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1995c: HEGELS PHILOSOPHIE ALS WEISHEITSLEHRE

1995c: HEGELS PHILOSOPHIE ALS WEISHEITSLEHRE

 

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1995c

(Dezember)

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HEGELS PHILOSOPHIE ALS WEISHEITSLEHRE

Beiträge zu einer neuen Interpretation des jungen und des reifen Hegel

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Papierveröffentlichung: hier

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Digitale Veröffentlichung: hier unten 

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Digitaler Text: Der zweite Teil des Buches, systematischer Natur,
wird unten veröffentlicht, nämlich die Kapitel 7 bis 10.

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Beitrag 7
Von der Weisheit zur Wissenschaft: 
Hegels philosophischer, dialektischer Werdegang

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In Hegels philosophischem Werdegang nimmt der Brief an Schelling vom 2. November 1800 (1) eine zentrale Stelle ein. Grund dafür ist, daß Hegel darin seine bisherige Entwicklung kurz skizziert und sich vor allem über die Wende äußert, die sich in seinem Denken gerade zu der Zeit ereignete:


"In meiner wissenschaftlichen Bildung, die von untergeordneten Bedürfnissen der Menschen anfing, mußte ich zur Wissenschaft vorgetrieben werden, und das Ideal des Jünglingsalters mußte sich zur Reflexionsform, in ein System zugleich verwandeln; ich frage mich jetzt, während ich noch damit beschäftigt bin, welche Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen zu finden ist."

(S. 59-60)


Diese Stelle weist auf einen dialektischen Prozeß in Hegels Entwicklung hin:


1. Phase (Affirmation): Hegel interessiert sich für die "untergeordneten Bedürfnisse der Menschen" und erarbeitet das Ideal der Stiftung einer neuen Volksreligion;


2. Phase (1. Negation): Hegel setzt dieses Ideal in eine systematische Form um;


3. Phase (2. Negation bzw. Negation der Negation): Hegel kehrt zu seinem ursprünglichen Interesse zurück, und zwar jetzt in der systematischen Form, die er durch die zweite Phase gewonnen hat.


Das Fragment "Fortsetzung des Systems der Sittlichkeit" (1802/1805) bildet den Zeitpunkt, an dem sich Hegel bewußt zeigt, das ursprüngliche religiöse Ideal durch sein System verwirklicht und dadurch die Rückkehr zu den "untergeordneten Bedürfnissen der Menschen" erfolgreich durchgeführt zu haben (2), die er sich zur Zeit der Abfassung des zitierten Briefes wünschte. Dabei sind vor allem drei Aspekte zu bemerken:


- Erstens, es fällt auf, daß Hegel schon zu dieser Zeit, als das dialektische System noch nicht entstanden ist, dialektisch ’denkt’, da er die eigene geistige Entwicklung dialektisch interpretiert.


- Zweitens, Hegel zeigt sich schon dessen bewußt, daß sich sein Denken von den Tiefen der "untergeordneten Bedürfnisse der Menschen" zu den Höhen der Systematik erhoben hat. Deswegen, obwohl das System in der endgültigen Form sicherlich noch nicht entstanden ist, zeigt er sich hier, subjektiv betrachtet, schon als ein systematischer Philosoph und nicht mehr als Religionstheoretiker bzw. denkender Historiker, wie es bis zu diesem Zeitpunkt der Fall ist3).


- Drittens, es ist in Hegels Denkentwicklung eine Kontinuität festzustellen. In der Tat beweist die zitierte Briefstelle, daß Hegel selbst seine Entwicklung zumindest bis 1800 als kontinuierlich betrachtet hat. Er hatte mit Studien über die Religion und die "untergeordneten Bedürfnisse der Menschen" angefangen, ist dann von diesen Studien zur Wissenschaft vorgetrieben worden, und beabsichtigte nun, zu den ersten zurückzukehren. Dieser Prozeß des Zurückkehrens darf allerdings keinesfalls als Rückschritt zu einer früheren Phase seiner Entwicklung betrachtet werden, sondern als Fortschritt, da er dabei alles behalten hat, was er während der zweiten Phase erreicht hatte, also die systematische Form der Wissenschaft.


Wenn wir nun in bezug auf diese kontinuierliche, dialektische Entwicklung von Hegels Denken die Frage stellen, worin diese im wesentlichen bestand und wie sie in wenigen Worten zusammenzufassen ist, können wir folgende Antwort geben: Die zweite Phase, wie Hegel selbst sie in dem Brief schildert, kann als die Phase des Systems bzw. - in Hegels Sprache - der ’Wissenschaft’ bezeichnet werden; die erste Phase, die in Hegels Interesse für die "untergeordneten Bedürfnisse der Menschen" besteht, müßte dementsprechend als die ’nicht systematische bzw. nicht wissenschaftliche’ Phase definiert werden; die dritte schließlich als ’Einheit von Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft’.

Bei der eben vorgeschlagenen Definition der dritten Phase könnte aber eine leichte Verwirrung entstehen, da wir wissen, daß Hegel in seinen späteren Werken den Akzent entschieden darauf gesetzt hat, daß seine reife Philosophie eine Wissenschaft sei. Wenn wir aber seine gesamte Entwicklung unter dem Gesichtspunkt jenes zentralen Briefes betrachten, sind wir gezwungen, den Schluß zu ziehen, daß Hegels spätes System nicht ausschließlich ’Wissenschaft’ ist, sondern darin Elemente enthalten sein müssen, die sich auf die "untergeordneten Bedürfnisse der Menschen" beziehen und in keinem unmittelbaren Bezug zur Philosophie als Wissenschaft stehen.
Um diese Problematik zu lösen, ist es notwendig, der Frage nachzugehen, welcher Begriff bzw. welche Auffassung der Philosophie und des Wissens überhaupt hinter dem Gedanken von "untergeordneten Bedürfnissen der Menschen" steht. Es ist mit anderen Worten zu fragen, welche Auffassung der philosophischen Tätigkeit der Auffassung als ’Wissenschaft’ in Hegels Entwicklung vor dem 2. November 1800 vorherging. Der Ausdruck ’Nicht-Wissenschaft’, der hier bisher benutzt wurde, ist, sozusagen, als eine vorübergehende Variable anzusehen, die durch den Fortschritt dieser Untersuchung durch einen positiven und nicht bloß negativen Begriff ersetzt werden soll.
Die Lektüre und Interpretation von Hegels Schriften bis November 1800 zeigt, daß er sich hier - für den Kenner von Hegels spätem System erstaunlicherweise - sehr entschieden gegen die Wissenschaft äußert. Dies wird am besten durch die Entgegensetzung von subjektiver und objektiver Religion, die er hauptsächlich von Fichtes Offenbarungsschrift übernimmt, deutlich. Die erste, die sich auf das Herz gründet, ist ’lebendig’ und ’warm’, die zweite, die sich dagegen auf den Verstand gründet, ’tot’ und ’kalt’. Die erste ist nützlich für den Menschen, die zweite kann sogar schädlich für ihn sein.
Die objektive Religion bzw. Theologie wird von Hegel als die ’Wissenschaft’ von Gott, der Unsterblichkeit der Seele usw. betrachtet. Er wendet sich also gegen das Wissen als Wissenschaft, wenn er in diesen Texten Stellung gegen die objektive Religion nimmt. Die subjektive Religion ist dagegen das Wissen nicht als etwas Theoretisches, sondern Praktisches. Sie findet ihren Ausdruck nicht in bloßen Worten und Gedanken, sondern in Taten. Als solche ist die subjektive Religion keine ’Wissenschaft’, sondern ’Weisheit’.
Dieser Unterschied wird von Hegel an einer sehr schönen Stelle ausgedrückt, die sich im Bogen g von Text 16 und deshalb noch innerhalb der Auffassung der Religion als ’Sache des Herzens’ befindet4):
"Etwas anderes als Aufklärung, als Räsonnement ist Weisheit - Aber Weisheit ist nicht Wissenschaft - Weisheit ist eine Erhebung der Seele, die sich durch Erfahrung verbunden mit Nachdenken über Abhängigkeit von Meinungen wie von den Eindrükken der Sinnlichkeit erhoben hat, und nothwendig, wenn es praktische Weisheit, nicht blosse selbstgefällige oder prahlende Weisheit, von einer ruhigen Wärme, einem sanften Feuer begleitet seyn mus; sie räsonnirt wenig, sie ist auch nicht methodo mathematica von Begriffen ausgegangen, und durch eine Reihe von Schlüssen in barbara et barocco zu dem, was sie für Wahrheit nimmt gekommen - sie hat ihre Überzeugung nicht auf dem allgemeinen Markt eingekauft, wo man das Wissen an jeden, das richtig bezahlt, hergibt, wüste sie auch nicht in blanker Münze, in den gangbarn Sorten auf den Tisch wieder hin zu zählen - sondern spricht aus der Fülle des Herzens." (GW 1, S. 97,8-19)
Diese Textstelle ist sehr wichtig und unentbehrlich für eine richtige Hegelinterpretation, und zwar nicht nur der Jugendschriften, sondern auch, unter der Perspektive des Briefes an Schelling vom 2. November 1800 betrachtet, des reifen Systems. In der Tat hat es sich sehr gelohnt, sie vollständig zu zitieren, da sie alle Begriffe enthält (Weisheit, Wissenschaft, Wissen), die im Spiel sind. Hegel macht hier den Unterschied deutlich, den er zwischen Weisheit und Wissenschaft sieht: Die Weisheit "spricht aus der Fülle des Herzens", sie kommt aus der Erfahrung "verbunden mit Nachdenken" und ist nicht mit dem bloßen Wissen zu verwechseln. Während das Wissen von jedem erworben werden kann (wie auf dem Markt, wo jeder, der Geld hat, alles kaufen kann, was er möchte), kann die Weisheit nicht gekauft werden, sondern sie soll sich aus dem Leben selbst, also aus der eigenen, gelebten Erfahrung und aus dem eigenen Nachdenken spontan entwickeln.
Dieser Gedanke wird von Hegel an mehreren Stellen in den Texten der Jahre 1792/93-94 wiederholt und bildet eigentlich den Kern seines Jugendideals. Hegels ganze Entwicklung in der Stuttgarter Zeit von 1785 bis 1788 und dann vor allem der Einfluß von Rousseau durch den Émile in den Jahren 1789-1792 haben in der Tat entscheidend dazu geführt, daß er eine Welt- und Menschenauffassung schon vor dem Einfluß von Kant auf ihn, der erst ab 1792/93 wirkte, herausgebildet hatte. In dieser Auffassung gab es keinen Platz für eine Interpretation des Wissens und der Philosophie als ’Wissenschaft’. Was für Hegel von Wichtigkeit war, war dagegen - und dies eindeutig Rousseau folgend - allein die Weisheit. Der Einfluß von Fichte ab dem Herbst 1792 hat zu dieser schon vorhandenen Auffassung die religionsphilosophisch klare Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Religion hinzugefügt, aber sie keinesfalls gebildet.
Was die Jahre zwischen 1792/93-1794, als Hegel die Texte verfaßte, in denen das Ideal der Stiftung einer neuen Volksreligion explizit formuliert ist5), und 1800, als von ihm der zitierte Brief geschrieben wurde, angeht, so ist eigentlich keine wichtige Veränderung in Hegels Auffassung des Wissens als ’Weisheit’ zu bemerken. Erst mit dem Systemfragment von Sommer 1800 erarbeitet Hegel eine erste systematische Schrift und scheint sich deshalb der Interpretation der Philosophie bzw. des Wissens als ’Wissenschaft’ anzunähern, wie es der Brief an Schelling zur Sprache bringt.
Ein Blick auf die frühen Schriften Hegels ermöglicht uns also, eine Antwort auf die oben gestellte Frage nach der Auffassung von Philosophie und Wissen zu geben, die hinter dem Gedanken von "untergeordneten Bedürfnissen der Menschen" steht. Der vorübergehend nur negativ definierte Begriff von ’Nicht-Wissenschaft’ soll durch den positiv definierten Begriff von ’Weisheit’ ersetzt werden. Wenn Hegel am 2. November 1800 schreibt, daß er zu den "untergeordneten Bedürfnissen der Menschen" zurückkehren möchte, meint er damit, daß er von der Form des Wissens als ’Wissenschaft’, in der sich sein Denken zur Zeit ausdrückt, zurück zum Wissen als ’Weisheit’ zurückkehren möchte. Dies bedeutet aber selbstverständlich nicht, daß er die systematische Form des Wissens als ’Wissenschaft’ von diesem Zeitpunkt an ablehnen wollte. Wenn es so gewesen wäre, hätte Hegel niemals das philosophische System gegründet und somit die Philosophie als ’Wissenschaft’ weiter betrieben, was er allerdings bis zum Ende seines Lebens ununterbrochen praktizierte. Es bedeutet eher, daß er sich zum Zeitpunkt der Abfassung des zitierten Briefes bewußt war, daß er sich durch seine Überlegungen in den letzten Jahren von seinem ursprünglichen Ideal der Stiftung einer neuen Volksreligion allmählich entfernt hatte. Er spürte nun aber das Bedürfnis, den ursprünglichen Sinn seines Philosophierens wiederzufinden, und genau dies kommt zur Sprache, wenn er schreibt: "[...] ich frage mich jetzt, [...], welche Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen zu finden ist."
In der Tat beabsichtigte Hegel durch das Programm6) der Stiftung einer neuen, auf Vernunft gegründeten Volksreligion, weder Kenntnisse über Gott, Unsterblichkeit der Seele usw. zu gewinnen, wie seine Kritik an der objektiven Religion bzw. Theologie eindeutig zeigt, noch den Menschen ein Trostmittel anzubieten, sondern ausschließlich folgendes: die Menschen als ’Weise’ zu bilden bzw. ’Weisheit’ in Form einer natürlichen Moralität in den Menschen zu befördern7).
Wenn Hegel 1800 schreibt, daß er den Weg "zum Eingreifen in das Leben der Menschen" wiederfinden möchte, ist das genau dieser ursprüngliche Sinn seines Philosophierens, der sich in seinem Bewußtsein wiedermeldet. In der Tat hat Hegels Entwicklung von 1794 bis 1800 den Sinn gehabt, jene Forderung nach einer neuen Religion, die die natürliche Moralität in den Menschen befördern könnte, von einer noch religiösen, auf Vorstellungen gegründeten Sprache, in der sie sich gebildet hatte, in eine philosophische, auf Begriffe gestützte Terminologie zu transponieren8).
Dieser Prozeß hat sich aber nicht vollständig bewußt, sondern zum Teil unbewußt vollzogen! Hegels historische Studien über das Christentum zwischen 1794 und 18009) weisen in der Tat zwei Ebenen auf:


- Eine erste Ebene, die in der bewußten Forschungstätigkeit Hegels besteht, d.h. in der Untersuchung der Frage nach der echten, ursprünglichen Bedeutung des Christentums als Religion der Liebe (1795) und den Ursachen von dessen Ende als Aberglaube10) (1796) sowie schließlich in der Zusammenfassung dieser Ergebnisse als Reinschrift für die geplante, aber nicht vollzogene Veröffentlichung (1797-1799).


- Eine zweite Ebene, die dagegen in dem teilweise unbewußten Prozeß besteht, der sich hinter dieser bewußten Forschungstätigkeit vollzogen hat und sich als Transponierung der religiösen Hauptvorstellungen der ursprünglichen Lehre Jesu (Gott, Liebe) in die entsprechenden philosophischen Begriffe (das Absolute, absolute Sittlichkeit) entfaltet.


