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1.3.2 ZWEITES STADIUM: FESTSETZUNG DER HAUPTMERKMALE DER NEUE VOLKSRELIGION

1.3.2 ZWEITES STADIUM: FESTSETZUNG DER HAUPTMERKMALE DER NEUE VOLKSRELIGION

 

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1.3.2.0

ZWEITES STADIUM 

 

Festsetzung der Hauptmerkmale 
der neuen Volksreligion

 

(Herbst / Winter 1792/93 - Sommer 1793)

Hauptquellen: Text 16

Etwa zwischen Ende 1792 und Anfang 1793 beginnt Hegel mit der Festsetzung der grundlegenden Merkmale der Volksreligion, die geeignet ist, die Religion vor der Kritik des Intellekts zu retten. Er kommt zum Ergebnis über drei verschiedene Entwicklungsstufen, die jeweils durch einen Schritt gekennzeichnet sind, den er bei der Bestimmung des Begriffs der Volksreligion unternimmt.

Die erste Stufe, etwa Herbst/Winter 1792/93, besteht aus der Ausarbeitung des Begriffs der Volksreligion als "Religion des Herzens" (oder "subjektive Religion"). Hegel stellt einer solchen Religion, die einzig und allein auf der natürlichen Güte des Menschen beruht und an die er, Rousseau treu folgend, immer noch glaubt, die Theologie (oder "objektive Religion") gegenüber, die ein kalter Ausdruck des Verstandes ist und keinen positiven Einfluss auf das moralische Verhalten des Menschen ausüben kann.

Die zweite Stufe, vom Winter 1792/93 bis zum 1. Mai 1793, ist durch eine Krise des Denkens gekennzeichnet, in der sich der junge Mann nach der Lektüre und Rezeption der von Kant im ersten Kapitel der Religionsschrift geäußerten anthropologischen Konzeption befindet. Darin hatte Kant nämlich klargestellt, dass in der menschlichen Natur sowohl die Veranlagung zum Guten als auch zum Bösen vorhanden ist und dass die Aufgabe der Religion daher darin besteht, den Menschen dazu zu bringen, der ersten Veranlagung zu folgen und die zweite folglich zurückzuweisen. Hegel zeigt in den Texten dieser Phase (der zweiten und dritten Tübinger Predigt), dass er diese kantische Lehre aufgenommen, sich zu eigen gemacht und damit die Auffassung der "Religion des Herzens" der vorangegangenen Phase überwunden hat.

Die dritte Stufe schließlich (vom 1. Mai 1793 bis zum Sommer desselben Jahres) besteht in der Aneignung der philosophisch-religiösen Auffassung, die im zweiten und vor allem im dritten Kapitel der Kantschen Schriften enthalten ist. Hegel offenbart nämlich in den Fragmenten, die zu dieser Klasse gehören, und insbesondere in dem Bogen ’h’ von Text 16, dass er die kantische Lehre von der wahren Religion als Vernunftreligion vollständig verinnerlicht hat und sie teilt.[1]

Damit zeigt der junge Denker, dass er seine ursprüngliche Vorstellung vom Herzen als Fundament der Religion endgültig aufgegeben und die kantische Lehre verstanden hat, dass nämlich nur die Vernunft das geeignete Fundament für die Gründung einer wahren, also absoluten und universellen Religion sein kann. Damit ging er von der Auffassung der Religion als "Sache des Herzens" zur Religion als "Sache der Vernunft" über.

Philologische Situation der Quellen ihre Datierung

Die Blätter "a" bis "g" des Manuskripts, die dem Text 16 entsprechen, enthalten Hegels ursprüngliche Auffassung der Volksreligion. Auf der Grundlage der sehr umfangreichen und informativen Anmerkungen der Herausgeber des ersten Bandes der Gesammelten Werke ist es möglich, eine genaue Analyse dieses Textes vorzunehmen. Aus diesen Anmerkungen wird deutlich, dass es sich bei dem so genannten "Tübinger Fragment", also dem Text 16 von GW 1, nicht um einen einzigen Text handelt, sondern um eine Sammlung verschiedener Texte, die Hegel zu verschiedenen Zeiten verfasst und dann später zu einem thematisch homogenen Text zusammengefügt hat.

Vor allem die Zäsur bei 99,28-29 von GW 1 ist wichtig, da sie die Wasserscheide zwischen zwei Textgruppen darstellt, die sich durch ein völlig unterschiedliches Verständnis von "Volksreligion" voneinander unterscheiden.

Die Texte, die vor dieser Zäsur stehen, enthalten nämlich eine Auffassung der Volksreligion als "Sache des Herzens", während die Texte, die nach dieser Zäsur stehen, die Auffassung der "Volksreligion" als "Vernunftreligion", als "Sache der Vernunft" präsentieren.

Ein solch detailliertes Verständnis des Textes war daher nur durch die äußerst genaue philologische Arbeit der Herausgeber des ersten Bandes der Gesamtwerke möglich. Wenden wir uns nun der Analyse dieser einzelnen Entwicklungsstufen zu.

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1.3.2.1

ERSTE STUFE

Volksreligion als „Sache des Herzens“

Zeitlicher Rahmen: Herbst / Winter 1792/93
Hauptquellen: Bögen a-g von Text 16

Auf Grund  der sehr ausführlichen und aufschlussreichen Anmerkungen  sowie des editorischen Berichts der Herausgeber von GW 1 ist es endlich möglich,  eine genaue Untersuchung des Textes 16 durchzuführen. Durch diese  Anmerkungen erfahren wir, dass das sogenannte Tübinger Fragment, das  als Text 16 in GW 1 veröffentlicht ist, nicht ein einziger Text ist, sondern  mehrere, von Hegel selbst zusammengeordnete Texte enthält.[2] In der  Einführung zu diesem Stadium ist darüber schon ausführlich berichtet  worden. Hier ist nur noch einmal zu unterstreichen, dass vor allem die  Zäsur bei Textstelle 99,28-29 wichtig ist, weil diese zwei Gruppen von  Texten trennt, die sich voneinander durch eine völlig andere Auffassung  der Volksreligion unterscheiden. Die Texte, die sich vor dieser Zäsur  befinden, enthalten die Auffassung von einer Volksreligion als „Religion  des Herzens“, und die nach dieser Zäsur die Auffassung von der  Volksreligion als „Vernunftreligion“.

Wir werden hier die Auffassung der ersten Textgruppe (von Bogen a  bis g) vertiefen, also die Auffassung von der Religion des Herzens, die  den Hauptinhalt von Hegels geistigen Fortschritten dieser Stufe bildet. Wenn man die verschiedenen Bögen bzw. Lagen, die diesen Text bilden, einzeln untersucht, kommt man zu dem Ergebnis, dass sich sehr  genau begrenzte einzelne Denkschritte unterscheiden lassen, in denen  er seine Auffassung der Volksreligion ausgearbeitet hat.  Diese Fortschritte können genau voneinander unterschieden werden.

