments, and if you have thoughts or questions about any of the posts here, I hope you will add your comments.
In order to prevent spam and inappropriate content, all comments are moderated by the blog Administrator.

Access your Dashboard

Did you forget your password?

Did you forget your password? Ask for it!  Click here

Create an account

Not yet registered? Sign up now!  Click here

 
2852 Ansichten