Genau dieser zweiten Ebene, die über lange Zeit in der unbewußten Tiefe von Hegels Geist geblieben war und die die von ihm selbst nicht gleich begriffene treibende Kraft seiner historischen Untersuchungen ausgemacht hatte, wurde Hegel sich in der Zeit der Fassung des Briefes an Schelling allmählich bewußt.
Die zwei Elemente des Prozesses der Transponierung, die religiösen Vorstellungen und die philosophischen Begriffe, entsprechen zwei Hauptperioden in Hegels Entwicklung: die Periode der historischen und systematischen Studien über die Religion (1785-1800) und die Periode des Aufbaus des Systems (1800-1831). Diesen zwei Elementen und den zwei diesbezüglichen Perioden entspricht außerdem auch das Begriffspaar Weisheit-Wissenschaft: Die Weisheit entspricht selbstverständlich der ersten Phase, während die Wissenschaft der zweiten entspricht11).
Die Zeit der Abfassung des Briefes an Schelling ist genau die Zeit von Hegels Bewußtwerden dieses Prozesses, also der - zum Teil sich schon vollzogenen - Transponierung der religiösen Vorstellungen in philosophische Begriffe, und schließlich der Umwandlung seiner Grundauffassung von der Philosophie als Weisheit zu der Philosophie als Wissenschaft. Eben dieses Bewußtsein Hegels kommt in dem zitierten Brief zur Sprache.
Die Rückkehr zu der Auffassung des Wissens als ’Weisheit’ der früheren Phase hat für Hegel also die Bedeutung einer Rückkehr zu den Wurzeln der eigenen philosophischen Identität gehabt. Dabei verfolgte er das Ziel, diese Identität, die er während des Transponierungsprozesses vorübergehend verloren hatte, wiederzugewinnen und in das philosophisches System, das er sich aufzubauen anschickte, einzubringen. Diese Rückkehr ist deshalb nicht vergangenheits-, sondern zukunftsorientiert gewesen, d.h. Hegels Rückblick auf die Vergangenheit hat dazu gedient, genau das wieder in seinem Besitz zu nehmen, was bei dem
Prozeß der Transponierung der religiösen Vorstellungen in philosophische Begriffe, also bei der Erhebung des Wissens von der Form der Weisheit zu der der Wissenschaft vorübergehend in den Hintergrund seines Bewußtseins gerückt war.
In der Zeit nach dem 2. November 1800 hat Hegel folglich beide Auffassungen der Philosophie und des Wissens, die ’Weisheit’ und die ’Wissenschaft’ vereinigt. Hegels philosophisches System enthält deshalb beide Momente in sich, sowohl die Wissenschaft als auch die Weisheit. Das Wissen als ’Wissenschaft’ ist in der "Reflexionsform" des Systems enthalten, und zwar in der Dialektik, die die Autonomie und die Selbstbegründung des Systems gewährleistet12). Das Wissen als ’Weisheit’ ist dagegen in dem Inhalt des Systems enthalten, und zwar vor allem in der Philosophie der Sittlichkeit. Diese zeichnet in der Tat die Grundlinien einer ethischen Auffassung nach, die anstrebt, durch das zugrundeliegende Prinzip der echten Freiheit als Einheit von sinnlichen und intellektuellen Komponenten, von Recht und Pflicht eine natürliche und deshalb ’weise’ Lebensführung in den Menschen zu fördern.
Aufgrund der Tatsache, daß sie in sich das Wissen sowohl als ’Wissenschaft’ als auch als ’Weisheit’ enthält, ist Hegels Philosophie deshalb als ’Weisheitslehre’ zu betrachten: Sie ist wissenschaftlich aufgebaut und deshalb durch die Vernunft überprüfbar, zielt aber darauf, in den Menschen nicht lediglich bloßes Wissen, sondern vor allem echte Weisheit zu fördern, und zwar dies in Form von Sittlichkeit.
Damit hat Hegel das Kantische Ideal der Philosophie als Einheit von Wissenschaft und Weisheit umgesetzt, wie dieses der Königsberger in der Kritik der reinen Vernunft formuliert hatte13). Was dies für unser heutiges Philosophieren bedeutet und ob es Hegel gelungen ist, diese schwierige, aber bedeutungsvolle Unternehmung erfolgreich zu vollziehen, wird das Thema des folgenden Beitrages sein. Zweck dieses Beitrages war lediglich zu verstehen, wie Hegels Werdegang unter dem Gesichtspunkt des zentralen, an Schelling gerichteten Briefes vom 2. November 1800 interpretiert werden soll. Diesbezüglich ist der folgende, zusammenfassende Schluß zu ziehen: Hegels Denkentwicklung soll als Werdegang von der Weisheit über die Wissenschaft zur Weisheitslehre gekennzeichnet werden. Diese drei Phasen sind untereinander dialektisch aufgebaut: Die erste Phase ist die Affirmation, die zweite die Negation und die dritte die Negation der Negation und somit die Rückkehr zu der ersten Phase, angereichert aber durch den Beitrag der zweiten Phase. Hegels System, als Ergebnis dieser dialektischen Entwicklung, ist eine ’Weisheitslehre’, deren Wesen darin besteht, den Anspruch zu erheben, in den Menschen Weisheit zu fördern, und dies auf eine wissenschaftliche Art, so daß jeder Mensch zur Weisheit durch Studium, durch Lernen, also letztendlich durch Wissen geführt werden bzw. sich selber führen kann

 

Anmerkungen

1) In: Briefe, Bd. 1, S. 58-60
2) Es wird hier erst einmal noch keine chronologisch genaue Umgrenzung der verschiedenen Phasen vorgelegt, sondern es werden nur die verschiedenen Richtungen in der Entwicklung von Hegels Denken skizziert, und dies vor allem insofern er sich deren bewußt war. Die zitierte Stelle weist diesbezüglich darauf hin, daß sich Hegel zu der Zeit anschickte, eine Vermittlung (in der Terminologie der Wissenschaft der Logik: Negation der Negation) zwischen dem Ideal der frühen Phase (Affirmation) und dessen Umsetzung in eine wissenschaftliche Form in der mittleren Phase (1. Negation) durchzuführen. Was die Periodisierung betrifft, werde ich mich in einer anderen Studie darüber ausdrücklich äußern, die in Kürze in italienischer und deutscher Sprache mit dem Titel Lo sviluppo immanente del pensiero di Hegel: la nascita ed il significato del suo sistema filosofico (Die immanente Entwicklung von Hegels Denken: Die Entstehung und die Bedeutung seines philosophischen Systems) erscheinen wird. Auf diese Arbeit, die die Überarbeitung meiner italienischen ’tesi di laurea’ (Magisterarbeit) sein wird, wird hier verwiesen (diesbezüglich s. auch die Anmerkung 11 zu diesem Beitrag, in der die Chronologie der verschiedenen Phasen angegeben wird).
3) Als Schnittpunkt zwischen den Schriften zur Religionstheorie bzw. -geschichte und den systematischen Abhandlungen der frühen Jenaer Jahre ist mit Sicherheit das Systemfragment zu betrachten, worauf sich Hegel in dem zitierten Brief anscheinend bezieht.
4) Über die Unterscheidung zwischen Hegels Auffassungen der Religion als ’Sache des Herzens’ (in den Bögen a-g von Text 16) und als ’Vernunftreligion’ (in den Bögen h-l von demselben Text) s. Einfluß, S. 109 ff.
5) Die endgültige, ausdrückliche Formulierung dieses Ideals findet sich in dem Text 26 von GW 1 (s. darüber Einfluß, S. 169-170).
6) Über die Interpretation von Hegels Jugendideal als seinem philosophischen Lebensprogramm s. den Beitrag 6 in der vorliegenden Arbeit.
7) ’Weisheit’ kann in Hinblick auf Rousseau als Synomym für ’natürliche Moralität’ betrachtet werden. Der Begriff ’natürliche Moralität’ ist von mir in Einfluß ausführlich behandelt worden (s. z.B. S. 178-180). Was den Ausdruck ’Beförderung der Moralität’ betrifft, s. Einfluß, S. 79 ff.
8) In meiner italienischen Magisterarbeit (s. oben Anm. 2) sind die verschiedenen Stufen dieses Prozesses der Umwandlung der religiösen Vorstellungen in philosophische Begriffe ausführlich nachgezeichnet worden. Hier konnte gezeigt werden, daß Hegel dabei die Hauptvorstellungen der christlichen Religion (Gott und zwischenmenschliche Liebe) in philosophische Begriffe (das Absolute und die Sittlichkeit) umgesetzt und schließlich hierauf sein System gegründet hat.
9) Es handelt sich um folgende Studien:
Das Leben Jesu (1795)
Fragmente zu: Die Positivität der christlichen Religion (1796)
Fragmente zu: Der Geist des Christentums und sein Schicksal (1797-1799).
Für eine vollständige Auflistung mit Chronologie s. Schüler, 1963.
10) In Hegels Terminologie: Positivität
11) Hegels Entwicklung gliedert sich, genauer gesagt, in drei Hauptperioden, deren chronologische Reihenfolge folgendermaßen wiederzugeben ist:
1. Phase: Herausbildung des Jugendideals der Stiftung einer neuen vernünftigen Volksreligion (1785-1794);
2. Phase: Gewinn der Hauptbegriffe der neuen Volksreligion durch die Transponierung der Hauptvorstellungen der christlichen Religion (Gott, Liebe) in philosophische Begriffe (das Absolute, absolute Sittlichkeit) (1795-1803);
3. Aufbau des Systems auf der Grundage dieser Hauptbegriffe und somit Verwirklichung des Jugendideals (1803-1831).
12) Hegels Begründung der Dialektik als Grundstruktur der Philosophie als Wissenschaft befindet sich vor allem in den Vorreden zur Phänomenologie und zur Wissenschaft der Logik.

13) Siehe Vorwort, Anm. 6.

 

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Beitrag 8
Hegels Philosophie als ’Weisheitslehre’

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Die Erforschung der Entstehung von Hegels Jugendideal, vor allem unter besonderer Berücksichtigung des Einflusses von Rousseau, zeigt, welch wichtige Rolle das Ideal der Weisheit dabei gespielt hat. Rousseaus pädagogisches Ideal des natürlichen Menschen, also das von ihm erarbeitete Vorbild der Erziehung von Émile, hat in der Tat in der Weisheit sein Hauptmerkmal. Da dieses pädagogische Ideal gleichzeitig auch das Vorbild gewesen ist, nach dem sich Hegel selber erzogen hat (1), ist zu schließen, dass die Weisheit auch sein eigenes pädagogisches Ziel gewesen ist. Die Berichte von Personen, die ihn persönlich gut gekannt haben, weisen darauf hin, dass es ihm gelungen ist, sich zu einem ’weisen’, ’natürlichen’ Menschen selber zu erziehen.
Was für das hier behandelte Thema aber wichtiger ist, ist nicht so sehr die Frage, ob der Mensch Hegel zu einem ’weisen’, ’natürlichen’ Menschen wurde, sondern eher die andere Frage, ob das pädagogisch-moralische Ideal, das Hegels reife Philosophie ankündigt, durch das Hauptmerkmal der Weisheit gekennzeichnet ist. Anders gesagt, ist in der vorliegenden Untersuchung die Frage von zentraler Wichtigkeit, ob der Mensch, der sein eigenes Leben nach den Prinzipien von Hegels Philosophie richtet, als ’Weiser’ leben kann und als solcher zu bezeichnen ist. Fördert Hegels Philosophie Weisheit in dem Menschen? Dies ist die Frage, die ich im folgenden zu beantworten versuchen möchte.
In der Tat wurde Hegels Philosophie in Einfluß als ’Weisheitslehre’ bezeichnet (2), ohne dass aber dort diese Definition auf eine systematische Art ausführlich begründet wurde. Dies soll hier nachgeholt werden. Um eine begründete Antwort auf jene Frage zu geben, soll jedoch zuvor die vorbereitende Frage beantwortet werden, was Weisheit überhaupt sei. Erst dann kann die Unternehmung in Angriff genommen werden, das von Hegels Philosophie gelieferte, ethische Vorbild des menschliches Lebens als ’weise’ bzw. ’nicht weise’ zu bezeichnen.


§ 1 Über den Begriff ’Weisheit’

 

§ 1.1 Definition von ’Weisheit’

Weisheit bezieht sich auf das richtige Handeln in den Lebensgegebenheiten. Als ’weise’ gilt nicht derjenige, der viel weiß, wobei eine bestimmte Quantität an Wissen zur Weisheit gehören kann - muß aber nicht! -, sondern derjenige, der sich in den verschiedensten Fällen des Lebens zu bewegen weiß. Dies bedeutet, dass er imstande ist, die von den gegebenen Angelegenheiten geforderte richtige Entscheidung zu treffen. Unter dem Begriff ’richtige Entscheidung’ wird hier gemeint, dass eine Entscheidung getroffen wird, die zum gemeinen Wohle beiträgt und einen Fortschritt im Leben der daran Beteiligten ermöglicht.
Die Weisheit ist deshalb in ihrem Prinzip auf keinen Fall egoistisch, d.h. Entscheidungen, die nur zum individuellen, aber nicht zum gemeinsamen Wohle führen, sind keinesfalls als ’weise’ zu bezeichnen. Grund dafür ist, dass aufgrund der unvermeidlichen, intersubjektiven Vernetzung des Lebens der Menschen und der Völker es prinzipiell kein individuelles Wohl geben kann, das auf die Dauer hält, ohne früher oder später zu zerbrechen. Allein innerhalb des gemeinsamen Wohls ist es möglich, dass das individuelle Wohl lange hält.
Dieser Definition des Begriffs ’Weisheit’ liegt selbstverständlich die Annahme zugrunde, dass das Leben in sich ein Gut ist und es deshalb im Interesse der Menschen liegt, Schwierigkeiten und Hindernisse, die auf eine Minderung oder sogar Vernichtung des Gutes ’Leben’ zu führen drohen (wie z.B. Kriege), durch ’weise Entscheidungen’ zu überwinden und zu beseitigen. Dadurch kann sich das Leben im Frieden weiter entwickeln, und auf diese Art kann der Erhalt dieses immensen, aber für das einzelne Individuum auch sehr schnell zerbrechlichen Gutes langfristig gesichert werden.
§ 1.2 Die den Menschen wichtigsten drohenden Gefahren
Im Anschluß an das Verständnis des Begriffs ’Weisheit’ stellt sich also die Frage, welches die wichtigsten Gefahren sind, die das menschliche Leben bedrohen.
Es scheint, dass diese Gefahren in drei Hauptgruppen einzuordnen sind:
1. Gruppe: Dazu gehören die Gefahren, deren Ursache in der Konkurrenz zwischen den Menschen aufgrund der Knappheit an Ressourcen im Vergleich zu ihren Bedürfnissen und Wünschen liegt (wirtschaftliche Gefahren).
2. Gruppe: Diese Gruppe enthält die Gefahren, die ihre Ursache in der Abhängigkeit des Menschen von dem Erhalt der Lebensbedingungen auf der Erde haben (ökologische Gefahren).
3. Gruppe: In dieser Gruppe sind schließlich die Gefahren enthalten, deren Ursache in dem Unterschied zwischen den Mentalitäten und Lebenseinstellungen (Religionen, Weltanschauungen) der verschiedenen Völker liegt (weltanschauliche Gefahren).
Was die wirtschaftlichen Gefahren anbelangt, bestehen sie z.B. in Kriegen und harten Auseinandersetzungen, die ihren Ursprung in der Aufteilung eines Territoriums bzw. in der Verteilung des Nationalreichtums haben. Bezüglich der Aufteilung eines Territoriums und der Beschaffung von lebenswichtigen Ressourcen auf diesem Weg sind ein gutes Beispiel die imperialistischen Kriege dieses sowie des vergangenen Jahrhunderts, bei denen sich die westlichen Nationen als Meister in der technischwissenschaftlich programmierten und durchgeführten Massentötung zunehmend erwiesen haben (als Höhepunkt gelten mit Sicherheit der Holocaust sowie die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki).
In bezug auf die Verteilung des Nationalreichtums ist ein gutes Beispiel der ständige Kampf zwischen den Besitzern der Produktionsmittel und den Arbeitnehmern. Wenn diese Auseinandersetzung nicht auf eine ’weise’ Art und deshalb friedlich gelöst wird - wie z.B. in den heutigen Demokratien durch Kompromisse zwischen den Vertretern der zwei Gruppierungen -, kann sie entarten und möglicherweise den Stillstand der Wirtschaft, die Spaltung der gesellschaftlichen Einheit, die Bildung von zwei entgegengesetzten Gruppierungen von Bürgern und eventuell auch sogar eine Revolution bzw. einen Bürgerkrieg letztendlich verursachen (die kommunistischen Revolutionen dieses Jahrhunderts sind konkrete Beispiele einer solchen Entartung).
Wenn sich eine solche gefährliche Lage ankündigt, ist das Auftreten eines ’weisen’ Menschen, der in der Lage ist, durch gerechte Entscheidungen die Interessen von beiden Parteien zu berücksichtigen und somit keiner von ihnen das Gefühl zu geben, betrogen zu werden, dringend erfordert.
In bezug auf die ökologischen Gefahren besteht die Funktion des Weisen nicht nur in der Beseitigung von aufgetretenen Schwierigkeiten, sondern auch und vor allem in der Voraussicht künftiger Gefahren und, durch eine dazu geeignete Vorbereitung, in der Vermeidung bzw. Minderung der verursachten Schäden. In der Tat besteht diese Gruppe in Naturkatastrophen (Erdbeben, Dürre usw.), vor denen sich die Menschen meistens nur dann mit Erfolg schützen können, wenn sie in der Lage sind, sie rechtzeitig vorauszusehen (3). Der Weise hat diesbezüglich die Aufgabe, seine Mitbürger bzw. Mitmenschen dazu aufzufordern, die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen, um den Folgen der aufkommenden Katastrophe entgegenzuwirken. In bezug auf die von den Menschen verursachten Naturkatastrophen besteht die Aufgabe des Weisen in erster Linie darin, die Menschen daran zu hindern, diese Katastrophen überhaupt entstehen zu lassen (was bei den echten Naturkatastrophen leider nicht möglich ist). Sollte dies aufgrund von menschlicher Stumpfsinnigkeit erfolglos bleiben, dann wird die Aufgabe des Weisen, wie bei den echten Naturkatastrophen, die Minderung der Folgen sein (4).
Was die weltanschaulichen Gefahren anbelangt, bestehen sie in religiösen bzw. ideologischen Unterschieden zwischen den Völkern. Dass die Menschen von diesen Gefahren ständig bedroht sind, wird dadurch belegt, dass im Laufe der Geschichte bis zum heutigen Tage die meisten Kriege mit ihren Millionen von Toten hauptsächlich auch darauf zurückzuführen sind. Diese Ursache von Kriegen ist vor allem in Zusammenwirkung mit den wirtschaftlichen Faktoren äußerst gefährlich (man denke an die Lage im Nahen Osten, wo der Kampf um die Aufteilung des Territoriums zwischen Juden und Palästinensern und der scharfe Unterschied in der religiösen Weltanschauung beide miteinander an der Herbeiführung der gespannten Lage beteiligt sind).
Es handelt sich dabei um eine geistige Drohung, also eine Gefahr, die nicht auf die äußeren, natürlichen Lebensbedingungen, wie die anderen zwei Gefahren, sondern allein auf die Innerlichkeit des Menschen zurückzuführen ist. Diese Gefahr könnte er deshalb völlig in seinem Griff haben, wenn der Mensch es wirklich wollte.
Hauptaufgabe des Weisen ist in diesem Fall, die Menschen zu einer geistigen Einheit zu führen, entweder in Form einer gemeinsamen Lebenseinstellung, was sicherlich das Wünschenswerteste wäre, oder, sollte dies nicht möglich sein, wenigstens in Form von Toleranz gegen die Lebenseinstellung des anderen Menschen.