Bogen ’a’
(GW 1: 83.1 bis 85.13)

Hier befindet sich  eine Einführung in die  gesamte Problematik. Hegel beginnt mit einer Rechtfertigung seines Themas, d.h. er erklärt die Wichtigkeit der Religion in dem Leben des  Menschen:

"Religion ist eine der wichtigsten Angelegenheiten unseres Lebens [...]"

(GW 1, 83, 1)

Wenn wir an die Kritik der Religion denken, die von Diez im Stift geübt worden war,[3] können wir feststellen, dass diese ersten  Worte eine klare Stellungnahme gegen diese Position darstellen.

Der junge Philosoph begründet diese Wichtigkeit der Religion mit der Tatsache, dass  es in der „Natur des Menschen“  ein „natürliches Bedürfniß“ danach gibt,[4] so dass die Religion, und vor allem „was in der Lehre von Gott  praktisch ist“,  einen sehr empfänglichen Nährboden in dem „un-verdorbenen MenschenSinne“ findet. 

Nachdem Hegel die Zentralstellung der Religion in dem Leben des  Menschen festgestellt hat, erklärt er weiter, dass es notwendig ist,  methodisch einfühlsam vorzugehen, wenn man dieses Thema erfolgreich  behandeln will, d.h. wenn man wirklich Einfluss auf die Moralität der  Menschen ausben möchte: man darf nie vergessen, dass die

„[...] Sinnlichkeit das HauptElement bei allem Handeln und Streben der Menschen ist“ (GW 1, 84, 16-17).[5]

Die Natur der Menschen“, führt er fort,

 „… ist mit den Ideen der Vernunft gleichsam nur geschwängert“

und er vergleicht deren Einfluss mit dem  Salz in einem Gericht, das dieses prägt, ohne selbst aber darin  erkennbar zu sein.

Was Hegel damit sagen möchte, ist,  dass  die Moral,  die auf vernünftigen Prinzipien ruht, nur Einfluss auf die Menschen üben  kann, indem sie deren Sinnlichkeit prägt. Die Moral, um erfolgreich zu  sein, soll also die Sinnlichkeit des Menschen so umwandeln, dass diese  selbst moralisch wird. Wenn das geschieht, dann handelt der Mensch  weiter aus sinnlichem Antrieb, weil er nicht anders leben kann; da aber  die Sinnlichkeit von der Religion „moralisiert“ worden ist, handelt er  indirekt auch moralisch. 

Bogen ’b’
(GW 1: 85.14 bis 87.15)

An diesen Gedanke der Sinnlichkeit als  Hauptmotiv des menschlichen Handelns knüpft der Anfang des zweiten  Bogens an. Nachdem Hegel durch die Sprache Fichtes betont hat, dass die  Religion nicht als bloße Wissenschaft von Gott Geltung gewinnt, sondern  allein, indem sie „das Herz interessirt“, da sie die „Beweggründen“ der  Moralität liefert, stellt Hegel fest, dass die Religion „sinnlich“ sein soll, 

„[...] um auf die Sinnlichkeit wirken zu können“ (GW 1, 86, 2).

Es handelt sich um einen wichtigen Gedanken, der im Laufe der Entwicklung in diesen Jahren nicht verloren gehen, sondern einen festen Bestandteil von Hegels religiösem Ideal bilden wird. In  diesen ersten zwei Bögen handelt es sich um eine erste Systematisierung von Hegels  Überlegungen über den Begriff „Volksreligion“.  Dabei versucht Hegel, die Auffassung von einer Volksreligion auszuarbeiten, die einen wirklichen Erfolg beim Volk haben kann. Mit diesem Ziel  versucht er die Hauptmerkmale festzusetzen, die zu diesem Erfolg  unentbehrlich sind. In Bogen b ist dies das Hauptmerkmal der  „Sinnlichkeit“, und mit dieser Festsetzung endet dieser Bogen).[6]

Bogen ’c’
(GW 1: 87.16 bis 90.25)

Dieser Bogen bildet den Kern  der ersten  Gruppe von Texten. Hier behandelt Hegel explizit das Thema „Auseinandersezung des Unterschieds zwischen objektiver und subjektiver  Religion; Wichtigkeit dieser Auseinandersezung in Ansehung der ganzen  Frage“ (GW 1, S. 87, 16-17) und macht schon in der Überschrift klar, dass  es sich dabei um ein wichtiges Thema in Bezug auf die Festsetzung des  Begriffs „Volksreligion“ handelt (auch Hegels Versuch, zu bestimmen,  welcher der „Hauptpunkt einer Volksreligion“ ist, wie es im Bogen b zu  lesen ist, gilt als deutliches Zeichen dafür, dass sich Hegel in diesen  Bögen mit einer einzigen Hauptfrage beschäftigt, und zwar mit der von  der Festsetzung des Begriffs von Volksreligion).

Hegel stellt zuerst den Begriff der objektiven Religion (S. 87,18 bis  89,15) und dann den der subjektiven Religion (S. 89,16 bis 90,2) dar. In  dieser Darstellung bleibt Hegel nicht unparteiisch, sondern spricht sich  eindeutig fr die subjektive Religion aus, die lebendig, und gegen die  objektive, die etwas Totes sei. Seine Schlüsse befinden sich im  letzten Absatz dieses Bogens, in dem er seine Absicht explizite erklärt:

„Meine Absicht ist nicht, zu untersuchen, welche religiöse Lehre am meisten Interesse fürs Herz haben, [...], sondern was für An­stalten dazu gehören, daß die Lehren und die Kraft der Religion in das gewebe der menschlichen Empfindungen eingemischt, ihren Triebfedern zu handeln beigesellt, und sich in ihnen lebendig und wirksam erweise - daß sie ganz subjektiv werde - wenn sie das ist - so äussert sie ihr Daseyn nicht blos durch Händefalten, [...], sondern sie ver­breitet sich auf alle Zweige der menschli­chen Neigungen (ohne daß die Seele gerade es sich bewust ist) und wirkt überall - aber nur mittelbar mit - sie wirkt, um mich so auszudrücken, negativ, bei dem frohen Ge­nus menschlicher Freude - [...], wenn sie auch nicht unmittelbar einwirkt, so hat sie doch den feinern Einfluß, daß sie die Seele wenigstens frei und offen dabei fortwirken läst,[...]-”

(GW 1, S. 90, 3-25)

Diese besteht also darin,  zu untersuchen, wie die Religion subjektiv  werden kann („was für Anstalten dazu gehören, [...] dass sie ganz subjektiv werde“). Somit hat er ein weiteres Hauptmerkmal der Volksreligion  festgesetzt:  die Subjektivität. Es ist diesbezüglich  interessant zu  bemerken, dass Hegel am Anfang von Text 12, wo er sich auf Fichte in  Bezug auf diese Frage der Subjektivität bzw. Objektivität der Religion  ausdrücklich bezieht, noch im Unklaren darüber ist, welche von diesen  beiden die bessere Form von Religion ist. Das zeigt, dass er bei der  Niederschrift von Text 12 Fichtes Schrift schon gelesen, aber sich deren  Schlüsse noch nicht angeeignet hat, was dagegen bei der Abfassung von  Bogen c von Text 16 schon geschehen ist. Dies alles deutet darauf hin,  dass Hegel zwischen dem ersten Kontakt mit einer anspruchsvollen  philosophischen Schrift und deren Aneignung schon einige Zeit brauchte.  Das ist ein zusätzliches Argument zur Unterstützung der in dieser Studie  vorgeschlagene These des zeitlichen Abstandes zwischen den Texten  dieser Jahre sowie zwischen den zwei Bögengruppen von Text 16.