§ 2 Die Grundzüge von Hegels Philosophie in Hinblick auf den Begriff ’Weisheit’
Nachdem der Inhalt des Begriffs ’Weisheit’ erläutert worden ist, soll als nächster Schritt die Frage beantwortet werden, ob Hegels Philosophie eine Lebenshaltung fördert, die sich dazu eignet, die oben aufgeführten Drohungen zu meistern und deshalb als ’weise’ bezeichnet werden kann. Um diese Frage zu beantworten, soll aber vorerst geklärt werden, ob Hegels Philosophie eine Lebenshaltung überhaupt fördert und, im positiven Falle, welche. Dazu ist eine systematische Untersuchung von Hegels System (5) notwendig.


§ 2.1 Die von Hegels Philosophie geförderte Lebenshaltung
Die Antwort auf die oben gestellte Frage befindet sich in dem praktischen Teil von Hegels System, also in der Philosophie des objektiven Geistes. Allein dieser Teil hat in der Tat zum Gegenstand das praktische Leben des Menschen, also dessen Verwirklichung in einer äußeren Gestalt. Nach den Prinzipien von Hegels Philosophie soll diese Selbstverwirklichung die ethische Grundhaltung des Menschen bilden.
Die übrigen zwei Teile der Philosophie des Geistes betreffen dagegen ausschließlich die Innerlichkeit des Geistes, und zwar behandelt die Philosophie des subjektiven Geistes die individuelle, von Natur aus bestimmte Subjektivität des Menschen, während die Philosophie des absoluten Geistes die absolute, von der Selbstdarstellung der Idee in der Geschichte der Kunst, der Religion und der Philosophie bestimmte Subjektivität untersucht.
Während die Gestalten des subjektiven und des absoluten Geistes also jeweils ihren Bereichen innerlich bleiben (6), finden die Gestalten des objektiven Geistes in der Äußerlichkeit des intersubjektiven Lebens der Menschen ihren Ausdruck. Solche Gestalten sind z.B. die Familie und der Staat.
Bevor die Bedeutung dieses praktischen Teils von Hegels Philosophie weiter vertieft wird, ist es notwendig, der Frage nachzugehen, wie Hegel zu der Bestimmung des Inhaltes des ethischen Lebens des Menschen kommt, also wie er die Philosophie des objektiven Geistes und vor allem deren dritten Teil, Die Sittlichkeit, der die Bestimmung der Begriffe ’Familie’ und ’Staat’ enthält, begründet. Dazu ist es erforderlich, eine Rekonstruktion der gesamten Welt- und Menschenauffassung durchzuführen, die Hegels System zugrundeliegt, da die Philosophie des objektiven Geistes davon abgeleitet ist.

 

§ 2.2 Die Welt- und Menschenauffassung von Hegels Philosophie
Hegels Auffassung der Welt ist auf folgende Weise zusammenzufassen: Das erste Prinzip, von dem alle anderen Prinzipien abgeleitet werden, ist die absolute Idee (§§ 236 ff.). Sie besteht in den Kategorien bzw. Denkbestimmungen, die die Grundstruktur sowohl der Natur als auch des menschlichen Geistes bilden. In diesem Sinn sind die Kategorien das Absolute, da sie das ganze Sein prägen und bilden.
Die Kategorien besitzen eine innere Entwicklung, ein inneres Leben: die Dialektik. Sie entwickeln sich also nacheinander und zwar nicht auf eine zufällige, sondern auf eine notwendige Art. Die Notwendigkeit in der Entwicklung der Kategorien beruht auf dem Prinzip der Negation, das den Motor der Dialektik bildet. Die Kategorien negieren einander, und damit entwickeln sie sich nacheinander (z.B. ’Nichts’ negiert ’Sein’, ’Werden’ negiert ’Nichts’ usw.). Die Negation ist nicht einfach, sondern doppelt. Die erste Negation einer Kategorie ist deren Gegensatz (z.B. die Kategorie ’Nichts’ ist die erste Negation der Kategorie ’Sein’, da sie deren Gegensatz ist). Die zweite Negation als Negation der Negation ist dann die Einheit von der ersten (Affirmation) und der zweiten Kategorie (1. Negation) als deren innere Entwicklung, also deren Negierungsprozeß (z.B. die Kategorie ’Werden’ als 2. Negation ist der Negierungsprozeß zwischen ’Sein’ und ’Nichts’).
Daraus folgt:


- Erstens, dass die 2. Negation in sich sowohl die erste Kategorie (Affirmation) als auch die zweite (1. Negation) enthält, und zwar als in sich ’aufgehoben’ (7).


- Zweitens, dass die 2. Negation ihrerseits wieder etwas ’Positives’ ist, also eine neue Affirmation, die ihrerseits eine eigene 1. Negation hat. Sie ist deshalb Rückkehr zu der Affirmation (’Werden’ z.B. Rückkehr zum ’Sein’), angereichert aber durch den Beitrag der 1. Negation (z.B. durch die Kategorie ’Nichts’ - in der Tat ist das ’Werden’ ohne das ’Nichts’ als eigenes Moment undenkbar).


Die dialektische Entwicklung, die auf diese Art durch einen immanenten, notwendigen und selbstbestimmenden Gang gekennzeichnet ist, geht auf dieselbe Weise weiter, und zwar bis zur Kategorie, die alle vorigen Kategorien in sich enthält und deshalb als Prozeß aller Prozesse diese Entwicklung abschließt. Diese abschließende Kategorie aller Kategorien ist ’die absolute Idee’, das sich denkende und erkennende Denken.
Die Dialektik, da sie den Gang der Entwicklung des Absoluten bildet und sich dieser in der Entwicklung der Natur und des Geistes seinerseits widerspiegelt, bildet auch die Art und Weise des Zustandekommens der existierenden Welt. Dies bedeutet, dass die Bildung der verschiedenen natürlichen und geistigen Seienden auch dialektisch, also nach dem Prinzip der doppelten Negation, geschieht (8).
Die erste Negation der absoluten Idee ist deren Gegensatz, also die Natur (9). Die Grundstruktur der Natur ist das Auseinanderliegen ihrer Gebilde (10). Die Natur entwickelt sich dialektisch, da in ihr die absolute Idee - also die Kategorien - tätig ist. Durch verschiedene Stufen führt die dialektische Entwicklung der Natur zu deren eigener Negation, dem Geist. Der Geist als Negation der Natur ist Negation der Negation, also 2. Negation und enthält in sich deshalb beide, sowohl die absolute Idee als auch die Natur. Insbesondere enthält er die Natur als Körper und die absolute Idee dagegen als das absolute Selbstbewußtsein, d.h. den Drang, den der Geist in sich spürt, sich ein Bild des Absoluten in Form z.B. von Religion bzw. Philosophie zu machen (s. §§ 553-577: Der absolute Geist). Der Geist erweist sich deshalb als der Ort, an dem Natur und absolute Idee, als die zwei Hauptgegensätze des Seins aufeinanderstoßen (11). Der Geist ist ihre Dialektik, ihre innere Entwicklung, wie ’Werden’ die innere Entwicklung, das Ineinanderfließen von ’Sein’ und ’Nichts’ ist.
Die Grundstruktur des Geistes ist das Zusammenhalten seiner Gebilde, im Gegensatz also zur Natur. Dies ist möglich, da der Geist das Absolute auf eine andere Art als die Natur ist. Die Natur, als 1. Negation der absoluten Idee, ist das Außer-sich-Sein der Kategorien (die Materie). Die Kategorien sind also auch in der Natur tätig, d.h. die Natur entwickelt sich dialektisch, ohne aber die eigene Entwicklung steuern zu können.
Der Geist dagegen, als zweite Negation der absoluten Idee, enthält in sich die Kategorien in ihrer eigenen Form, nämlich als etwas Ideelles.
Deswegen ist der Geist das Bei-sich-Sein der Kategorien, die in dieser Form über Selbststeuerung verfügen.
Die Fähigkeit des Geistes, sich selber zu steuern, ist dessen Freiheit, während die Natur dagegen unfrei ist. Freiheit ist nicht mit Willkür zu verwechseln. Da die Kategorien sich nacheinander auf eine notwendige Weise entwickeln, ist ihre Entwicklung auch im Geist notwendig. Der Geist besitzt jedoch Macht über sie, und zwar deswegen, weil er durch das Selbstbewußtsein den Prozeß der Entwicklung der Kategorien steuern kann. Darin besteht die Freiheit des Geistes, während die Natur, die keine Selbststeuerung besitzt, der Notwendigkeit der Entwicklung des Absoluten völlig ausgesetzt ist.
Aus diesem Grund ist Freiheit das Wesen des Geistes gegenüber der Natur. Sie besteht in der Steuerung der dialektischen Bewegung der Kategorien und der natürlichen Bestimmungen im Geist. Der Geist enthält also sowohl die Natur als auch die absolute Idee in sich, und zwar die eine als Körper und subjektiven Geist, die andere als weltanschauliches Denken (Selbstdarstellung des Absoluten in religiösen bzw. philosophischen Auffassungen). Der Geist besteht in der Vermittlung zwischen beiden, er soll beide zu einer Einheit bringen und genau darin, in dieser Möglichkeit der Steuerung beider dialektischer Prozesse, des Prozesses der Materie und des Prozesses des Absoluten, besteht seine Freiheit.
Die natürlichen Triebe werden von Hegel nicht in der Geistes-, sondern in der Naturphilosophie dargestellt. Grund dafür ist, dass sie in der Tat den natürlichen Bestandteil des Geistes ausmachen, den er gemeinsam mit den Tieren hat (12).
Die natürlichen Triebe sind im wesentlichen zwei: der Trieb zur Assimilation (§§357ff.) und der zur Fortpflanzung (§§ 367 ff.). Der Trieb zur Assimilation sichert das Überleben des einzelnen Individuums, der Trieb zur Fortpflanzung das Überleben der Art.
Das Hauptmerkmal beider Triebe sowie jeder Gestalt der Natur ist die Notwendigkeit. Dies bedeutet, dass die natürlichen Seienden - und darunter selbstverständlich auch der Mensch als Körper - gezwungen sind, diese Triebe zu befriedigen, wenn sie als Individuum bzw. als Art überleben wollen. Diese zwei Triebe sind deshalb zwei wesentliche Bestandteile des Lebens, da das Leben ohne deren Befriedigung nicht möglich ist. Aus diesem Grund sind die natürlichen, tierischen Organismen von diesen zwei Trieben unterjocht und auch der Mensch ist in seiner Körperlichkeit diesen Trieben unterworfen.
Der Mensch ist aber selbstverständlich nicht nur ein tierisches, sondern auch und vor allem ein geistiges Wesen. In der Tat bildet der biologische Bestandteil des Menschen nicht dessen Wesen, sondern allein die Grundlage, worauf er sein eigentliches Leben als Geist entfalten kann. Der Mensch bezieht sich auf seinen Körper nach dem Prinzip des Habens (ich habe einen Körper), auf seinen Geist indessen nach dem Prinzip des Seins (ich bin mein Geist).
Das erste Verhältnis ist das Bewußtsein (§§ 418-419), das sich sowohl auf den eigenen Körper als auch auf andere äußere Gegenstände sowie Personen beziehen kann. Das zweite Verhältnis ist das Selbstbewußtsein (§§ 424-425), das sich hingegen nur auf sich selbst, und zwar auf das eigene Ich bezieht. Das Selbstbewußtsein als der Bezug auf den eigenen Geist und auf dessen vielfältige Fähigkeiten (Denken, Gedächtnis, Phantasie usw.) ist ein Hauptmerkmal des Geistes.
Dieser höhere Standpunkt, von dem sich der Geist nicht als einzelnes Individuum mit einem besonderen Charakter usw. betrachtet, sondern das Denken von sich selbst zum eigenen Wesen erhebt und als solches annimmt, ist in Hegels Terminologie ’der absolute Geist’. In der Tat erhebt sich der Geist dabei zum Standpunkt der Absolutheit, d.h. er betrachtet sich selbst als Verkörperung des Absoluten. Dies kann in verschiedenen Formen und Stufen geschehen, die von Hegel in dem gleichnamigen Kapitel der Enzyklopädie dargestellt werden, und zwar in der Sektion Der absolute Geist (§§ 553-577), in der Hegel die Kunst, die Religion und die Philosophie als die verschiedenen Weisen (und Stufen) der Selbstdarstellung des Absoluten im Geist darstellt.
Alle diese Formen und Stufen werden dadurch gekennzeichnet, dass sich der Geist dabei von seinen natürlichen Trieben allmählich distanziert und sich mit seinem ideellen und nicht materiellen, deshalb freien und nicht notwendigen Wesen identifiziert. Die erfolgte Identifizierung des Geistes mit seinem ideellen absoluten Wesen (13) bildet die Voraussetzung dafür, dass der Geist seine Haupttätigkeit, die Vermittlung zwischen Notwendigkeit der Natur und Freiheit der absoluten Idee, erfolgreich zustande bringen kann.
Die Fähigkeit des Geistes, die dafür zuständig ist, ist der Wille (§269 „Der praktische Geist“ und vor allem §§481-482 „Der freie Geist“). Er hat die Aufgabe, die natürlichen Kräfte im Geist, also im Menschen, mit den geistigen zu vereinigen. Dies bedeutet, anders ausgedrückt, dass er eine Lösung für den Gegensatz zwischen der Freiheit der geistigen Prozesse und der Notwendigkeit der biologischen Prozesse im Geist finden soll. Dies kann er tun, indem es ihm gelingt, die natürlichen Triebe und die Selbstdarstellung des Absoluten im Menschen in Einklang zu bringen.
In der Tat sind die biologischen Triebe wohl zu befriedigen, wenn das Leben weitergehen soll, dies darf aber nicht auf eine rein biologische Weise geschehen, wie die Tiere es tun, ansonsten würde der Geist den biologischen Trieben unterjocht sein und könnte er nicht nach seinem eigentlichen Wesen, also in Freiheit leben.
Wie eine erfolgreiche Vermittlung zwischen Freiheit des Geistes und der Notwendigkeit von dessen natürlichen Trieben erfolgreich zustande zu bringen ist, wird von Hegel in der Philosophie des objektiven Geistes dargestellt. Hier und insbesondere in der dritten Sektion Die Sittlichkeit zeichnet Hegel die Gestalten nach, die es dem Geist ermöglichen, beiden Ansprüchen seiner Beschaffenheit gerecht zu werden.
Es handelt sich dabei um die Gestalten des intersubjektiven Lebens der Menschen: die Familie, die bürgerliche Gesellschaft und den Staat.
Die Familie ermöglicht die Befriedigung des Triebes zur Fortpflanzung. Durch die Familie wird das Überleben der Menschheit garantiert, dies geschieht aber nicht auf eine rein natürliche und notwendige, sondern auf eine geistige, freie Art. Bei der Gründung und Gestaltung einer Familie soll es in der Tat nicht in erster Linie um die bloße Erzeugung von Kindern, also nicht um den rein biologischen Akt der Fortpflanzung gehen, sondern um die Kreation eines Gebildes, in dem deren Mitglieder Liebe, Zuwendung usw. geben und bekommen, schenken und genießen. Die Familie soll deshalb wie eine Hülle sein, in der sich die Fortpflanzung der Menschheit wohl vollzieht, jedoch, sozusagen, als Nebeneffekt. Was sich die Partner als Ziel bewußt setzen sollen, ist, ein Gebilde zu gründen, in dem sie glücklich (14) sein können. Dazu gehört auch die Geburt von Kindern, die ein wesentlicher Bestandteil - aber wohlgemerkt nicht der einzige - davon ist.
Aufgrund der zeitlich begrenzten Dimension der Entwicklung des Lebens von deren Mitgliedern wird sich die Familie irgendwann auflösen, das Leben der Menschheit wird sich aber wohl weiter entwickeln und dies genau dank diesem Gebilde, das einst das Nest der Glückseligkeit von einzelnen Individuen gewesen ist. Die Gründer der Familie beabsichtigten also, etwas für sich allein zu tun, und haben dagegen einen großen Beitrag zur Geschichte der ganzen Menschheit geleistet.
Ähnliches ist in bezug auf die bürgerliche Gesellschaft zu sagen: Sie beinhaltet die Arbeitswelt, den Staat als Wirtschaftswesen sowie Verwaltung, Polizei usw., in einem Wort, wie sich Hegel ausdrückt, den äußeren Staat (§ 523). Die Prinzipien des Staates (Verfassung, richtige Regierungsform usw.) werden von ihm dagegen in der dritten Gestalt der Sittlichkeit (Der Staat) dargestellt. Diese dritte Gestalt soll als ’innerer Staat’ gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft angesehen werden, wobei diesbezüglich anzumerken ist, dass es sich dabei nicht um zwei getrennte Gebilde, sondern um zwei verschiedene Dimensionen des einzigen Gebildes, also der organisierten Gesellschaft der Menschen handelt.
Bevor hier die Darstellung und Erläuterung der zweiten Gestalt der Sittlichkeit, also der ’bürgerlichen Gesellschaft’ fortgesetzt wird, soll zuerst ihr Begriff präzisiert werden. In der Behandlung dieses Begriffs hat sich Hegel m.E. selber widersprochen. In der Tat vertritt er folgende entgegengesetzten Meinungen: Einerseits schreibt er, dass in der bürgerlichen Gesellschaft die Sittlichkeit verloren geht, und zwar deswegen, weil die Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft nicht füreinander tätig sind, sondern jeder für sich allein egoistisch lebt. Es handelt sich dabei um das System der Atomistik, wie sich Hegel ausdrückt:


"Die Substanz, als Geist sich abstract in viele Personen (die Familie ist nur Eine Person), in Familien oder Einzelne besondernd, die in selbstständiger Freiheit und als Besondere für sich sind, verliert zunächst ihre sittliche Bestimmung, indem diese Personen als solche nicht die absolute Einheit, sondern ihre eigene Besonderheit und ihr Fürsichseyn in ihrem Bewußtseyn und zu ihrem Zwecke haben, - das System der Atomistik." (§ 523)


Andererseits behandelt er diese Gestalt trotz ihrer ’unsittlichen’ Grundlage in der Sphäre der Sittlichkeit, der aber die intersubjektive Struktur des ’absoluten Selbstbewußtseins’ offensichtlich zugrunde liegt und zu der deshalb nur Gestalten gehören dürfen, die sich darauf gründen und demzufolge intersubjektiv und sittlich sind:


"Das allgemeine Selbstbewußtseyn ist das affirmative Wissen seiner selbst im andern Selbst [...]. Diß allgemeine Wiedererscheinen des Selbstbewußtseyns, [...], ist die Form des Bewußtseyns der Substanz jeder wesentlichen Geistigkeit, der Familie, des Vaterlandes, des Staats; sowie aller Tugenden, der Liebe, Freundschaft, Tapferkeit, der Ehre, des Ruhms." (§ 436)


Und in dem diesbezüglichen Zusatz ist bezüglich der Einheit der Subjekte im absoluten Selbstbeswußtseins zu lesen:


"Sie bildet die Substanz der Sittlichkeit [...]." (SA 10, § 436, Zusatz)


Hier ist nicht der richtige Ort, zu untersuchen, aus welchen Gründen Hegel zu diesem unglücklichen Widerspruch gekommen ist. Um dies zu tun, sollte die Entwicklung dieses Begriffs durch die Entwicklung von Hegels Denken hindurch rekonstruiert werden, was selbstverständlich eine spezielle Studie erfordern würde (15).
Bei der folgenden Erläuterung des Begriffs ’bürgerliche Gesellschaft’ wird sich deshalb meine Interpretation von der Darstellung dieses Begriffs durch Hegel distanzieren und sich als Vorschlag einer möglichen Reform dieser Gestalt der Sittlichkeit anbieten.
Der Hauptbegriff meiner Interpretation des Begriffes ’bürgerliche Gesellschaft’ (bzw. im allgemeinen der zweiten Gestalt der Sittlichkeit) ist, dass diese Gestalt hauptsächlich in der Arbeitswelt bestehen soll. In der Tat wird durch die Arbeit der andere notwendige natürliche Trieb der Menschen, der Trieb zur Assimilation befriedigt. Wie die Familie das Überleben der Menschheit sichert, so bildet die gesellschaftliche Arbeit die Voraussetzung dafür, dass das Überleben der einzelnen Menschen durch die gesellschaftliche Produktion der dazu notwendigen Mittel (die wirtschaftlichen Güter) abgesichert wird. Dem Arbeitsprozeß liegt also eine intersubjektive Struktur zugrunde, und die egoistische Suche nach dem individuellen eigenen Profit ist die Grundstruktur eher einer geschichtlich begrenzten Art von Organisation der gesellschaftlichen Arbeit als von deren Begriff an sich.
Unter dieser Perspektive betrachtet, ist die bürgerliche Gesellschaft - die ich im folgenden als ’Arbeitswelt’ bezeichnen werde - die Sphäre der Organisation der Arbeitsteilung, in der auf eine gegenseitige, intersubjektive und deshalb sittliche Art das Überleben des Einzelnen durch die Produktion der dazu notwendigen Mittel gesichert wird.
Der Arbeitswelt liegt genauso wie der Familie (und dem Staat, s. unten) gegenseitige Anerkennung zwischen den Menschen, also Intersubjektivität und deshalb Sittlichkeit zugrunde. Durch die gesellschaftliche Arbeit werden die verschiedenen Mittel produziert, die zur Befriedigung der Bedürfnisse notwendig sind, die zur Assimilation gehören, und die deshalb das Überleben des Individuums ermöglichen. Dies geschieht in den ursprünglichen, einfacheren Gesellschaften auf eine unmittelbare Weise (die Jäger, Bauern usw. beschaffen sich selber das, was sie zum Leben brauchen) (16), während die entwickelten Gesellschaften die dazu gehörenden Vorgänge durch Arbeitsteilung, also auf eine vermittelte Weise organisieren.
Dank der Arbeitsteilung besteht die Arbeit in den entwickelten Gesellschaften nicht mehr in der direkten Beschaffung der Mittel, die zur Befriedigung des aufkommenden Triebes unmittelbar notwendig sind, sondern in einer Tätigkeit, die davon oft weit entfernt ist. Die berufliche Tätigkeit eines Arztes, eines Lehrers usw. hat mit der direkten Beschaffung der Mittel, die zur Befriedigung des Hungers und der anderen körperlichen Grundbedürfnisse notwendig sind, nichts mehr zu tun.
Dies wird dadurch ermöglicht, dass andere sich mit der direkten Produktion jener Mittel beschäftigen. Diejenigen, die Berufe ausüben, die mit dieser Produktion nichts mehr zu tun haben, können durch das verdiente Geld jene Mittel kaufen (17).
Es entsteht also in der Arbeitswelt ein ständiger Tausch zwischen den Beteiligten, der durch das Mittel ’Geld’ ermöglicht wird. Dieser Tausch ist bei den hochentwickelten Gesellschaften sicher komplizierter als in den einfacheren Gesellschaften, dessen Grundstruktur ist aber die gleiche.
Das Hauptmerkmal der Arbeit besteht deshalb seinem Begriff nach nicht in dem individuellen Profit, sondern in der Produktion von lebensnotwendigen Mitteln bzw. in der Ausübung von gemeinnützigen Berufen. Beide sind zur Befriedigung der Bedürfnisse der Gesellschaftsmitglieder mittelbar bzw. unmittelbar notwendig. Unter dieser, philosophisch tieferen Perspektive ist deshalb die Arbeit in ihrem Kern immer ein Dienst, dessen Empfänger die Mitmenschen sind. Für sie soll gearbeitet werden und dafür wird man durch das Gehalt belohnt (18).
Aus diesem Grund enthält in sich auch die Arbeit, wie die Familie, sowohl das natürliche Moment (die Befriedigung der biologischen, zur Assimilation gehörenden Grundbedürfnisse und dadurch die Garantie des Überlebens des einzelnen Menschen) als auch das geistige Moment (die Verwirklichung des kreativen Wesens des Geistes durch die Ausübung einer Tätigkeit, die dem Wohle anderer Menschen dient und deshalb einen lebenserfüllenden Sinn hat).
Auch bei der Arbeit ist das geistige Moment das wichtigste. Durch die Arbeit bauen die Menschen Gesellschaften, die nach ihrem Tod weiterbestehen und den künftigen Generationen bessere Lebensbedingungen ermöglichen. Wenn wir uns also von dem begrenzten Standpunkt des einzelnen Individuums zu dem unbegrenzten Standpunkt der Weltgeschichte, die auch die Vor- und Nachgeschichte in sich enthält, erheben (19), lassen sich hinter der Vergänglichkeit und Begrenztheit des Lebens der einzelnen Individuen die Unvergänglichkeit und Unbegrenztheit des Lebens der Menschheit hinter sich erkennen.
Auch die Arbeitswelt, in Hegels Worten die ’bürgerliche Gesellschaft’, erweist sich deshalb als eine Kreation des Geistes und deshalb als ein Ausdruck von dessen Freiheit und Kreativität, die in sich als Nebeneffekt auch die Befriedigung des Triebes zum Überleben der einzelnen Menschen enthält.
Auch der Arbeit liegt deshalb Intersubjektivität und Sittlichkeit zugrunde. Während in der Familie es der Partner ist, der als Mann bzw. Frau anerkannt wird, soll bei der Arbeit derjenige, für den unsere Arbeit verrichtet wird, als Zweck unserer beruflichen Tätigkeit angenommen werden. Für ihn soll gearbeitet und er soll als ’Genießer’ bzw. als Ziel unserer beruflichen Tätigkeit anerkannt werden.
Die Arbeitswelt soll deshalb als die zweite Gestalt der Sittlichkeit betrachtet werden, und dabei handelt sich um eine Gestalt, die genauso sittlich ist wie die Familie (und der Staat). Grund dafür ist, dass auch der Arbeit die Grundstruktur der ’allgemeinen Anerkennung’ zugrunde liegt, wie bei der Familie (und dem Staat). Hegel hat deshalb einen Fehler begangen, als er von der ’Unsittlichkeit’ der zweiten Gestalt der Sittlichkeit, also der bürgerlichen Gesellschaft geschrieben hat.
Die dritte und letzte Gestalt der Sittlichkeit ist der Staat. Er besteht in den Prinzipien, die das soziale Leben der Menschen regeln (20). Deswegen bildet der Staat die Einheit von Familie und Arbeitswelt, da sich beide nach diesen Prinzipien entwickeln.
Der Staat ist etwas rein Ideelles und führt deshalb zu der Befriedigung von keinem besonderen natürlichen Trieb. Seine Grundlage ist keine Bestimmung der Natur - wie es bei der Familie der Fortpflanzungstrieb und bei der Arbeit die Assimilation sind. In der Tat ist der Staat eine Mehrzahl von Menschen, die sich aufgrund verschiedener kultureller Faktoren (Traditionen, Religion, Werten, Sprache usw.) gegenseitig als zusammengehörend anerkennen und sich in einer Einheit, in einem Volk vereinigen.
Hier kann nicht erläutert werden, ob es eine richtige Form von Staat nach Hegel gibt und welche diese ist. Es soll aber wenigstens darauf hingewiesen werden, dass das Weiterdenken von Hegels Rechtsphilosophie, wie Schild davon einen vorbildlichen Ansatz geliefert hat (21), zu der Feststellung führt, dass in den Prinzipien von Hegels Philosophie kein logischer Grund vorliegt, aufgrund dessen die höchste Form von staatlicher Organisation der Menschheit in dem Nationalstaat anzusehen ist, wie Hegel selbst dies tut. In einer offenen, aktualisierenden Lektüre von
Hegels politischer Philosophie scheint dagegen der Weltstaat die staatliche Organisationsform zu sein, die dem Begriff von ’Weltgeist’, der über den ’Volksgeist’ als Gipfel des objektiven Geistes steht und erster Motor der Weltgeschichte ist, entspricht.
Dem Staat, und zwar sowohl als National- als auch als Weltstaat, liegt immer eine geistige Grundlage in Form einer Gestalt des absoluten Geistes zugrunde (22). Es kann sich dabei um eine ästhetische, eine religiöse oder eine philosophische Auffassung handeln, die die geistige Bindung zwischen den Staatsbürgern bildet und dadurch die ideelle Grundlage des Staates ausmacht. Es sind also die Selbstbewusstseine der einzelnen Menschen, die sich zu einem Volk zusammenschließen und das intersubjektive Leben, also den geistigen Inhalt des Familien- und Arbeitslebens, nach gemeinsam gefühlten und demokratisch festgelegten Prinzipien organisieren.
Der Staat ist also ein weiterer Ausdruck der Kreativität des menschlichen Geistes, und zwar ist er eigentlich derjeinige Ausdruck, der ohne Rücksicht auf natürliche Triebe tätig ist. In der Bildung von Staaten sind die Menschen also völlig frei, sie hängen nur von der eigenen Fähigkeit ab, sich von dem Standpunkt des endlichen Selbstbewusstseins - was für die Menschen aufgrund der Begrenztheit und Notwendigkeit ihres biologischen Lebens unvermeidlich ist -, zu dem Standpunkt des unendlichen bzw. absoluten Selbstbewusstseins - was sie andererseits aufgrund der Unbegrenztheit und Freiheit ihres geistigen Lebens sind - zu erheben. In dem Leben für den Staat, und zwar nach dem eben erklärten Sinn als sittliche Weltgemeinschaft der sich als geistige, kreative Wesen gegenseitig anerkennenden Menschen, liegt deshalb der Sinn des menschlichen Lebens nach den Prinzipien - zum Teil hier neu interpretiert - von Hegels Philosophie (23). ’Für den Staat zu leben’, heißt aber nicht, für ein fremdes Wesen zu leben, sondern bedeutet dasselbe wie ’für den Geist zu leben’, da dieser das Wesen der einzelnen Menschen - und zwar sowohl der gestorbenen als auch der jetzt lebenden und der künftig lebenden Menschen - ausmacht.
Konkret äußert sich eine solche Lebensführung nicht nur in der politischen Teilnahme durch die Wahlen an den Entscheidungen, die das Staatsleben bestimmen, sondern auch in dem Engagement für die eigene Familie und für diejenigen, die unsere Arbeit als Dienst benötigen. Grund dafür ist, dass Familie und Arbeitswelt zum Staat gehören, deshalb kommt das Engagement für die Familie und für die Arbeit dem Staate zugute und umgekehrt, das Engagement für den Staat kommt der Familie und der Arbeitswelt, also auch der eigenen Arbeit, zugute.
Allein eine solche Lebensführung ist ’sittlich’ in dem vollen, Hegelschen Sinn des Wortes. Allein dadurch wird die volle Kraft des menschlichen Geistes verwirklicht und ein wahres, menschenwürdiges Leben zustande gebracht. In einem auf diese Art geführten Leben findet der Mensch sowohl die Befriedigung seiner biologischen Grundbedürfnisse als auch die Verwirklichung seiner geistigen Freiheit, seiner Kreativität. Er befriedigt seine Grundbedürfnisse ohne deren Knecht zu sein. Der Fortpflanzungstrieb findet in der Liebe seine Sublimation und in einer glücklichen Familie seinen geistigen Ausdruck. Er hört damit auf, etwas bloß Körperliches zu sein und wird zu einem geistigen Erlebnis. Der Assimilationstrieb findet in einem kreativen, freigewählten Beruf (24) seine indirekte Befriedigung. Durch einen solchen Beruf bekommen die Menschen das erfüllende Gefühl, zum Gemeinwohl und zum Fortschritt der eigenen Gemeinde sowie der Menschheit im allgemeinen persönlich beizutragen.
Durch die engagierte Teilnahme am sittlichen Leben des Staates, und zwar nicht nur des eigenen Volkes, sondern der internationalen Gemeinschaft im Ganzen soll der einzelne Mensch seinen eigenen Beitrag dafür geben, dass die notwendigen gesellschaftlichen Bedingungen, die einer solchen sittlichen Organisation des Familien- und Arbeitslebens der Menschen zugrunde liegen müssen, geschaffen werden bzw. erhalten bleiben.
Allein eine solche Lebensführung ermöglicht ein menschliches Leben, das als ’glücklich’ (25) und menschenwürdig bezeichnet werden kann. Grund dafür ist, dass sie dem Wesen des Menschen, also seiner Schöpferkraft bzw. Kreativität (26) entspricht und deren Verwirklichung ermöglicht. Die Begründung des kreativen Wesens des Geistes befindet sich in der Philosophie des subjektiven Geistes, und zwar in der dritten Sektion Psychologie. Der Geist (27) und auf einem tieferen und allgemeineren Niveau in der Wissenschaft der Logik, und zwar in der Lehre vom Begriff (28).
Der sowohl rein logisch als auch natur- und geisteswissenschaftlich begründete Hinweis auf eine solche Lebensführung als Weg zur menschlichen Glückseligkeit soll als die ethische Botschaft von Hegels Philosophie angesehen werden.