Bogen ’d’
(GW 1: 90.26 bis 93.27)

Dieser Bogen ist deshalb von Wichtigkeit,  weil Hegel hier die Schlüsse aus den  Überlegungen zieht, die er in den vorigen Bögen[7] angestellt hat.

Im Anschluss an die Darstellung des  Unterschieds zwischen subjektiver und objektiver Religion stellt er an  den  Anfang dieses Bogens den zentralen Begriff, der seine Auffassung  der Volksreligion auf dieser ersten Stufe kennzeichnet: Er unterscheidet  hier wieder zwischen Theologie und Religion und ergänzt diese Unterscheidung durch die wichtige Feststellung, dass die Theologie „Sache des  Verstandes“ sei, während die Religion „Sache des Herzens“ ist.

„Wenn Theologie Sache des Verstands und des Gedächtnisses ist [...] Religion aber Sache des Herzens [...]“ (GW 1, 90, 26-28).

In den  unmittelbar folgenden Zeilen stellt Hegel auf eine genaue Weise diese  Definition von Religion dar, und dabei benützt er eine Gedankenstruktur,  die eindeutig auf Fichtes Offenbarungsschrift zurückweist.

Die Bezeichnung der Volksreligion als „Sache des Herzens“ fasst also  alle Hauptmerkmale der Volksreligion zusammen, die Hegel bis zu diesem  Zeitpunkt, vor allem auf Grund der Offenbarungsschrift, festsetzen  konnte. Dieser Ausdruck befindet sich noch an zwei anderen Stellen dieser Textgruppe (danach findet er sich nicht mehr), und zwar an  folgenden: 92,8 von Bogen d und, schon zum Bogen g gehörend, 96,28. Ab  dem Bogen h, unter deutlichem Einfluss von Kants Religionsschrift, wird  „Sache des Herzens“ durch den Ausdruck „Vernunftreligion“ ersetzt.[8]

Der Rest von Bogen d (S. 91-93) enthält eine Apologie  des Herzens  anhand von Lessings Nathan. Dem Herzen wird hier der Verstand  gegenübergestellt, der unfähig ist, die Grundlage von Moralität zu sein.

Bogen ‚f’[9] 
(GW 1: 94.1 bis 96.24)

Dieser Bogen enthält Hegels Abrechnung  mit dem Verstand und mit der Aufklärung. Damit meinte er vor allem die  Haltung, die dem Menschen eine Moral verschreiben will, die nur aus  „kalten“ Prinzipien besteht, ohne Rücksicht zu nehmen auf die Sinnlichkeit  des Menschen (s. das am Anfang von Bogen a angegebene Beispiel von  der Wirkung des Salzes auf ein Gericht).

Hegels Kritik war insbesondere gegen Campe gerichtet.[10] Sein Hauptkritik ist, dass der Verstand nur dazu dienen kann, die  Wahrheiten der objektiven Religion zu klären, aber völlig unfähig ist,  diese Wahrheiten in ein praktisches, moralisches Verhalten umzusetzen: Er  kann also keine Hilfe leisten, wenn es um die subjektive Religion geht.

„Aufklärung des Verstandes macht zwar klüger, aber nicht besser“ (GW 1, 94, 12).

Der zentrale Teil von diesem Bogen ist besonders wichtig, weil darin  wörtlich  zum Ausdruck kommt, mit welcher Frage sich Hegel in diesen Texten beschäftigt und wovon die Rede an Stelle 87,17 ist. Es handelt sich  um die Frage der Aufklärung des Volkes
 

„Wenn man davon spricht: man kläre ein Volk auf [...]“ (GW 1, 95, 1).

In Bezug auf diese Frage, die nichts anderes ist als die Wiederaufnahme der Frage der „Aufklärung des gemeinen Mannes“, kommt er zu folgendem Schluss:

"[...] da es unmöglich ist, daß eine Religion, die allgemein fürs Volk seyn soll, aus allgemeinen Wahrheiten bestehen kan, zu jeder Zeit nur ausgezeichnetere Menschen gekommen sind [...] - und also immer theils Zusäze beigemischt müssen, die blos auf Treu und Glauben angenommen werden müssen - oder daß die reinern Säze vergröbert in eine sinnlichere Hülle gestekt werden, wenn sie verstanden werden und der Sinnlichkeit annehmlich seyn solliglen, [...] ] - wenn ihre Lehren in Leben und That wirksam seyn sollen - unmöglich auf blosse Vernunft gebaut seyn können."

(GW 1, 96, 5-16).

 

Mit  diesem klaren Schluss, der sowohl die gestellte Frage (die Aufklärung des  Volkes) als auch deren Lösung zum Zeitpunkt der Fassung dieses Bogens  (die Volksreligion als „Sache des Herzens“) formuliert, wird der Bogen ‚f‘  abgeschlossen.

Bogen ’g’
(GW 1: 96.25 bis 99.28)

Dieser Bogen beginnt  mit der gleichen  Frage, die auch dem Bogen f zugrunde liegt.

„Wie Religion überhaupt eine Sache des Herzens ist, so könnte es eine Frage seyn, wie weit sich Räsonnement einmischen darf, um Religion zu bleiben“.

(GW 1, 96, 28-29)

Der zentrale Teil von diesem Bogen enthält einen Vergleich zwischen Aufklärung und Weisheit. 

“Etwas anderes als Aufklärung, als Räsonnement ist Weisheit” (GW 1, p. 97,8-9).

Die Aufklärung scheidet auch aus diesem Vergleich selbstverständlich als Verlierer aus; gegen sie übt Hegel die gleiche Kritik wie im  Bogen f. Die  Weisheit dagegen wird von ihm in direkter Verbindung zum Herzen  gesehen.