§3 Vergleich zwischen dem Begriff ’Weisheit’ und dem von Hegels Philosophie begründeten, ethischen Vorbild: Antwort auf die Frage, ob die von Hegels System geförderte Lebensführung als ’weise’ zu bezeichnen sei
Nachdem festgestellt worden ist, dass Hegels Philosophie eine Lebensführung begründet, die in dem Engagement für die sittlichen Institutionen des intersubjektiven Lebens der Menschen (Familie, Arbeit und Staat) besteht, ist es nun möglich, die zweite Ausgangsfrage zu beantworten, ob eine solche Lebensführung als ’weise’ zu bezeichnen sei.
Die Grundlage für die zu gebende Antwort hängt selbstverständlich von dem oben angeführten Weisheitsbegriff ab. Es ist also zu untersuchen, ob eine ’Hegelianische bzw. absolut-idealistische Lebensführung’ - wie das ethische Leben nach den dargestellten Prinzipien von Hegels Philosophie der Sittlichkeit bezeichnet werden kann - den drei Hauptforderungen der Weisheit gerecht wird.
Was die erste Forderung angeht, dass also eine weise Lebensführung gegen die Gefahr von Streitigkeiten unter den Menschen aufgrund der Knappheit an materiellen Ressourcen wirken soll, wird diese deswegen erfüllt, weil Zweck des wirtschaftlichen Lebens der Menschen, also der Arbeit, nach den Prinzipien des absoluten Idealismus nicht in erster Linie die Befriedigung der eigenen biologischen Grundbedürfnisse, sondern die Ausübung einer kreativen, sinnvollen beruflichen Tätigkeit sein soll. Diese soll unmittelbar auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse von Mitmenschen und nur mittelbar durch deren Honorierung auf die Beschaffung des nötigen Geldes für die Befriedigung der eigenen Grundbedürfnisse gerichtet sein (29).
Wenn die Menschen auf diese echt idealistische Art ihre biologischen Grundbedürfnisse befriedigen, laufen sie keine Gefahr, miteinander in harte, wirtschaftliche Konkurrenz zu treten. Grund dafür ist, dass Zweck der Organisation ihrer Berufstätigkeit auf gemeinschaftlicher Ebene (also des Staates) die Beschaffung der Bedingungen dafür sein wird, dass möglicherweise jeder Bürger eine Einstellung hat, durch die er sowohl den eigenen Wunsch nach einer kreativen, sinnvollen Arbeit als auch die eigenen biologischen Bedürfnisse befriedigt. Dadurch könnte auch der Bedarf der Gesellschaft nach seinem Beitrag zum gemeinsamen Reichtum gleichzeitig sichergestellt werden.
In Bezug auf die Gefahren, die von der wirtschaftlichen Konkurrenz unter den Menschen ausgehen, ist eine ’Hegelianische (absolut-idealistische) Lebensführung’ also als ’weise’ zu bezeichnen.
Was die zweite Forderung betrifft, d.h. die Bewältigung der Ge-fahren, die von der Natur kommen, ist eine ’Hegelianische (absolut-idealistische) Lebensführung’ deswegen imstande, ihnen entgegenzuwirken, weil sie auf der Vernunft gegründet ist und deshalb auf die Entwicklung von Wissenschaft und Technik fördernd wirkt.
Was die Wissenschaft angeht, so liegt in der Tat Hegels Philosophie der Gedanke zugrunde, dass die Vernunft, die in unserem Denken tätig ist und deren Kategorien durch die Logik zum Bewusstsein gebracht werden können, gleichsam auch die Vernunft ist, die, selbstverständlich in einer nicht-bewußten Form, in den Abläufen der Natur tätig ist und ihren Gesetzen zugrunde liegt. In dieser Hinsicht ist einem Hegelianer bzw. absolut-idealistisch denkenden Philosophen selbstverständlich, dass das menschliche Denken in sich die Möglichkeit trägt, die Gesetze und die Entwicklung der Natur mit Genauigkeit zu erkennen, vorausgesetzt, dass man sich an ein streng vernünftiges und logisches Denken hält bzw., mit Hegels schönen Worten, dass man bereit ist, "die Anstrengung des Begriffs auf sich zu nehmen" (30).
Was die Technik betrifft, so ist ein Hauptgedanke von Hegels Philosophie, dass der Geist über die Natur herrschen soll, und zwar nicht in dem Sinne, dass er sie zu unterdrücken hat (31), sondern in dem Sinne, dass er den Ablauf der Naturprozesse durch die Anwendung seiner naturwissenschaftlichen Kenntnisse zu seinen Gunsten lenken soll. Nach den Prinzipien einer ’Hegelianischen (absolut-idealistischen) Lebensführung’ soll der Geist in die Natur eingreifen, aber unter Berücksichtigung ihrer eigenen Beschaffenheit und gesetzmäßigen Ordnung.
Daraus lässt sich schließen, dass eine ’Hegelianische (absolut-idealistische) Lebensführung’ ein ausgewogenes Mensch-Natur-Verhältnis fördert, indem sie beide extreme Positionen meidet, und zwar die einer schwachen, ausschließlich naturorientierten Handlung, die als Endergebnis die Unfähigkeit des Menschen hat, die Naturkatastrophen vorherzusehen und möglicherweise zu beherrschen, und die einer arroganten, ausschließlich menschorientierten Handlung, die als Endergebnis die Unterdrückung der Natur und die Zerstörung der biologischen Lebensgrundlagen hat.
Die eben dargestellte Ausgewogenheit der Haltung zur Natur durch die Auffassung der Wissenschaft und der Technik, die von der ’Hegelianischen (absolut-idealistischen) Lebensführung’ gefördert wird, besteht also darin, dass ein nach dieser Philosophie lebender Mensch und eine auf deren Prinzipien organisierte Gesellschaft in der Lage sind, sowohl die biologische Abhängigkeit des Menschen von der Natur als auch die immensen Kräfte, die in der menschlichen Vernunft liegen, anzuerkennen. Aufgrund dieser umfassenden Erkenntnis werden sie deshalb versuchen, den Ablauf der Naturprozesse zu den eigenen Gunsten zu lenken, ohne aber das natürliche Gleichgewicht zu zerstören. Sie werden also die immensen Kräfte der Vernunft weder hemmen noch ihnen völlig freien
Lauf lassen, sondern eher auf eine richtige, also ’weise’ Art anwenden. Auch den Naturkatastrophen gegenüber scheint also die Philosophie des absoluten Idealismus eine weise Haltung fördern zu können.
In Bezug auf die dritte Forderung der Weisheit, die Forderung nach Wirkung gegen die Gefahren, die von den Kriegen unter den Völkern aufgrund der verschiedenen religiösen und ideologischen Weltanschauungen ausgehen, ist ebenso zu schließen, dass sich eine ’Hegelianische (absolut-idealistische) Lebensführung’ sehr gut dazu eignet, solchen Gefahren entgegenzuwirken. Grund dafür ist, dass diese Philosophie eine vernünftige Auffassung des Absoluten vertritt, die den Anspruch erhebt,
letztbegründet zu sein. Dies bedeutet, dass ihre ersten Prinzipien, worauf das ganze System der Welt- und Menschenauffassung aufgebaut wird, durch die Vernunft begründet werden sollen und können.
Wenn sich die Menschen also ihrer Vernunft nicht verschließen, müßte es prinzipiell möglich sein, dass sie alle - oder wenigstens die überwiegende Mehrheit von ihnen - zu einer Übereinstimmung über diese ersten Prinzipien kommen, so wie es heute bei den Naturwissenschaften im großen und ganzen der Fall ist. Es ist allein eine Frage der Bereitschaft, der Fähigkeit und der Ausdauer, mit denen diejenigen, die zu der Erkenntnis der absoluten Wahrheit von Hegels Philosophie (32) schon gekommen sind, die, die noch nicht Hegelianer bzw. Absolut-Idealisten sind, von der letztbegründeten Wahrheit dieser Philosophie auf eine wissenschaftliche Weise überzeugen wollen und können. Der Erfolg einer solchen Unternehmung hängt aber selbstverständlich gleichermaßen auch von der Bereitschaft derer, die noch nicht Hegelianer bzw. Absolut-Idealisten sind, ab,"auf sich die Anstrengung des Begriffs zu nehmen" und sich dadurch ohne Vorurteile und ohne oberflächlichen, gefährlichen und letztendlich dogmatischen Skeptizismus der Möglichkeit einer absoluten, philosophisch-wissenschaftlich begründeten Wahrheit zu öffnen.
Nichts spricht dagegen, sondern alles spricht dafür, dass die Philosophie, insbesondere in der absolut-idealistischen Form, die Hegel ihr gegeben hat und die sich heutzutage in einem sehr lebendigen Aktualisierungsprozess befindet, eine allgemein anerkannte Welt- und Menschenauffassung verbreiten und demzufolge die philosophisch-wissenschaftliche Grundlage für eine auf gemeinsamen Werten gegründete, ethische Weltgemeinschaft bilden könnte.
Die verschiedenen Religionen und politischen Ideologien dagegen, da sie ihre ersten Grundsätze nicht auf eine überprüfbare wissenschaftlich-logisch begründete Folge von Argumenten, sondern auf ein dogmatisches, wissenschaftlich-logisch unüberprüfbares erstes Prinzip stützen, zwingen die Menschen dazu, diese Grundsätze zu akzeptieren, ohne sie durch die Vernunft und deren Argumente überprüfen zu können. Aus diesem Grund ist es für jede Religion und jede Ideologie nicht nur praktisch schwierig, wie es selbstverständlich auch bei der Philosophie der Fall ist, sondern prinzipiell unmöglich, alle Menschen oder auch die große Mehrheit von ihnen anzusprechen, da es immer einige gab, gibt und geben wird, die entweder fordern, dass auch die ersten Grundsätze durch die Vernunft bewiesen werden müssen (33), oder andere, ebenso dogmatische erste Grundsätze annehmen.
Hegels Philosophie bzw. die Philosophie des absoluten Idealismus kann also die Weltauffassung werden, die die verschiedenen Welt- und Menschenauffassungen der Menschen und deshalb letztendlich deren Lebensweise zu einer Einheit bringt und dadurch die Gefahr von Religions- bzw. Ideologienkriegen radikal aus der Welt schafft.
Auch die dritte Hauptforderung der Weisheit wird von Hegels Philosophie erfüllt und auch in dieser Hinsicht ist die von ihr geförderte Lebensführung deshalb als ’weise’ zu bezeichnen.
Schluß
Es ist nun möglich, die Schlüsse aus den aufgeführten Überlegungen zu ziehen. Aus dem Gesagten geht hervor, dass die Philosophie Hegels eine Lebensführung in den Menschen fördert, die als ’weise’ bezeichnet werden kann. Diese Lebensführung kann in der Tat allen Hauptgefahren entgegenwirken, die das Leben der Menschen bedrohen. Sie kann sowohl die Gefahren beseitigen bzw. mindern, die von der wirtschaftlichen Konkurrenz unter den Menschen ausgehen, als auch die, die von der Natur verursacht sind und schließlich auch die, die in den unterschiedlichen Mentalitäten und Lebensweisen der Völker ihren Ursprung haben.
Der Mensch bzw. die Gesellschaft, der bzw. die auf der Grundlage einer ’Hegelianischen (absolut-idealistischen) Lebensführung’ lebt, ist imstande, bei jeder Gelegenheit eine ’weise’ Entscheidung zu treffen, d.h. nicht eine solche, die ’allein’ für die Individualität der eigenen Person bzw. der eigenen Nation gut ist und deshalb als egoistisch (34) bezeichnet werden muss, sondern eine, die für ’alle’ Beteiligten, also letztendlich ’auch’ für die eigene Person bzw. Nation gut ist. Allein solche Entscheidungen können das Zusammenleben der Menschen langfristig in Frieden erhalten, und deshalb sind alle Menschen und Gesellschaften dazu moralisch aufgefordert, sich anzustrengen, ihre öffentliche Entscheidungen auf eine solche, ’weise’ Art zu treffen.
Ganz besonders gilt diese Aufforderung selbstverständlich für diejenigen, die in einer Gesellschaft verantwortliche Positionen einnehmen, wie etwa die Politiker. Für diese Menschen ist die Weisheit kein ’Extra’, sondern sollte die Voraussetzung ihrer Berufswahl sein. Grund dafür ist, dass sie die Entscheidungen treffen, die das gesamte Leben des Volkes regeln und, in der heutigen, weitgehend vernetzten Weltgemeinschaft, das Schicksal der ganzen Menschheit mittelbar mitbestimmen.
Der alte Gedanke, dass die Philosophen bzw. die Philosophie regieren sollen (35), zeigt sich deshalb gar nicht als Utopie, sondern eher als nüchterne Wahrheit. Damit wird selbstverständlich nicht gemeint, dass die ’Universitätsprofessoren’ regieren sollen, da die Philosophie etwas ist, das sich nicht an akademischen Graden, sondern nur an der Weisheit eines Menschen messen läßt. Dass die Philosophen regieren sollen, bedeutet also, dass die ’Weisen’ regieren sollen. Diese könnten genauso Ärzte, Rechtsanwälte, Angestellte, Arbeiter, Bauern usw. sein. Der ausgeübte Beruf und der erreichte Schulabschluss bzw. akademische Grad sind dabei völlig unbedeutend. Nur die Weisheit zählt, also die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, die zum gemeinsamen Wohle aller Beteiligten führen.
Wie eine solche, für die heutige, sehr komplexe Weltgemeinschaft unentbehrliche Fähigkeit in den Menschen konkret gefördert werden könnte, ist in diesem Beitrag ansatzweise (36) dargestellt worden sein.