"Aber Weisheit ist nicht Wissenschaft - Weisheit ist eine Erhebung der Seele [...] sie räsonnirt wenig [...] sie hat ihre Überzeugungen nicht auf dem allgemeinen Markt eingekauft, [...] sondern spricht aus der Fülle des Herzens" (GW 1, 97, 8-19).

Nach einem zusätzlichen, zornigen Angriff gegen Campe, gegen „das  Kampische Lineal“, die Aufklärung, sowie gegen  die damaligen „vollgeschriebenen Zeiten“, deren Buchgelehrsamkeit und den von ihnen erzeugten „BuchstabenMenschen“,

 

„[...] der hat nicht selbst und gelebt" (GW 1, 99, 18-19)

wird dieser Bogen von Hegel schließlich mit dem schönen,  beruhigenden und hoffnungstragenden Bild der Religion abgeschlossen, die  dem Menschen „sein kleines Häuschen“ bauen helfen soll,

 [...] das der Mensch alsdenn sein eigen nennen kan [...]".[11]

 (GW 1, 99, 27-28)

Auf diesen wichtigen Seiten, auf denen Hegels subjektive, ja leidenschaftliche Anteilnahme an der religiösen Frage deutlich wird, durfte der Bezug zu Lessings "Nathan" und insbesondere zu der Stelle, auf die der junge schwäbische Denker schon in seiner Stuttgarter Zeit sein Verständnis des Griechentums gestützt hatte, nicht fehlen:

„Und von vielen Dingen könnte ich dir erzählen

wie, wo, warum habe ich sie gelernt"

(GW 1, 99.25-26)

Das eigene Wissen, die eigene Spiritualität von innen heraus geschaffen zu haben, sie also nicht von außen (vom Markt) erhalten zu haben, ist für den jungen Hegel das grundlegende Merkmal der Weisheit, also der wahren Aufklärung. So wird es auch für den reifen Hegel sein.

Exkurs: Fichtes Offenbarungsschrift als Hintergrund von Hegels Auffassung der  Religion als „Sache des Herzens“ 

Dieser ersten Stufe von Hegels Festsetzung des Begriffs der Volksreligion  liegt offensichtlich ein Teil von Kants Auffassung der praktischen  Vernunft und insbesondere die Theorie der Postulate  zugrunde sowie deren Anwendung auf den Begriff der Religion, wie Hegel sie durch die  Schrift von Fichte rezipierte. In der Tat scheint es sehr unwahrscheinlich, dass Hegel diese Auffassung direkt von Kant übernommen hat.  Dies ist dadurch dokumentiert, dass er sich in dem Text 12 explizit auf  Fichtes Schrift bezieht. Außerdem weisen mehrere Textstellen in den  Bögen a-g von Text 16 sowohl sprachlich als auch gedanklich unmittelbar  auf die Lektüre der „Critik aller Offenbarung“ hin.  Die Interpretation, dass  er den Inhalt von Kants moralischer Auffassung nur indirekt durch  Fichte gekannt hat, scheint deshalb am sinnvollsten. Dies dürfte aber  nicht entscheidend sein, da sich in Fichtes Schrift eine vollständige Zusammenfassung derjenigen Hauptgedanken von Kants Schrift befindet, die  in einem engen Zusammenhang mit der religiösen Problematik stehen.  In  der Tat hat Hegel die Anregung zur Auseinandersetzung mit den Gedanken, die um den Begriff „praktische Vernunft“ kreisen, von Fichtes Anwendung dieser Gedanken auf die Religionsproblematik offensichtlich  eher als direkt von Kant bekommen. Es ist also sowohl aus dokumentarischen als auch aus inhaltlichen Gründen dieser Spur von Fichtes  Offenbarungsschrift als der Hauptspur zu folgen, wenn man die  Gedanken rekonstruieren will, die hinter Hegels  Überlegungen über die  Religion in den Bögen a-g von Text 16 stehen.

Die Ziele, die Fichte im Verlauf seiner Schrift verfolgt, sind: 

- erstens, die Gründe zu bestimmen, weshalb eine Offenbarung überhaupt  notwendig ist. Diese Thematik  wird von ihm als „Deduction des Begriffs  der Offenbarung“[14] bezeichnet und in den Paragraphen 3 bis 7  behandelt; 

- zweitens, die Kriterien festzulegen, nach denen es zu unterscheiden ist, ob  es sich wirklich um eine göttliche Offenbarung handelt. Diese zweite  Frage wird von ihm in den Paragraphen 8 bis 12 behandelt. 

Die ersten Paragraphen (1 Einleitung und  2  Deduction des Begriffs  der Religion überhaupt) dienen insgesamt als Einleitung zu seiner eigenen  Problematik und enthalten eine Darstellung von Kants Theorie der Postulate sowie ihre Anwendung auf die Religionsproblematik. Der letzte  Paragraph (13) enthält die Schlüsse.

Wenn wir diese Hauptthemen  von Fichtes Schrift mit Hegels Texten  vergleichen, muss festgestellt werden, dass die Schlüsse, zu denen Fichte  kommt, sowie auch die Hauptfrage der Rechtfertigung bzw. „Deduction“ des  Begriffs der Offenbarung, die er sich stellt, keinen Niederschlag bei Hegel finden. Grund dafür ist, dass Hegel von dieser Frage gar nicht bewegt  war und deswegen auch die Schlüsse, zu denen Fichte kommt, für ihn  uninteressant gewesen sind.

Er war vielmehr von der Frage der Festsetzung der Hauptmerkmale der Religion als Volksreligion und des Verständnisses von ihrer Stellung  im menschlichen Leben bewegt. Es liegt auf der Hand, dass die Teile, die  für ihn besonders interessant waren, die ersten Paragraphen und  insbesondere der zweite waren, wo Fichte sich mit dem Begriff der  Religion im allgemeinen beschäftigt, bevor er dann ab dem dritten Paragraphen mit der Deduktion der Offenbarung beginnt. Dieser zweite  Paragraph muß sehr wichtig für Hegel gewesen sein, weil sich darin eine  Deduktion, also eine Rechtfertigung der Religion im Allgemeinen befindet,  wie die Überschrift lautet. Dies ist genau das Thema, womit sich Hegel in  dieser Zeit hauptsächlich beschäftigte. Nicht zufällig bezieht er sich am  Anfang von Text 12 explizit auf die Einleitung zur Offenbarungsschrift,  worunter er nicht nur den ersten Paragraphen verstand, der mit  “Einleitung“ bezeichnet ist und nur aus einer knappen Seite besteht,  sondern auch den zweiten Paragraphen, die „Deduction der Religion überhaupt.“[15]

Im Folgenden werden wir diese Gedanken, die Hegel direkt von Fichte  rezipiert hat, aufstellen. Dabei werde ich versuchen, sowohl die  Reihenfolge einzuhalten, in der  sich diese Gedanken bei Fichte finden,  als auch die systematische Ordnung, die sie bei Fichte und auch bei  Hegel besitzen.

Unserer Aufstellung legen wir die erste (erschienen: Ostermesse 1792)  und nicht die zweite Ausgabe (Frühling 1793) der Offenbarungsschrift  zugrunde. Grund dafür ist, dass die Rekonstruktion von Hegels Entwicklung in der Tübinger Zeit und vor allem die zum ersten Mal in  vorliegender Studie ans Licht gebrachte Spaltung im Text 16 eine „zeitliche Nachbarschaft“[16]  mit der 2. Auflage sehr unwahrscheinlich machen,  die sich nur über einige Wochen erstreckt.

Die verschiedenen Stadien und  Stufen, die sich in Hegels geistiger Entwicklung auf Grund der  erhaltenen Texte erkennen lassen, zwingen den Interpreten, einen  zeitlichen Abstand von einigen Monaten zwischen diesen Texten anzunehmen. Wenn angenommen wird, dass Hegel die Offenbarungsschrift gleich in  der zweiten Ausgabe gelesen hat, wie es im editorischen Bericht von GW 1  heißt, würde der Einfluss dieser Schrift auf ihn in die Zeit der Abfassung  der 3. Predigt (1.5.1793) und kurz vor der Abfassung der 4. Predigt  (16.6.1793) fallen. Diese Predigten weisen aber schon deutlich die  Rezeption von Kants Religionsschrift auf, was außerdem von den Herausgebern von GW 1 selbst deutlich gemacht wird. Da die Gedankenstruktur,  die diesen Predigten sowie den Bögen h-l vom Text 16, die auch unter  den Einfluss Kants stehen, zugrunde liegt, ganz anders ist als die von  Fichtes Offenbarungsschrift und vor allem als die von den unter dem  Einfluss von Fichte verfassten Bögen a-g, hätte Hegel in den wenigen  Wochen zwischen der Veröffentlichung von der zweiten Ausgabe (Jubilate,  also gegen April 1793)[17] und dem 1.Mai bzw. spätestens dem 16.Juni  folgendes Pensum bewältigen müssen:  

- Fichtes Schrift lesen, rezipieren und auf seine Problematik der Volksreligion anwenden;  

- die Texte 12 bis 16 (bis Bogen g) verfassen; 

- Kants Religionsschrift lesen, rezipieren und auf die eigene Problematik  anwenden. 

Da die Auffassungen der Volksreligion in den Bögen a-g bzw. h-l von  Text 16 völlig verschieden sind, hätte Hegel, ohne eine Zeitspanne des  Überdenkens zu benötigen, die erste Auffassung unmittelbar nach der  Niederschrift durch die zweite ersetzt haben müssen. Dies aber erscheint  unmöglich.

Außer den oben dargelegten Gründen gibt es noch einen Grund, der die Theorie der „zeitlichen Nachbarschaft“ unter den erhaltenen Texten  aus der Tübinger Zeit sehr unwahrscheinlich macht: Hegels  Überlegungen  im Text 12 sowie in den Bögen a-g von Text 16 knüpfen direkt an die  ersten zwei Paragraphen der Offenbarungsschrift an, auf die sich Hegel  im Text 12 ausdrücklich bezieht. Außerdem finden sich mehrere ähnliche  Textstellen, die deutlich machen, dass Fichtes Schrift die Grundlage für  Hegels  Überlegungen bei der Abfassung dieser Texte gewesen ist. Der  Paragraph „Theorie des Willens, als Vorbereitung einer Deduction der Religion überhaupt“, der in der zweiten Ausgabe den zweiten Paragraphen bildet und deswegen, nach Hegels Interpretation,  zur Einleitung gehört, auf  die er sich ausdrücklich bezieht, zeigt keine Verwandtschaft mit Hegels  Texten, und die Begriffe, die hier vorkommen, finden sich weder in  der  gedanklichen Reihenfolge des zweiten Paragraphen der ersten Ausgabe,  noch in den Texten Hegels.

Aus allen diesen Gründen scheint deshalb sehr unwahrscheinlich, dass  Hegel Fichtes Schrift erst im Frühling 1793 gelesen und rezipiert haben  sollte. Der von den Herausgebern von GW 1 zur Unterstützung ihrer Interpretation angegebene dokumentarische Grund, dass sich Hegel in dem  gegen April 1795[18] entstandenen Text 28  auf die zweite Ausgabe  nachweislich bezieht,[19] ist nicht entscheidend, da es fast selbstverständlich scheint, dass Hegel zuerst die erste Ausgabe gelesen hat, sobald sie  veröffentlicht wurde, und erst später, als er wieder zu dieser Schrift  zurückgriff, die zweite vermehrte und überarbeitete Ausgabe benutzt hat.

Dieser dokumentarische Grund wird von den Herausgebern von GW 1  zudem selbst aufgehoben, indem sie in der Anmerkung zu 91,2-3 (S. 563)  in Bezug auf eine Stelle von Text 16 auf eine ähnliche Stelle bei Fichte  verweisen, die sich nur in der ersten Ausgabe befindet.

Wenn man also die Texte dieser Jahre betrachtet und die Texte der  späteren Jahre außer Acht lässt,  was aus methodologischer Sicht die  richtige Verfahrensweise ist, kann man also auch aus dokumentarischen  Gründen schließen, dass Hegel die erste und nicht die zweite Ausgabe der  Offenbarungsschrift zuerst gelesen und rezipiert hat.

Im Folgenden werden wir uns deshalb immer auf die erste Ausgabe  beziehen.

 

1. Gedanke von dem Zusammenfallen von „höchster sittlicher Vollkommenheit“ und „höchster Glückseligkeit“ als „das höchste Gut“ und der  „Endzweck“ des menschlichen Lebens  

Fichte (Off.,  2, S. 19,3-6):[20]

„Es ist durch die Gesetzgebung der Vernunft [...] ein Endzweck aufgegeben; nemlich das höchste Gut, d.i. die höchste sittliche Vollkommenheit,  vereint mit der höchsten Glückseligkeit.“

Hegel (Bogen d; GW 1, S.91,1-4):[21]

 

„Um hoffen zu können, dass das höchste Gut dessen einen Bestandtheil  wirklich zu machen uns als Pflicht auferlegt, im Ganzen wirklich werde  fodert die praktische Vernunft Glauben an eine Gottheit - an Unsterblichkeit.“

Sowie (Bogen a; GW 1, S. 84,18-19)

 

„Befriedigung des Trieb nach Glükseeligkeit als höchster Zwek des Lebens  angenommen [...]“

 

2. Theorie der Postulate als Voraussetzung für die Verwirklichung  dieses Endzwecks

 

Fichte (Off., S.22,2-4): 

„Es muß also ein ewiger Gott seyn, und jedes moralische Wesen muß ewig  fortdauern, wenn der Endzweck des Moralgesetzes nicht unmöglich seyn  soll.“

Hegel: s. oben: „Um hoffen...“. 