Anmerkungen


1) Über Hegels Selbsterziehungsbestreben s. „Einfluß“, S. 34.
2) Siehe den Paragraphen 7 von dem Schluss.
3) Dazu sind auch die Naturkatastrophen zu rechnen, die von den Menschen selbst verursacht werden, wie z.B. jene, die vom Ozonloch verursacht werden könnten.
4) Die präzisierenden Erläuterungen bezüglich der von den Menschen verursachten Katastrophen verdanke ich der aufmerksamen Lektüre und scharfen Kritik meiner Lebensgefährtin Monika Hummel.
5) Diese Untersuchung wird auf der Grundlage der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften von 1830 durchgeführt. Grund dafür ist, dass dieses Werk das letzte gesamte System Hegels enthält, während die anderen Hauptwerke nur Spezialteile desselben enthalten. Die folgenden Angaben der Paragraphen beziehen sich, sofern nichts anderes gesagt, auf dieses Werk und zwar auf die folgende Ausgabe: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), hrsg. von Wolfgang Bonsiepen und Hans-Christian Lucas. Hamburg 1992 (GW 20).
6) Z.B. in Form von Träumen, Leidenschaften, subjektiven Gedanken (was den subjektiven Geist betrifft) bzw. in Form von religiösen bzw. philosophischen Weltauffassungen (was den absoluten Geist angeht).
7) Über die ’Aufhebung’ als Grundgesetz der Dialektik s. die diesbezügliche Anmerkung Hegels in der Wissenschaft der Logik (1832), GW 21, S. 94-95.
8) Es kann weder der einen Frage, ob wirklich alle einzelnen Seienden dialektisch entstehen und sich dialektisch entwickeln, noch der anderen, mit dieser ersten verbundenen Frage, welche Rolle der Zufall gegenüber der Notwendigkeit des dialektischen Prozesses in der Entwicklung der Natur und des Geistes spielt, nachgegangen werden. Die Behandlung dieser Fragen würde eine eigene, spezielle Untersuchung erfordern.
9) Für die Begründung dieses Überganges s. § 244 und 247 sowie Wandschneider 1985 und 1990.
10) Siehe darüber Wandschneider 1985.
11) Als Schnittpunkt zwischen Natur und absoluter Idee im Geist ist seine individuelle Dimension, der subjektive Geist zu betrachten (Seele, Träume, Leidenschaften gehören dazu - s. §§ 387-482).
12) Dieses Element bildet aber selbstverständlich für den Geist nur einen unter verschiedenen Ausgangspunkten seines Lebens und sicherlich nicht sein Wesen, wie bei den Tieren.
13) Es ist selbstverständlich auch möglich, dass eine solche Identifizierung gar nicht stattfindet bzw. nicht erfolgreich zustande kommt. In diesem Fall lebt der Mensch, der sich nicht mit seinem ideellen Wesen identifiziert hat, auf eine tierische Weise, also der Notwendigkeit der natürlichen Bedürfnisse unterworfen (das ist letztendlich das Böse).
14) Über die Suche nach Glückseligkeit als psychologischer Grundlage nicht nur der Familie, sondern der Sittlichkeit überhaupt s. die Philosophie des subjektiven Geistes, §§ 479-480.
15) Ich habe vor, dieses Thema in einer Studie zu behandeln, in der ich eine neue Gesamtinterpretation von Hegels System vorschlagen werde, die die Reform bzw. Neuinterpretation nicht nur des Begriffs ’bürgerliche Gesellschaft’, sondern auch mehrerer anderer Begriffe beinhalten wird (s. den Ausblick).
16) Wobei auch in diesem Fall der Tausch von Gütern, also schon ein Ansatz von Intersubjektivität, unausweichlich ist.
17) Auf diese Weise wird es außerdem einer wachsenden Anzahl von Menschen ermöglicht, eine berufliche Tätigkeit auszuüben, die in keiner direkten Verbindung zu den Grundbedürfnissen der Assimilation mehr steht. Solche Berufe weisen meistens eine höhere Kreativität und deshalb geistige Kennzeichen auf.
18) Der Profit als Grundgesinnung zur Arbeit ist deshalb philosophisch falsch und führt aus diesem Grund, wie alles, was philosophisch falsch ist und trotzdem praktisch umgesetzt wird, früher oder später zu individuellen bzw. gesellschaftlichen katastrophalen Folgen.
19) Mit Hegel könnten wir sagen, dass es sich dabei um den Standpunkt des Absoluten handelt.
20) Solche Prinzipien werden in der Verfassung festgelegt.
21) Siehe von ihm die angegebene Literatur am Ende dieser Sektion.
22) Siehe § 552 über den Volksgeist und insbesondere ab S. 531 "Es ist damit hier der Ort, auf das Verhältnis Staat und Religion näher einzugehen [...]".
23) Das ist die echte Bedeutung des so oft mißverstandenen Ausdrucks Hegels ’sittlicher Staat’ (vgl. Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), SA 7, § 257: "Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee [...]").
24) In den hochentwickelten Gesellschaften wird die Arbeit immer mehr etwas Geistiges, in dem man ’Spaß’ findet, da es die eigene Selbstverwirklichung mit ermöglicht. Auch die Rahmenbedingungen der Arbeit - Arbeitszeit, Arbeitssicherheit usw. - werden immer mehr an die eigenen Kräfte und Möglichkeiten des Menschen angepasst, so dass die Arbeit nicht als Pflicht und Last, sondern allmählich immer mehr als Recht und Freude empfunden und angesehen wird.
25) Der Begriff  ’Glück’ als psychologische Grundlage der Sittlichkeit wird von Hegel in der Philosophie des subjektiven Geistes erläutert und in der Philosophie des objektiven Geistes deshalb vorausgesetzt (s. auch Anm. 14).
26) Über die Kreativität als Hauptmerkmal des Geistes sind richtungsweisend die Bemerkungen von Masullo in dem Kapitel 6.1 La metafisica ed il problema del tempo in Hegel (Die Metaphysik und die Frage nach der Zeit bei Hegel) und insbesondere in dem Paragraphen 6.1.2 Il concetto come futuro senza tempo (Der Begriff als zeitlose Zukunft) in seinem Buch „Metafisica“.
27) Siehe z. B. § 442: "Das Fortschreiten des Geistes ist Entwicklung, insofern seine Existenz, das Wissen, [...], d.i. das Vernünftige zum Gehalte und Zweck hat, also die Tätigkeit des Übersetzens rein nur der formelle Übergang in die Manifestation und darin Rückkehr in sich ist".
28) So Masullo, 1980, S. 218: "Il concetto, che non si riduca ad un’astratta rappresentazione, ma concretamente esista, è lo " ("Der Begriff, der sich nicht bloß auf eine Vorstellung reduziert, sondern konkret existiert, ist der ").
29) Z.B. der Beruf eines Arztes soll in erster Linie für die Erhaltung der Gesundheit der Patienten und nur als Nebeneffekt als Verdienstquelle ausgeübt werden.
30) „Phänomenologie des Geistes“, GW 9, S. 41
31) Aufgrund der Tatsache, dass der Mensch in seinem biologischen Bestandteil von der Natur letztendlich abhängig ist, soll er sich wohl bemühen, in Einheit mit ihr zu leben, also die biologischen Lebensgrundlagen nicht zu zerstören.
32) Um sich treffender auszudrücken, soll von der absoluten Wahrheit der Philosophie des absoluten Idealismus die Rede sein, von der Hegels System sicherlich die Hauptprinzipien enthält, aber aus diesen nicht alle richtigen Schlüsse zieht. Es soll die heutige Hauptaufgabe der Philosophen sein, die sich mit dieser Philosophie identifizieren, eine Aktualisierung bzw. Umschreibung derselben vorzunehmen, wie Wandschneider in bezug auf die Naturphilosophie und Schild auf die Rechtsphilosophie ein bahnbrechendes Beispiel in den letzten Jahren geliefert haben (für deren Werke s. Literaturverzeichnis am Ende dieser Sektion).
33) Meistens sind es gerade die Gelehrten, die sich weigern, Anhänger einer herrschenden Religion bzw. Ideologie zu werden, da sie aufgrund ihrer Kenntnisse wissen, dass in jeder Religion bzw. Ideologie von Prinzip aus ein methodologischer Fehler vorliegt.
34) Dabei ist philosophisch unbedeutend, ob es sich um einen Egoismus der Person bzw. des Volkes handelt.
35) Siehe Plato, „Der Staat“, sechstes Buch.
36) Ich beabsichtige, eine gezielte, umfangreichere Untersuchung in den kommenden Jahren durchzuführen, in der die Grundlinien eines auf den Prinzipien der Philosophie des absoluten Idealismus gegründeten Staates geschildert werden sollen (s. darüber den Ausblick).

 

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Beitrag 9

Die Aktualisierung von Hegels System
als die wichtigste Aufgabe der Philosophie heute

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Die Überlegungen, die in den letzten zwei Beiträgen angestellt worden sind, und die Schlüsse, die daraus gezogen wurden, führen zum weiteren, zusammenfassenden Schluß, daß es heutzutage von immenser Wichtigkeit wäre, wenn es gelingen würde, der Philosophie und insbesondere der Philosophie Hegels in unserem ethisch-politischen Leben eine wichtigere Stellung einzuräumen, als die, die ihr zur Zeit zugeschrieben wird. In der Tat könnte Hegels Philosophie in den Menschen und vor allem in denjenigen, die verantwortungsvolle Positionen einnehmen, Weisheit fördern und somit die Grundlage bilden, auf der Entscheidungen getroffen werden, die dem Gemeinwohl aller Menschen zugute kommen. Eine Übernahme von Hegels Philosophie als Grundlage für das ethisch-politische Leben der heutigen Gesellschaft setzt aber deren Aktualisierung voraus.
Eine Philosophie der Vergangenheit zu aktualisieren, bedeutet, den wahren Kern dieser Philosophie von den Gedanken zu trennen, die nur eine historische Geltung zur damaligen Zeit hatten. Niemand könnte in der Tat behaupten, daß in einer Philosophie der Vergangenheit alles richtig ist. In jeder Philosophie sind Äußerungen von deren Gründer vorhanden, die sich nicht ohne weiteres aus den Prinzipien dieser Philosophie ableiten lassen und eher eine Konzession des Philosophen an seine Zeit, an den eigenen Charakter usw. sind.
So sind z.B. die Äußerungen von Plato und Aristoteles über die Sklaverei sicherlich nicht in Einklang mit den Grundprinzipien ihrer Philosophien, aus denen eigentlich eher eine Gleichheit aller Menschen abzuleiten wäre. Dies gilt z.B. auch für Kants Philosophie und insbesondere für seine Religionsphilosophie. In der Tat hätte Kant in der Religionsschrift keine so wichtige Rolle in der menschlichen Gesellschaft dem historischen Glauben einräumen dürfen, mit der argumentativ nicht stringenten Begründung, daß das Volk einen solchen Glauben braucht, weil es nicht imstande ist, die Vernunftreligion, die Kant wohl als die einzig richtige Form von Religion hielt, als die eigene Religion anzunehmen1).
Dies sind nur einige Beispiele aus der Geschichte der Philosophie, die zeigen, wie auch die großen Philosophen bei der Herausbildung ihrer, für ihre Zeit sehr revolutionären Auffassungen, irgendwann auf einen Punkt gestoßen sind, an dem sie mit der Deduktion der Schlüsse aus den angenommenen Prinzipien aufgehört haben und mehr oder weniger gravierende Konzessionen an die Mentalität und die Vorurteile ihrer Zeit gemacht haben.
Dies ist selbstverständlich auch bei Hegel geschehen. Die Anschuldigungen von Marx gegen ihn aufgrund seiner Akkomodation2) sind von Ilting im Grunde genommen als historisch wahr bewiesen worden3). Auch Hegels Passatismus4) sowie im allgemeinen die Tendenz des Berliner Hegel, den Einklang mit dem offiziellen Christentum und mit dem preußischen Staat auf jeden Fall zu suchen, wenngleich dies nicht ohne weiteres auf eine logisch-dialektische Weise zu begründen war5), lassen sich nur als Konzessionen von Hegel an den Zeitgeist6), an den Glauben seiner Frau und seiner Kinder, sowie im allgemeinen an seinen nicht gerade mutigen Charakter7) erklären. Diese Makel betreffen aber nicht den ’Geist’ von Hegels Philosophie, also die Schlüsse, die wir heute aus den Hauptprinzipien seiner Philosophie mit einer anderen, von der damaligen Zeit sehr entfernten und viel offeneren Mentalität ziehen können, sondern allein deren ’Buchstaben’, also die Schlüsse, die Hegel selbst gezogen hat8).
Die Aktualisierung von Hegels Philosophie soll also in erster Linie in der scharfen Trennung zwischen dem ’Geist’ seiner Philosophie, also den Prinzipien und den Hauptschlüssen, die sich eindeutig aus diesen Prinzipien ableiten lassen, und deren ’Buchstaben’, also die weiteren Schlüsse, die Hegel entweder unter psychologischem Druck seitens seiner Gesellschaft gezogen hat, ohne sie aber logisch-dialektisch stringent begründen zu können oder hätte ziehen sollen und aufgrund seiner Ängstlichkeit vor dem preußischen Staat bzw. seiner Rücksicht gegenüber seiner Familie gar nicht gezogen hat.
Eine solche Unterscheidung hat Hegel selbst in bezug auf das Christentum gemacht, indem er in den Jahren 1795-1799 zwischen dem wahren Kern der Botschaft Jesu (Das Leben Jesu, 1795) und deren falscher Überlieferungsform durch die Apostel (Die Positivität der chrislichen Religion, 1796/97) streng unterschieden hat. Seine zusammenfassenden Ergebnisse sind in den Fragmenten zu Der Geist des Christentums und sein Schicksal (1797/99) enthalten.
Auch in bezug auf Hegels Philosophie sollte man die gleiche Operation durchführen, und zwar unter dem Titel: Der Geist des Hegelianismus und sein Schicksal. Der einzige Unterschied zwischen Jesus und Hegel würde darin liegen, daß Jesus von seinen Aposteln verraten wurde, während Hegel sich selbst verraten hat. Seine Schüler haben durch die Benutzung der Vorlesungsnachschriften für die Veröffentlichung der ersten Ausgabe von Hegels Werken dagegen versucht, Hegels Selbstverrat rückgängig zu machen.
Allein nach einer solchen ’Reinigungs- bzw. Vervollständigungsoperation’9) wird man über ein philosophisches System verfügen, das den positiven Wert von Hegels Philosophie als Weisheitslehre aufweisen wird, ohne aber deren negativen Wert, also ohne die unbegründeten Schlüsse mit zu enthalten. Endziel dieser doppelten Operation soll die Erarbeitung einer neuen Fassung der Philosophie des absoluten Idealismus sein.
Die Reinigungs- bzw. Vervollständigungsoperation von Hegels System kann selbstverständlich nicht innerhalb der begrenzten Aufgabe dieses Beitrages durchgeführt werden, dessen Ziel es eigentlich allein war, zu zeigen, daß eine solche Operation den harten Kern einer historisch und systematisch fundierten Aktualisierung von Hegels Philosophie bildet und deshalb die unentbehrliche Voraussetzung für deren Anwendung auf das ethisch-politische Leben unserer heutigen Gesellschaft ausmachen soll.
In bezug auf die Bezeichnung der neuen, aktualisierten Fassung von Hegels Philosophie ist einiges zu präzisieren. Da einige wichtige Änderungen in Hegels System vorzunehmen sind - wie z.B. in bezug auf den Begriff ’bürgerliche Gesellschaft’ im vorigen Beitrag ausführlich dargestellt wurde -, ist es besser, eine Bezeichnung zu benutzen, die sich eindeutig auf die Prinzipien von Hegels Philosophie bezieht, ohne sich aber auf Hegels System zu begrenzen. Die Bezeichnung ’Philosophie des absoluten Idealismus’ scheint mir deshalb besser geeignet, eine aktualisierte Fassung von Hegels Philosophie zu definieren. Der Ausdruck ’objektiver Idealismus’, der üblicherweise verwendet wird, um eine solche Denkrichtung zu bezeichnen10), scheint mir dagegen sowohl historisch als auch systematisch ungeeignet.
In der Tat hat Hegel selbst den Standpunkt des Absoluten (bzw. des Subjekts und des Geistes), den er durch seine Philosophie vertreten hat, gegenüber dem Standpunkt der Objektivität (bzw. der Substanz und der Natur) von Schellings Philosophie scharf unterschieden.
Mit objektivem Idealismus sollte deshalb eine Weltauffassung à la Schelling und Spinoza gemeint werden, nach der das Hauptprinzip der Welt die unendliche Substanz ist. Dabei handelt es sich um eine statische Weltauffassung, die die Entwicklung der Substanz und deren Geistwerden nicht berücksichtigt.
Dagegen ist in Hegels Philosophie des absoluten Idealismus das Hauptprinzip der Welt etwas Dynamisches, und zwar die absolute Idee, die sich zuerst als Natur und dann als Geist entwickelt und erst in diesem letzten Entwicklungsstadium als Subjekt zum vollen Erscheinen kommt.
Es handelt sich dabei um einen enormen Unterschied, der auf keinen Fall nur die Bezeichnung betrifft, da er sich in den verschiedenen Systeminhalten und darunter vor allem in den verschiedenen Menschenauffassungen niederschlägt. Während in Schellings Philosophie der Mensch auf gleiche Ebene mit der Natur gestellt ist, wird von Hegel der Mensch als Geist zur Verkörperung des Absoluten erhoben, da erst in dem Geist das Absolute vollständig erscheint (und zwar als absoluter Geist). Deswegen ist die Sittlichkeit bei Hegel eine absolute Sittlichkeit, da derjenige, der sittlich lebt, nicht der empirische, sondern der absolute Mensch ist, also der Mensch, der in sich das Absolute erkannt und sich mit ihm identifiziert hat.
Diese Welt- und Menschenauffassung hat Hegel genau in Gegenüberstellung zu Schelling in den letzten drei Jahren seines Jenaer Aufenthaltes erarbeitet und gegen ihn verwendet, wie unter anderem die Vorrede zur Phänomenologie des Geistes ausführlich belegt. Sie bildet eigentlich den wesentlichen Unterschied zwischen Hegelianismus und Schellingianismus, also zwischen absolutem und objektivem Idealismus.
Hegels Philosophie bzw. eine aktualisierte Fassung derselben, die sich als Fortsetzung und Umsetzung von Hegels Programm selbst interpretiert11), als ’objektiven Idealismus’ zu bezeichnen, scheint mir deshalb einen historischen und systematischen Fehler zu enthalten, der nur dahin führt, daß der Erfolg einer solchen Unternehmung aufgrund selbst verursachter Ungenauigkeit eigentlich nur erschwert wird12).