 

3. Subjektive und nicht objektive Gültigkeit der Postulate

 

Fichte (Off., S.22,4-6): 

„Dieses sind die Postulate der Vernunft, welche wir, um unsrer moralischen Bestimmung durch dieselbe willen, nicht als objektiv gewiß, sondern  als subjektiv für unsere, nemlich menschliche Art zu denken gültig,  annehmen müssen.“

Hegel (Bogen c; GW 1, S.89,26-27): 

„Ich rechne hier nur insoweit Kenntnisse von Gott und Unsterblichkeit  zur Religion, als das Bedürfnis der praktischen Vernunft fodert [...]“ 

4. Auffassung von Gott als „Beweger“, „Bestimmer“  der Natur nach  einer moralischen Ordnung 

Fichte (Off., S. 29,13-14):

„In Absicht der letztern[22] ist also Gott nicht eigentlich Gesetzgeber,  sondern Beweger, Bestimmer.“

Sowie in Off., S. 30,1-2): 

„[...] die Idee von Gott, als Bestimmer der Natur nach moralischen  Zwecken [...]“.

Hegel (Bogen d; GW 1, S.91,21-23):

„[...] - der Begrif von Gott und die [Vorstellung] an ihn sich zu wenden  ist schon moralischer das h. deutet schon mehr auf Bewustseyn von einer  höhern nach grössern Zweken als sinnlichen bestimmten Ordnung hin -  [...]“

5. Festsetzung des Verhältnisses zwischen Religion und Moralität als  „Beförderung“ der zweiten durch die erste sowie der Begriff „Beförderung“ im Allgemeinen 

Fichte (Off., S.20,16- 17):

 

„[...] so müssen wir, so gewiß wir annehmen müssen, dass die Beförderung  des Endzwecks des Moralgesetzes in uns möglich sey [...]“.

 

Sowie Off. S.21,21-23: 

„Es thut diese Forderung an jenes heilige Wesen, in Ewigkeit das höchste  Gut in allen vernünftigen Naturen zu befördern.“

Hegel (Bogen  c; GW 1, S.90,19-23):

 

„[...] zur Aüsserung menschlicher Kräfte [...] gehört Unschuld, reines Gewissen, und dise 2 Eigenschaften hilft die Religion mit befördern.“

 

6. Unterscheidung von „subjektiver“ Religion und „objektiver“  Theologie 

Fichte (Off., S. 23,11 ff.):[23]

 

„So lange wir nun bei diesen Wahrheiten, als solchen, stehen bleiben,  haben wir zwar eine Theologie [...] aber noch keine Religion, die selbst  wieder als Ursache auf diese Willensbestimmung einen Einfluß hatte. [...]  Theologie [...] ist bloße Wissenschaft, todte Kenntniß ohne practischen  Einfluß; Religion aber (religio) soll der Wortbedeutung nach etwas seyn,  das uns verbindet, und zwar stärker verbindet, als wir ohne dasselbe  waren.“

 

Hegel (Bogen b; GW 1, S.85,15ff.):

 

„Es liegt in dem Begriff der Religion, dass sie nicht blosse Wissenschaft  von Gott, [...] sondern dass sie das Herz interessirt; dass sie einen Einfluß  auf unsre Empfindungen und auf die Bestimmung unsers Willens hat.“

 

Sowie  (Bogen c; GW 1, 87,18ff.)

 

„Objektive Religion ist fides quae creditur [...] - zur Objektiven Religion  können auch praktische Kenntnisse gehören, aber insofern sind sie nur  ein todtes Kapital.“

(Bogen c; GW 1, S. 89,24-26) 

„Eine solche Erkenntnis, bei der sich blos der raisonnirende Verstand beschäftigt, ist Theologie, nicht mehr Religion.“

Diese Unterscheidung ist bei Hegel sehr wichtig und bildet den Kern seiner  Überlegungen über den Begriff „Volksreligion“, womit er sich zur damaligen Zeit hauptsächlich beschäftigte. Sie wird von ihm in dem Bogen  c vom Text 16 (Auseinandersezung des Unterschieds zwischen objektiver  und subjektiver Religion) ausdrücklich behandelt. Dieser Bogen  ist  unverständlich ohne die Annahme, dass Hegel hier seine  Überlegungen unmittelbar auf Fichtes Offenbarungsschrift gründet. Auch den Bögen d und  f liegt diese Unterscheidung zugrunde. Hier sind nur einige Stellen  angegeben worden, in denen der Bezug auf Fichte nicht nur inhaltlich,  sondern auch sprachlich besonders auffallend ist.

In Bezug auf diesen Unterschied zwischen objektiver und subjektiver  Religion  bzw. Theologie und Religion werden oft andere Quellen angegeben, aus denen Hegel diese Begriffe hätte rezipieren können, wie z.B.  Semler[24] bzw. Sartorius.[25] Da sich Hegel in diesem Zusammenhang auf  Fichte ausdrücklich bezieht und sich sowohl die Lektüre der Offenbarungsschrift als auch  die Übernahme von mehreren Begriffen und  praktisch von der ganzen Auffassung des Verhältnisses zwischen Religion  und Moral zweifelsohne beweisen lassen, finde ich keinen Anlass, als Quelle  dieser Unterscheidung andere Denker anzugeben als die, auf die sich Hegel selbst deutlich bezieht. In Bezug auf Semler weiß man z.B. nicht mit  Sicherheit, ob Hegel ihn damals überhaupt gekannt hat. Man sollte also  die Rekonstruktion der Entwicklung von Hegels Denken nicht schwieriger  machen, als sie schon ist, und lieber den schon existierenden Spuren bis  zu ihrem Ende nachgehen, als neue Spuren bilden.

Zusammenfassend sei festgestellt: Offensichtlich hat Hegel die gedankliche Grundstruktur, worauf sich Fichtes „Critik aller Offenbarung“  gründet, gleich nach deren Veröffentlichung rezipiert, sich angeeignet  und darauf aufbauend die gedankliche Struktur seines eigenen Nachdenkens über den Begriff „Volksreligion“ gebildet, wie vor allem die Bögen  a-g von Text 16 nachweisen. Ab dem Bogen h ist es dann nicht mehr die  Gedankenstruktur der Offenbarungsschrift, sondern die von Kants Religionsschrift, die den Rahmen gibt, innerhalb dessen sich Hegels Überlegungen bewegen. 

 

*

1.3.2.2

ZWEITE STUFE

Übergang von der Volksreligion als „Sache des Herzens“

zur Volksreligion als "Sache der Vernunft"

Zeitlicher Rahmen: Herbst / Winter 1792/93 - 1. Mai 1793

Hauptquellen: Text 16, Bogen ‚h‘

Die zweite Gruppe von Bögen des Textes 16 setzt dagegen die Lektüre von Kants Religionsschrift voraus und gehört nach der von Flügge[26] vorgeschlagenen Periodisierung bereits zur zweiten Periode der Entwicklung der Diskussion über die theologisch-moralische Problematik, die durch die Veröffentlichung von Kants Religionsschrift angeregt wurde. Dazu gehören die Bögen h,i, k und l von Text 16. Sie gehören inhaltlich zur gleichen  Gruppe wie die anderen Bögen, vertreten aber eine ganz andere Auffassung der Volksreligion. Der Hauptgedanke dieser Auffassung ist, dass  das Fundament der Religion nicht das Herz, sondern die menschliche  Vernunft ist.

Der Unterschied zwischen dieser Auffassung und der der Bögen a  bis g ist so auffallend und erscheint mit dem Anfang von Bogen h, wo  gleich die Rede von der „Vernunftreligion“ als richtiger Form der Religion  ist,[27] so plötzlich und ohne einen Übergang, dass man von einem Bruch,  einer tiefen Zäsur sprechen muss.

Aus dieser Perspektive wird klar, dass Hegel die zweite Gruppe von  Bögen zu einem späteren Zeitpunkt niedergeschrieben hat und dass der  Anfang von Bogen h auf keinen Fall die Fortsetzung von dem Ende des  Bogens g sein kann, da Hegel sonst eine Überleitung geschrieben hätte.  Es entsteht nun die Frage, ob sich durch das erhaltene schriftliche  Material irgendwie die Lücke füllen lässt. Eine Untersuchung der anderen,  aus diesen Jahren erhaltenen Texte  kann möglicherweise aufschlussreich  sein.  

Die 2. und 3. Predigt  

Einige Texte  eignen sich nicht dazu und können deswegen schon ausgeschlossen werden, da sie entweder inhaltlich deutlich vor Text 16 geschrieben wurden, wie der Text 12, oder danach, wie die Texte 17-26, die  außerdem auch chronologisch mit Sicherheit schon zur Berner Zeit  gehören.

Die Texte 13-15 enthalten eine Kritik der christlichen Religion (Text  13) bzw. des damaligen Lebens in Deutschland im Vergleich zu dem Leben  der Griechen (Text 15), während der Text 14 nur ein Blatt mit Notizen  über die Tradition des deutschen Volkes ist. Insgesamt scheinen diese  Texte eher auf den Stand von Hegels Denken vor dem Einfluss von Fichte  hinzuweisen. Die Thematik der Volksreligion sowie die damit verbundene,  begriffliche Ausrüstung, die Hegel von Fichte rezipiert hat, fehlt hier völlig. Nur der Text 13 enthält einige Zeilen über die Beschaffenheit des  Menschen aus Sinnlichkeit und  Vernunft,[28] die gut in Verbindung zu  dem Anfang des Bogens a von Text 16 zu setzen sind. In einer nachträglichen Ergänzung am Rande dieses Textes ist außerdem die Rede von dem  „gemeinen Volk“.[29]

Dieser Text enthält eine Kritik der christlichen  Religion, die Hegels Meinung nach nicht fähig ist, die Einbildungskraft  des Volkes über die Phantasie zu leiten (vgl. 79,1ff.), und ist deshalb  deutlich innerhalb von Hegels Auseinandersetzung mit dem Begriff der  Sinnlichkeit im Anschluss an Fichte entstanden. Darin fehlt aber jegliche  Andeutung im Hinblick auf die Vernunft als Fundament der Religion bzw.  auf eine Überwindung von Hegels Auffassung der Bögen a-g. Auch dieser  Text kann also keine Hilfe zur Füllung der Lücke zwischen den Bögen g  und h von Text 16 leisten.

Was übrig bleibt, sind die Predigten. Die erste Predigt, die von der  Gerechtigkeit Gottes handelt, ist auf eine Auffassung gegründet, nach der  „die Stimme des Gewissens“ bzw. „das Herz“ des Menschen dem Willen  Gottes direkt entsprechen und deshalb Fundament der Moralität sein  können, eine Auffassung, die derjenigen der Bögen a-g sehr nahe steht  bzw. sogar möglicherweise auf eine vorausgehende Stufe hindeutet.  Auch in chronologischer Hinsicht ist die erste Predigt mit Sicherheit vor  dem Text 12 abgefasst worden, da sie auf den 10. Januar 1792 datiert ist  und deshalb sowohl aus inhaltlichen als auch aus chronologischen  Gründen unmöglich den Übergang zwischen den zwei Bögengruppen von  Text 16 bilden kann.

Die zweite Predigt, deren Datierung sehr problematisch ist,[30] zeigt  dagegen einen Inhalt, der auf  eine neue Stufe in Hegels Gedankenentwicklung hinweist. Sie behandelt das Thema "Versöhnlichkeit" und beinhaltet den wichtigen Gedanken von der „Umänderung und Besserung des  Herzens“.[31]

Diesen Begriff verwendet Hegel in Bezug auf die Unterscheidung  zwischen zwei verschiedenen Einstellungen zum moralischen Verhalten, die  mit Kants bzw. Fichtes Sprache als „Moralität“ bzw. „Legalität“ bezeichnet  werden können. Zwar bedient sich Hegel an dieser Stelle nicht explizit  dieser Ausdrücke, setzt aber bei seinen  Überlegungen dieses  Kategorienpaar zweifelsohne voraus.

Er unterscheidet  hier zwischen denjenigen, deren Beweggrund zum  moralischen Handeln die Liebe zu Gott und zu den Menschen ist, und  denjenigen, die die Tugenden aus anderen Gründen ausüben. Nur die  ersten können wahre Christen genannt werden, die anderen dagegen  nicht, da sie sich nicht „im Geist der Lehre Jesu“ verhalten (60,7-9). Sie  glauben, sich tugendhaft zu verhalten,  ihr Verhalten fließt aber „nicht  aus der rechten Quelle“ (60,6). Was ihrem Verhalten fehlt, ist „eine völlige  Umänderung und Besserung des Herzens“ (60,12).

Dieser Gedanke, den Hegel als Voraussetzung für das wahre  Christsein aufstellt, ist in Bezug auf die Frage der Füllung der Lücke  zwischen den Bögen g und h von Text 16 sehr interessant, da er sich in  die von Hegel in den Bögen a-g dargestellte Auffassung kaum einordnen  lässt. Nach dieser Auffassung  ist das Herz des Menschen in sich selbst  rein und braucht nur die Hilfe der Religion, um ein moralisches Verhalten  in Gang zu setzen. Diese Hilfe soll aber nicht direkt auf das Herz,  sondern auf die Sinnlichkeit wirken. Diese soll durch die Religion in einen  zusätzlichen Beweggrund zum moralischen Handeln umgeändert bzw.  verfeinert werden; das Herz bedarf der Veränderung aber nicht! Es ist in  der Tat  sehr schwer, sich vorzustellen, dass das Herz, das in der Auffassung dieser Bögen das Fundament der Religion sein soll, eine „völlige  Umänderung und Besserung“ brauche.