 

Anmerkungen
1) Darüber s. Einfluß, S. 154-155.
2) Siehe von ihm die bekannte Schrift: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 514: "Es ist hier also eine Inkonsequenz Hegels innerhalb seiner eigenen Anschauungsweise, und eine solche Inkonsequenz ist Akkomodation".
3) Siehe z.B. seine Einführung zu Hegels Vorlesungen über Rechtsphilosophie.
4) Siehe darüber Hösle, 1988, Bd. 2, § 7.1.2 Das Zuspätkommen der Philosophie. Hegels Passatismus und Nihilismus.
5) Eigentlich hätte Hegel sogar das Gegenteil aus den Prinzipien seiner Philosophie schließen müssen, also sich gegen die christliche Religion und gegen den preußischen Staat äußern müssen.
6) Z.B. infolge der Karlsbader Beschlüsse, wie Ilting in der schon erwähnten Einführung ausführlich gezeigt hat (s. den Abschnitt Die Karlsbader Beschlüsse (1819) verzögern die Publikation der "Rechtsphilosophie", S. 43 ff.).
7) Vgl. diesbezüglich den von Ilting zitierten Brief Hegels an Niethammer vom 9. Juni 1921, in dem unter anderem folgendes Zugeständnis Hegels zu lesen ist: "[...] Sie wissen, ich bin einesteils ein ängstlicher Mensch, andernteils liebe ich die Ruhe, [...]" (S. 68).
8) Das Gleiche kann selbstverständlich in bezug auf die anderen zitierten Philosophen gesagt werden. Die Aktualisierung von Plato und Aristoteles im Mittelalter und dann in der Renaissance hat sich auch auf dieser Unterscheidung gegründet, ansonsten wäre es nie möglich gewesen, in einer Zeit, in der die brüderliche Liebe unter den Menschen bzw. die Wiedergeburt des Menschen gefordert wurden, sich auf Philosophen zu berufen, die sich für die Sklaverei ausgesprochen hatten.
9) Bei der Reinigung handelt es sich um die Ausmerzung von logischdialektisch unbegründeten Schlüssen, während es bei der Vervollständigung um die Ergänzung von Schlüssen geht, die von Hegel nicht gezogen wurden, wenngleich sie aus den logisch-dialektischen Hauptprinzipien stringent hätten folgen müssen (s. darüber den folgenden Beitrag).
10) Vgl. z.B. Hösle, 1988, Bd. 2, S. 665, Fußnote 2: "Von Inkonsistenzen in der Durchführung abgesehen ist ohnehin klar, daß Hegels System in seiner konkreten Form ein endgültig Vergangenes ist - [...]. Eine andere Frage aber ist, ob nicht diese neuen Resultate mit einem System vom Typ des objektiven Idealismus kompatibel sind." (Vgl. auch Bd. 1, S. 57, Fußnote 77).
11) Wie dies z.B. Hösle (1988, Bd. 1) im Paragraphen 2.3 Hegels Systemprogramm. Möglichkeiten seiner immanenten Kritikausdrücklich tut.
12) Hier wird selbstverständlich nur die von Hösle ausgesuchte Bezeichnung und keinesfalls das darunter gemeinte Programm kritisiert, das dagegen als eines der größten und ernsthafteren Resultate der Philosophie in den letzten Jahren zu betrachten ist. An dieser Stelle sei Vittorio Hösle für seine Unternehmung Anerkennung ausgesprochen und ein für alle Male gleichzeitig auch erklärt, daß jede Kritik von mir an Denkern, die sich für die Aktualisierung von Hegels Philosophie mutig einsetzen, konstruktiv, als gemeinsamer Gang auf dem gleichen Wege, und nicht destruktiv, als Suche nach einem individuellen, persönlichen Wege, verstanden werden muß.

 

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Beitrag 10

Zur Begründung einer Theorie der ’Globalinterpretation’ 
als des einzig gültigen Weges zur Aktualisierung
einer Philosophie der Vergangenheit

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Die bisher geführten Überlegungen dürften deutlich gezeigt haben, daß es bei der Aktualisierung einer Philosophie der Vergangenheit in erster Linie darum geht, den philosophisch gültigen Kern von der bloß historisch erklärbaren Schale zu trennen. Ohne diese vorausgehende Unternehmung läßt sich kein vergangenes System in die Gegenwart erfolgreich umsetzen.
Bei einer solchen Reinigungs- und Vervollständigungsoperation handelt es sich aber offensichtlich um eine Interpretation der Philosophie der Vergangenheit. In der Tat beruht die Trennung zwischen Kern und Schale bzw. Geist und Buchstabe, also zwischen Begriffen, die die unverzichtbaren Hauptprinzipien dieser Philosophie bilden, und anderen Begriffen, die dagegen allein aus psychologischen, historischen usw. Gründen von dem Philosophen zu den Hauptprinzipien hinzugefügt wurden, auf einem hermeneutischen Vorgang, also auf einer Interpretation.
Die Frage, die diesbezüglich entsteht, ist die der Festlegung der Kriterien einer objektiven Interpretation, d.h. einer solchen, die imstande ist, die wirklichen Hauptprinzipien einer Philosophie der Vergangenheit aus dem Ganzen herauszuarbeiten. Es geht also darum, zu vermeiden, daß die Suche nach den Hauptprinzipien nach subjektiven Kriterien, also nach dem ’Geschmack’ des Interpreten erfolgt. Eine solche subjektive Interpretationsweise wäre in der Tat eine sehr schwache Grundlage für die Anwendung der Philosophie der Vergangenheit auf das gegenwärtige ethisch-politische Leben.
Es muß also eine Methode gefunden werden, die es ermöglicht, auf eine objektive Weise die Hauptprinzipien einer Philosophie dem Ganzen zu entnehmen und sie auf diesem Weg von der äußeren Schale zu trennen.
Im diesem Beitrag werde ich versuchen, die Grundlinien einer solchen Methode festzulegen.
Aufgrund der in den Beiträgen 7-9 durchgeführten Überlegungen über den Werdegang von Hegels Geist und über den tiefen, verborgenen Sinn seines Systems als Weisheitslehre sowie der Ergebnisse des ersten Teils von Einfluß soll geschlossen werden, daß die entwicklungsgeschichtliche Rekonstruktion der Entstehung einer Philosophie eine unentbehrliche Rolle spielt, wenn es darum geht, deren Sinn, deren echte Bedeutung zu verstehen.
In der Tat ist zwischen einem immanenten Verständnis einer Philosophie und deren genetischer bzw. entwicklungsgeschichtlicher Interpretation streng zu unterscheiden.
Bei dem immanenten Verständnis geht es um eine Überprüfung des logischen Aufbaus einer Philosophie, d.h. um die doppelte Frage, ob die Begründung der Prämissen überprüfbar bzw. dogmatisch ist und ob die Ableitung der verschiedenen logischen Schlüsse aus den angenommenen Prämissen auf eine logisch stringente Art erfolgt. Ein solches Verständnis ist ausschließlich systemimmanent, d.h. es betrachtet weder die Vergangenheit des Systems, d.h. dessen Entstehung in der sogenannten ’Jugendzeit’ des Philosophen, noch dessen Zukunft, d.h. dessen Geltung in der gegenwärtigen und künftigen Zeit.
Bei der entwicklungsgeschichtlichen Interpretation geht es dagegen um die Rekonstruktion der Entstehung des Systems, also von dessen allmählichem Werdegang in der Jugendzeit des Philosophen. Diesbezüglich ist aber zu präzisieren, daß unter der Entwicklungsgeschichte eines Systems nicht die bloße historische Erzählung von biographischen Fakten, sondern die allmähliche Entstehung und Entwicklung der wichtigsten Begriffe des Systems verstanden werden soll. In diesem Sinn sind der erste Teil von
Einfluß sowie z.B die Studie von Haering (1929) ein gutes Beispiel für echte Entwicklungsgeschichte. Der zweite Teil von Einfluß und die Studie von Jamme (1983) sind dagegen ein Beispiel für eine Einflußforschung, die zwar auch interessant und für das historische Verständnis eines Systems wichtig ist, jedoch, wenn sie isoliert betrieben wird, also wenn sie in keine übergeordnete, begriffliche Entwicklungsgeschichtliche mündet, für die echte Bedeutung dieser Philosophie nicht aufschlußreich sein kann.
Es geht bei einer echten Entwicklungsgeschichte also nicht um die bloße Erzählung von äußeren Ereignissen im Leben des Philosophen, sondern um die Entwicklung seines inneren philosophischen Lebens, das wir durch die Rekonstruktion der Verkettung der Hauptbegriffe, die sich durch seine Jugendschriften bis zur Entstehung des Systems hindurch erkennen lassen, nachzeichnen können.
Unter dieser ’entwicklungimmanenten’ Perspektive sind die äußeren Einflüsse und Ereignisse nur dann von Wichtigkeit, wenn sie einen nachweisbaren Niederschlag im inneren Leben des Philosophen, also in der allmählichen Herausbildung seiner Philosophie finden. Wenn dies aber stattfindet, wenn sich also ein äußerer Einfluß auf das philosophische Leben niederschlägt, finden wir ihn nicht als bloß historisches Ereignis, sondern als Gedanken, als Begriff, als erkannte Wahrheit. Allein in dieser Form, die eindeutig zur echten inneren Entwicklungsgeschichte gehört, hat das historische Ereignis nicht nur eine historische, sondern auch eine systematische und deshalb philosophische Geltung.
Eine echte entwicklungsgeschichtliche Interpretation zielt nicht auf die Überprüfung der logischen Stringenz in der Begründung der Prämissen bzw. in der Ableitung der Schlüsse, sondern auf das Verständnis des Grundes, weshalb der Philosoph das System überhaupt gegründet hat, d.h. was er damit bezwecken wollte bzw. welches Ziel er dabei verfolgte. Bei dem entwicklungsgeschichtlichen Verständnis handelt es sich also um eine Interpretation die, sozusagen, über der systemimmanenten steht. Dies bedeutet, daß dadurch das Verständnis dafür angestrebt wird, welche Bedeutung das untersuchte System überhaupt hat bzw. welche Rolle dieses System den Absichten seines Gründers nach in der Geschichte der Menschheit spielen soll.
Ein solches Verständnis sieht von der Frage ab, ob diese Bedeutung in dem untersuchten System von dessen Gründer richtig umgesetzt wurde. Im Prinzip könnte man sich vorstellen, daß von einem philosophischen System die ganz allgemeine Bedeutung akzeptiert wird, ohne daß aber deren Ausführung durch den Philosophen mit akzeptiert wird. Es könnte also z.B. der Fall auftreten, daß ein neues philosophisches System aufgebaut wird, das die Bedeutung von dem untersuchten, alten System übernimmt, deren Ausführung aber vollständig erneuert1).
Sinn bzw. Bedeutung eines philosophischen Systems und die logische, immanente Gedankenstruktur, in der dieser Sinn seinen Ausdruck findet, sind also zwei vernetzte, aber verschiedene Aspekte einer philosophischen Auffassung. Sicherlich existiert eine Verbindung zwischen beiden, die darin besteht, daß die immanente Gedankenstruktur den Sinn des Systems umzusetzen versucht und deshalb von ihr abhängig ist. Der Sinn einer Philosophie ist in sich aber unabhängig von der zeitlichräumlich begrenzten Ausführung durch den Gründer des Systems und kann deshalb unter anderen zeitlich-räumlichen Bedingungen in ein anderes philosophisches System, das dem neuesten Stand der wissenschaftlichen und philosophischen Kenntnisse angepaßt ist, umgesetzt werden.
Aus den eben aufgeführten Überlegungen geht hervor, daß ein blosses systemimmanentes Verständnis eines philosophischen Systems nicht in der Lage ist, dieses in seinem vollen Umfang, in seiner Ganzheit zu verstehen. Eine solche Art, eine Philosophie zu interpretieren, kann sicherlich zu gültigen Ergebnissen bezüglich der immanenten logischen Stringenz des Systems führen, es bleibt ihr aber der Sinn dieses Systems verschlossen, d.h. der Grund, weshalb der Philosoph dieses System überhaupt erarbeitet hat sowie der Grund, weshalb wir es heute eventuell noch brauchen könnten.
Die ausschließlich systemimmanente Interpretation ist, sozusagen, ’blind’2), d.h. sie bewegt sich nur im Inneren einer Philosophie, ohne aber zu verstehen, woher sie kommt und wohin sie führen will und kann.
Eine solche Interpretation ist also wurzel- und perspektivlos.
Einem solchen Verständnis ist aber nicht die bloße entwicklungsgeschichtliche Interpretation überlegen, da auch diese, isoliert betrachtet, einseitig ist. Eine solche Interpretation kann in der Tat sehr aufschlußreich bezüglich des Sinnes bzw. der Bedeutung einer Philosophie sein, kann aber nichts dazu sagen, ob der Philosoph imstande gewesen ist, diesen Sinn in seinem System auf eine logisch stringente Weise umzusetzen. Aus diesem Grund ist die bloße entwicklungsgeschichtliche Interpretation im Vergleich zu der systemimmanenten ’leer’, da ihr das Verständnis des eigentlichen Inhaltes der untersuchten Philosophie, also der Gedankenstruktur des reifen Systems, fehlt.
Sowohl der bloß systemimmanenten als auch der bloß entwicklungsgeschichtlichen Interpretation ist also eine Interpretation überlegen, die sich durch einen ersten propädeutischen, entwicklungsgeschichtlichen Schritt einen Zugang zum Sinn des Systems verschafft und durch einen zweiten, systemimmanenten Schritt das System unter dem Gesichtspunkt von dessen Sinn interpretiert, d.h. der Frage nachgeht, ob es dem Gründer des Systems gelungen sei, den Sinn seiner Philosophie auf eine logisch stringente Weise umzusetzen.
Wenn wir uns nun zu der Frage der Festlegung der Kriterien einer objektiven Interpretation eines philosophischen Systems der Vergangenheit, die den Ausgang dieses Beitrags bildete, zurückwenden, können wir folgende Antwort geben: Allein eine globale Interpretation ist imstande, die echte, ursprüngliche Bedeutung einer Philosophie zu erkennen und deshalb unter dieser Perspektive die Begriffe, in denen sich diese Bedeutung niederschlägt, von den anderen Begriffen zu trennen, die im Gegensatz dazu mit dieser ursprünglichen echten Bedeutung in keinem logischen Verhältnis stehen.
Bei der ersten Gruppe von Begriffen handelt es sich deshalb um ’Hauptprinzipien’ des Systems. Dies bedeutet, daß das untersuchte System seine Bedeutung, seinen Sinn verliert, wenn wir diese Begriffe aus dem System ausmerzen. Diese Hauptprinzipien befinden sich also in einer notwendigen Beziehung zum System und zu dessen Bedeutung, die sich in ihnen vollzieht. Sie bilden das Wesen des Systems und sind von ihm nicht abzutrennen, ohne das System zu denaturieren (sie sind der Kern bzw. der Geist des Systems).
Bei der zweiten Gruppe von Begriffen kann es sich wohl auch um Prinzipien des Systems, aber um keine ’Hauptprinzipien’ handeln. Dies bedeutet, daß kein logisch notwendiges Verhältnis zwischen diesen Prinzipien und der ursprünglichen echten Bedeutung des Systems festzustellen ist. Diese Prinzipien sind von dem Philosophen irgendwann im Laufe seiner Entwicklung und aus irgendwelchem historischen Grund zu dem ursprünglichen harten Kern hinzugefügt worden, gehören aber nicht zu diesem harten Kern.
Durch die Unterscheidung zwischen ’Hauptprinzipien’, die den Kern bzw. den Geist einer Philosophie ausmachen, und einfachen Prinzipien, die deren Schale bzw. Buchstaben dagegen bilden, wird eine feste Grundlage gebildet, auf der die Aktualisierung einer Philosophie der Vergangenheit vollzogen werden kann.
In der Tat ist die eigentliche Aufgabe der Interpretation einer schon existierenden Philosophie weder die bloße Untersuchung der entwicklungsgeschichtlichen, vergangenheitsorientierten Frage, welchen Sinn der Philosoph seinem System zugeschrieben hat, noch der systemimmanenten, gegenwartsorientierten Frage, ob es ihm gelungen ist, diesen Sinn auf eine logisch stringente Art umzusetzen, sondern der anderen, zukunftsorientierten Frage, ob eine solche Philosophie bei der Lösung der aktuellen, philosophischen Fragen behilflich sein und in welcher Form sie diese Aufgabe am besten erfüllen kann.
Eine solche, zukunftsorientierte Interpretation ist als der Versuch der Aktualisierung einer Philosophie der Vergangenheit anzusehen. Sie setzt selbstverständlich voraus, daß man die echte Bedeutung dieser Philosophie durch die entwicklungsgeschichtliche Rekonstruktion schon verstanden hat und daß auch schon systemimmanent überprüft worden ist, wie es mit der logischen Stringenz des immanenten Aufbaus des Systems aussieht.
Die eigentliche Aktualisierung des Systems besteht dann darin, die Lücken zu beseitigen, die bei der Annahme der Prämissen sowie bei der Ableitung der Schlüsse aus diesen Prämissen eventuell aufgefunden worden sind3). Damit wird die logische Stringenz des Systems verbessert und dadurch dessen Anwendung auf die philosophisch bedeutenden Fragen der Gegenwart auf eine festere Basis gestellt. In der Tat kann allein auf diese Weise das philosophische System, von dem wir meinen, daß es noch heute zur Lösung der aktuellen philosophischen Fragen brauchbar sei, zu diesem Zweck tauglich gemacht werden.
Die Aktualisierung einer Philosophie der Vergangenheit schließt deshalb als dritter Schritt den Prozeß von deren Interpretation ab. Sie ergänzt den entwicklungsgeschichtlichen bzw. systemimmanenten Schritt, indem sie zu den vergangenheits- bzw. gegenwartsorientierten Dimensionen eine zukunftsorientierte Dimension hinzufügt.
Eine solche vollständige Interpretation nenne ich ’Globalinterpretation’. Sie ist die einzige feste Grundlage für die Aktualisierung einer Philosophie der Vergangenheit und deswegen für deren Anwendung auf das ethisch-politische Leben der Gegenwart.
Sie besteht insgesamt aus drei aufeinanderfolgenden Schritten:
Erster Schritt: Durch die entwicklungsgeschichtliche Rekonstruktion der Entstehung der Philosophie wird untersucht, welche Bedeutung sie hat, d.h. welchen Zweck der Philosoph mit ihr erreichen wollte.
Zweiter Schritt: Durch die Überprüfung der immanenten Gedankenstruktur wird überprüft, ob die Hauptprinzipien des Systems, die diese Bedeutung beinhalten, in sich begründet sind und ob die von ihnen abgeleiteten Schlüsse lückenlos und stringent aufeinander folgen. Dabei soll außerdem besonders darauf geachtet werden, zwischen Begriffen, dei den Kern des Systems ausmachen, und Begriffen, die dagegen nur dessen Schale bilden, streng zu unterscheiden.
Dritter Schritt: Durch eine Umschreibung4) bzw. Wiederschreibung des Systems werden die eventuell beanstandeten Lücken geschlossen sowie die fehlerhaften bzw. nur historisch erklärbaren Schlüsse beseitigt und durch richtige Schlüsse ersetzt (Reinigungsoperation). Das auf diese Weise erneuerte System wird außerdem mit den neuesten, sicheren Ergebnissen der Einzelwissenschaften verglichen, um seine Standfestigkeit ihnen gegenüber zu überprüfen (Vervollständigungsoperation).
Am Ende dieses Prozesses müßte das System wiederbelebt und tauglich für den Einsatz in der Gegenwart gemacht worden sein. Dies bedeutet, daß dessen immanente Gedankenfolge nun imstande sein müßte, die Bedeutung des Systems auf eine begründete, logisch stringente und sich im Einklang mit dem neuesten Stand der Natur- und Geisteswissenschaften befindende Weise umzusetzen.
Allein eine solche Interpretation ist als ’Globalinterpretation’ zu betrachten und zu bezeichnen. Alle andere Interpretationsformen, die lediglich aus einem oder zwei von den aufgeführten Schritten bestehen, sind nur teilweise gültig und können nicht beanspruchen, den Rang einer ’globalen’ Interpretation zu haben. Sie sind einseitig und können deshalb Anspruch nur auf eine Teilgültigkeit erheben.
Die entwicklungsgeschichtliche Interpretation kann nur in bezug auf die Entstehung der Philosophie, also auf die Vergangenheit, aber nicht in bezug auf die systemimmanente Stringenz sowie auch nicht auf die künftige Anwendung des Systems Gültigkeit beanspruchen; die systemimmanente Interpretation kann nichts über die Bedeutung des Systems überhaupt sagen und auch in bezug auf die Zukunft ist sie sprachlos, sofern sie diese nicht mit beinhaltet; die aktualisierende Interpretation ist ohne Verwurzelung in der Entstehung des Systems und in dessen systemimmanente Überprüfung, also ohne geschichtlichen und systematischen Hintergrund, willkürliche Meinung des Interpreten. Diese Meinung kann eigentlich auch richtig sein, ihre Begründungs- und Überzeugungskraft ist aber sehr schwach, da sie ohne den ersten und den zweiten Interpretationsschritt über keine festen Wurzeln verfügt.
Die globale Interpretation wird durch zwei weitere Schritte vervollständigt, die eigentlich aber keine richtigen Forschungsschritte, sondern eher zwei Ergänzungen sind.
Die erste Ergänzung besteht darin, daß man eine Intuition hat, daß das System der Vergangenheit eine Geltung auch in der Gegenwart für die Lösung der aktuellen philosophischen Probleme haben könnte, bevor man mit dem Interpretationsprozeß überhaupt beginnt. Wenn man diese Intuition nicht hätte, würde es sich gar nicht lohnen, eine so umfangreiche, zeit- und kraftaufwendige Unternehmung durchzuführen. Selbstverständlich kommt diese Intuition chronologisch vor der Durchführung der globalen Interpretation einer Philosophie der Vergangenheit und bildet die unentbehrliche Voraussetzung dafür.
Nachdem die Ausgangsintuition durch die Durchführung der globalen Interpretation bestätigt worden ist5), müssen die praktischen Schritte durchgeführt werden, die zur Umsetzung der Philosophie in die Wirklichkeit führen. In der Tat ist es völlig unsinnig, eine globale Interpretation durchzuführen, ohne die auf diese Weise wiederbelebte und wieder tauglich gemachte Philosophie in das sowohl eigene als auch soziale Leben umzusetzen. Die ethische und politische Umsetzung der aktualisierten Philosophie der Vergangenheit in die Gegenwart ist also die zweite Ergänzung zu der globalen Interpretation. Als Bereitschaft dazu kommt sie chronologisch vor der globalen Interpretation und bildet deshalb eine wünschenswerte psychologische Voraussetzung dafür, während sie als praktische Umsetzung danach kommt.

 

Anmerkungen
1) Derart ist z.B. Hösles Vorhaben der Umsetzung von Hegels Programm, abgesehen von dessen Ausführung durch Hegel selbst. Diesbezüglich ist aber zu präzisieren, daß Hösle zu der Festlegung des Inhaltes dieses Programms ohne eine vorausgehende Erforschung von Hegels Denkentwicklung kommt. Es entsteht dabei deshalb die berechtigte Frage, ob der Gedankeninhalt, den Hösle als ’Hegels Programm’ bezeichnet, dem historischen Programm Hegels tatsächlich entspricht! Diese wichtige Frage kann hier leider nicht erörtert werden, soll aber innerhalb der philosophischen Richtung, die eine Aktualisierung von Hegels Philosophie anstrebt, irgendwann behandelt und gelöst werden. Welchen Sinn hat es in der Tat, eine Umsetzung von Hegels Programm anzustreben bzw. durchzuführen, wenn man nicht vorher entwicklungsgeschichtlich genau definiert, worin ein solches Programm eigentlich bestand?
2) Es sei mir an dieser Stelle erlaubt, auf Kants berühmte Unterscheidung nochmals zurückzugreifen, um die hier behandelte Unterscheidung zu verdeutlichen (s. Einfluß, S. 58).
3) Außerdem soll bei diesem dritten Schritt das System der Vergangenheit gereinigt und vervollständigt werden, wie es im Beitrag 9 dargestellt wurde.
4) Schild, 1992, S. 130: "Es muß deshalb jedenfalls gefragt werden, ob nicht auch die ’Enzyklopädie’ selbst in ihrem Aufbau umgeschrieben werden müßte" (in den vorhergehenden Seiten hatte Schild einige Gründe für eine Umschreibung der Rechtsphilosophie angegeben).
5) Es ist selbstverständlich genauso möglich, daß die Ausgangsintuition im Laufe der Durchführung der Globalinterpretation falsifiziert wird. In diesem Fall ist die Unternehmung aufzugeben. Dies bedeutet aber nicht, daß sie unnütz war. Andere Forscher werden von dem gescheiterten Versuch profitieren, indem sie diesen falschen Weg nicht gehen und ihre Kräfte in andere, erfolgsversprechendere Wege investieren werden.

 

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Ausblick
Grundlinien des Programms einer Aktualisierung
von Hegels Philosophie nach den Prinzipien der ’Globalinterpretation’

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Die in den Beiträgen 7 bis 10 durchgeführten Überlegungen dürften gezeigt haben:


- Erstens, dass es sehr lohnend wäre, eine Aktualisierung von Hegels Philosophie durchzuführen, die sein System für die Anwendung auf die Lösung der ethisch-politischen Hauptprobleme unserer Zeit tauglich machen könnte.
- Zweitens, dass eine solche Aktualisierung allein durch das Verfahren der Globalinterpretation auf eine wissenschaftlich fundierte Weise durchzuführen ist.

Es profiliert sich aus diesen Gedanken deshalb ein Forschungsprojekt, das in künftigen Studien des Autors voraussichtlich seine Umsetzung haben wird. Dieses Projekt, das sich als eine ’Globalinterpretation’ von Hegels System darstellen will,  wird sich in folgenden Schritten entfalten:


Erster Schritt: durch eine entwicklungsgeschichtliche Rekonstruktion der Entstehung von Hegels System soll der Frage nachgegangen werden, welche Bedeutung seine Philosophie überhaupt hat (1).


Zweiter Schritt: durch eine streng immanente Studie soll überprüft werden, ob es Hegel gelungen ist, diese Bedeutung in das eigene System richtig umzusetzen. Im positiven Falle  soll  außerdem die Ebene, die aus logisch  stringenten Schlüssen besteht, also der Kern des Systems, von der Ebene getrennt werden, die aus Schlüssen besteht, die Hegel nur aus psychologischen, soziologischen, historischen usw., aber nicht aus streng logischen Gründen gezogen hat (diese zweite Ebene soll als die Schale des Systems betrachtet werden). 

 

Dritter Schritt: Während die Schlüsse der zweiten Ebene aus dem System ausgemerzt  werden (Reinigungsoperation), soll auf der Grundlage des logisch stringenten  Gedankenrasters, der aus der Verkettung der Gedanken  der ersten Ebene von Hegels Philosophie besteht, ein neues System der Philosophie des absoluten Idealismus aufgebaut werden. Hegels Gedanken und Schlüsse sollen dabei durch weitere Gedanken und Schlüsse ergänzt und vervollständigt werden, die entweder sich in seinem System nicht explizit, sondern nur implizit befinden, oder von der Entwicklung der Einzelwissenschaften nach Hegels Tod erkannt wurden (Vervollständingungsoperation).


Durch diese drei Schritte dürfte die Aktualisierung von Hegels System vollendet sein. Dank dieser neuen Fassung der Philosophie des absoluten Idealismus dürfte es möglich sein, die Forderung nach Weisheit, die in Hegels Philosophie vorhanden ist, in eine streng philosophisch-wissenschaftliche Form einzubinden, die auch für heutige Verhältnisse Gültigkeit haben könnte. Es dürfte hiermit endlich die philosophische Vor-aussetzung dafür geschaffen worden sein, dass  das Erreichen einer weisen Lebensführung  nicht mehr den zufälligen psychologischen Merkmalen einzelner Menschen überlassen bleibt, sondern diese unentbehrliche Eigenschaft für ein echt würdiges Menschenleben durch philosophische Erziehung der jungen Generationen in allen Menschen gefördert wird.
Um dieses philosophische Projekt erfolgreich durchzuführen, werden wohl die notwendigerweise begrenzten Kräfte eines einzelnen Menschen nicht ausreichen. Dazu kommt, dass  es sich um ein Projekt handelt, das in den Einzelheiten keine endgültige Vollendung haben wird, solange die Entwicklung der einzelnen Wissenschaften ständig wächst und deshalb weitere Vervollständigungen notwendig macht.
Es entsteht deshalb das Bedürfnis, dass sich die Hegelianer, also die Philosophen, die in ihrer Denk- und Lebensweise den Hauptprinzipien von Hegels  Philosophie folgen, in einem Bündnis zusammenschließen, das als Ziel die (ständige) Aktualisierung dieser Philosophie sowie deren Umsetzung in das ethisch-politische Leben haben soll.
Es soll diesbezüglich präzisiert werden, dass es bei diesem Bündnis nicht nur um die Erforschung von Hegels Philosophie - wie etwa bei der Internationalen Hegel-Vereinigung - gehen soll. Forscher also, die an Hegels Philosophie nur ’historisch’ interessiert sind, ohne derer Hauptprinzipien als wahr anzuerkennen, sollten diesem Bündnis nicht beitreten (2).
Wofür sich ein solches Bündnis engagieren soll, ist vor allem die Aktualisierung und die Anwendung von Hegels Philosophie. Eine unentbehrliche Voraussetzung dafür ist aber, dass man sich im Großen und Ganzen als Hegelianer bzw. als absolut-idealistischer Philosoph erkennt.
Dieses Bündnis würde also wohl für die Förderung dee Erforschung von Hegels Philosophie eintreten, wie das Programm der Internationalen Hegel-Vereinigung verkündet, nicht aber ohne Farbe zu bekennen.
Die Zusammenarbeit in diesem Bündnis von Philosophen, die ihre Denk- und Lebensweise nach den Prinzipien von Hegels Philosophie richten, soll durch die wissenschaftliche Aktualisierung dieser Philosophie auf deren Durchsetzung als ’anerkannte absolute Philosophie’ bei der internationalen Forschungsgemeinschaft gerichtet sein.
Die Teilnahme an diesem Bündnis von Philosophen, die Hegelianer sind, aber ihre philosophische Arbeit in verschiedenen Forschungsgebieten ausüben (wie z.B. bei Wandschneider in Bezug auf die Naturphilosophie und Schild in Bezug auf die Rechtsphilosophie der Fall sein könnte), könnte nicht nur für die einzelnen, daran  beteiligten Forscher, sondern für das ganze Projekt im allgemeinen von immensem Vorteil sein, und zwar vor allem, wenn es zu einer koordinierten Zusammenarbeit unter ihnen kommen würde. 
Wenn in den eigenen Forschungsgebieten anerkannte Philosophen für ein gleiches Ziel auftreten würden, würde dies in der Tat eine viel größere Überzeugungs- und deshalb Durchsetzungskraft bei der internationalen Forschungsgemein-schaft haben, als wenn jeder dies in der eigenen Einzelzelle tut.
Die Gründung eines solchen Bündnisses könnte vielleicht die Voraussetzung  für die Einbringung von Weisheit in die Weltgemeinschaft und dadurch für die Beschaffung der unentbehrlichen philosophischen Voraussetzungen für die Lösung der großen Probleme unserer Zeit sein, also solcher Probleme wie Umweltzerstörung, Weltbevölkerungsexplosion usw., die der Menschheit in der nächsten Zukunft drohen und deshalb die Lebensgefühle der jüngeren Generationen bedrücken.
Das Hauptziel dieses Bündnisses sollte deshalb nicht nur in der Theorie,  sondern auch in der Praxis liegen, und zwar indem man auf der Basis einer gemeinsam erarbeiteten,  aktualisierten Fassung der Philosophie des  absoluten Idealismus, eine neue politische Theorie  aufstellt, die sich das weitere Fernziel setzen müsste, die politische Organisation der Weltgemeinschaft nach den Prinzipien der Philosophie des absoluten Idealismus umzuformen. Dadurch sollte ermöglicht werden, dass die Förderung von Weisheit in den Menschen und vor allem in den jungen Menschen nicht ein leeres, schön klingendes Programm bleibt, sondern eine wirkliche Umsetzung findet.
Auf diese Art könnte die Philosophie des absoluten Idealismus in das Leben der Menschen endlich eingreifen. Dabei könnten  der offenbarte Wunsch und das stille Programm fortgeführt werden, die Hegel im schon zitierten  Brief an Schelling von 2.11.1800 äußerte (3):


“[...] ich frage mich jetzt, [...], welche Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen zu finden ist.“


Dieses Bestreben Hegels sollte  wie ein Leuchtfeuer unserer Interpretation seiner Philosophie immer die sichere Orientierung geben.

Anmerkungen
1) Der erste Zug dieses Schrittes ist teilweise schon in dem ersten Teil von Einfluß durchgeführt worden. Hier habe ich Hegels Geistesentwicklung von der Stuttgarter (ab 1785) bis zum Anfang der Berner Zeit (1794) streng entwicklungsgeschichtlich rekonstruiert, während die weiteren Jahre bis zur Entstehung des Systems (1795-1806) von mir schon in meiner italienischen Magisterarbeit ansatzweise behandelt wurden. In der Durchführung dieses ersten Schritts werde ich deshalb die Zeit 1785 bis 1794 nicht mehr streng entwicklungsgeschichtlich behandeln und bei der Untersuchung der Zeit 1795-1806 werde ich die Ansätze meiner italienischen Magisterarbeit auf eine detaillierte Weise entwickeln und vertiefen.
2) Nicht zu reden von denen, die sich nicht nur in Hegels Prinzipien nicht erkennen, sondern sogar gegen solche Prinzipien sind. Dem heutigen Skandal, dass solche nicht nur Nichthegelianer, sondern sogar Antihegelianer, wichtige Stellen in zentralen Stätten der Hegelforschung einnehmen, mit den katastrophalen Folgen für die Hegelforschung, die man sich einfach vorstellen kann, sollte endlich ein Ende gesetzt werden!
3) Siehe den Beitrag 7, S. 139.

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