Die Inkompatibilität zwischen dem Gedanken von der „Umänderung  und Besserung des Herzens“ und der Auffassung der Religion als „Sache  des Herzens“ wird an einer anderen Stelle dieser Predigt noch deutlicher,  wo die Rede von einem „durch Liebe zu Gott gebesserten Herzen“ (63,16)  ist. Hier ist also nicht das Herz das Fundament der Religion, sondern  umgekehrt die Religion das Fundament eines reinen Herzens, wozu die  Liebe zu Gott führt. Daraus kann man schließen, dass ohne Religion das  Herz nicht „rein“ wäre, d.h. dass der Mensch, der Gott nicht liebt, sich  nicht moralisch verhalten kann.

In dieser Predigt sind wir also zweifelsfrei vor eine ganz andere  Auffassung als die der Religion als „Sache des Herzens“ gestellt. Man  könnte einwenden, dass  es sich um eine Predigt handelt und dass Hegel  dabei gezwungen war, das zu sagen, was man von ihm im Stift hören  wollte. Ein Vergleich mit den anderen Predigten zeigt aber, dass Hegel,  wenngleich er in diesen Predigten sein echtes, sehr kritisches Urteil über  die christliche Religion nicht äußern konnte, was er dagegen in den  anderen, privaten Texten tat, aber auch nicht so feige war, dass er seine religionsphilosophische Grundauffassung, auf die er seine  Überlegungen  über den Begriff „Volksreligion“ zu dem Zeitpunkt gründete, vollständig  verschwieg.

In der ersten Predigt spricht er z.B. einerseits sehr positiv über die  „von Gott uns geoffenbarte Gesezgebung“ und ergänzt sogar, dass diese  Offenbarung sowohl durch das Alte Testament als auch durch Jesus erfolgt ist.[32] Andererseits aber fügt er gleich hinzu:

„Diese Ordnung  stimmt aufs genaueste mit dem überein, was unser Gewissen uns sagt“  (58,14-18).

Wenn man zwischen den Zeilen dieses hinzugefügten Satzes liest,  kann man daraus entnehmen, dass,  wenn unser Gewissen die gleiche  moralische Gesetzgebung wie das Alte Testament und die Botschaft Jesu  beinhaltet, wir im Prinzip keine Religion brauchen, die uns das moralische  Verhalten beibringt!

Auch die Untersuchung der anderen überlieferten Predigten zeigt,  dass Hegel dabei versuchte, einerseits nichts gegen die christliche Religion  explizit zu sagen, andererseits aber auch nicht darauf zu verzichten,  seine echten Gedanken implizit auszudrücken.

Es ist also zu schließen,  dass  sich in diesen Predigten zwei Ebenen  unterscheiden lassen:  eine oberflächliche Ebene, die aus Gedanken  besteht, die Hegel als dogmengetreu denkenden  christlichen Theologen  erscheinen lassen, und eine versteckte  Ebene, in der Hegel auf eine sehr  geschickte Weise seine eigene religionsphilosophische Auffassung zum  Ausdruck bringt,  zu der er durch seine „geheimen“  Überlegungen bis  zum Zeitpunkt der Abfassung der entsprechenden Predigt gekommen war.

In dieser Hinsicht ist also den Gedanken, die sich in den Predigten  befinden, durchaus Wichtigkeit zuzuschreiben, und sie sind nicht als  bloße „Gelegenheitsschriften“, sondern als echte Spuren von Hegels geistiger Entwicklung anzusehen.

In Bezug auf die zweite Predigt und auf den Gedanken von der  „Umänderung und Besserung des Herzens“ soll also die Frage gestellt  werden, wie es zu erklären ist, dass der Apologet einer als „Sache des  Herzens“ definierten Volksreligion plötzlich und ohne äußeren Zwang die  Meinung von der Umänderung bzw. Besserung des Herzens als Voraussetzung für ein echtes moralisches Verhalten vertritt.

Um eine Antwort auf diese Frage geben zu können, ist es notwendig,  zuerst eine Untersuchung der religionsphilosophischen Auffassung zu  führen, die dieser Predigt zugrunde liegt.

Eine vertiefte Lektüre der Predigt führt zum Schluss, dass hier eine  insgesamt negative Auffassung des menschlichen Herzens vertreten wird,  die nicht nur in jenen Ausdrücken zutage tritt, sondern der ganzen  Predigt zugrunde liegt.

Als Beispiele seien einige darin vorkommende Ausdrücke Hegels angeführt: Zu den Quellen,  „aus welchen Unversönlichkeit entspringt“ (60,25),  zählt er: Eigenliebe, Rachbegierde, Haß und Groll (60-61); er spricht von  „Menschen die Bitterkeit und Haß im Herzen haben“ (61,7-8), von „Härte  des Herzens“ (61,16) usw. und schließt die Predigt mit einem Gedanken,  der in der Gedankenkonstellation von der Auffassung der Religion als  „Sache des Herzens“ unvorstellbar ist:  „der wahre Christ soll streng  gegen sich selber aber geduldig gegen andere seyn“ (64,21-22). Von  diesem Satz ist  nicht der zweite Teil Anlass zur Verwunderung, sondern  der erste. In Bezug auf diesen Satz und den darin ausgedrückten  Gedanken stellt sich spontan die Frage: wo ist der junge Stiftler  geblieben, der an die Unschuld des einfachen, spontanen, natürlichen und   nur aus der Quelle seines reinen Herzens handelnden Menschen glaubte?  In der Tat zeigt es sich, dass nach der Auffassung dieser Predigt der  Mensch viel mehr braucht, um sich moralisch zu verhalten, als nur die  Hilfe der Religion, wie es nach der Auffassung der Bögen a-g des Textes  16 der Fall ist.

Die Untersuchung dieser Predigt ist also mit der Behauptung abzuschließen, dass wir es hier nicht mit einem gelegentlichen, von äußeren  Umständen verursachten Verstecken von Hegels wirklicher Meinung, sondern mit einer tiefgreifenden  Änderung in den religionsphilosophischen  Grundlagen seines Nachdenkens zu tun haben.

Aus diesem Grund lohnt es sich,  dieser Spur zu folgen und auch  die dritte und die vierte Predigt unter die Lupe zu nehmen, bevor dann  auf Grund der bisher erreichten Ergebnisse versucht werden soll, eine  Antwort auf die Frage der Lücke zwischen den Bögen g und h von Text  16 zu geben.

Die dritte Predigt[33] handelt von dem „wahren Glauben“ und ist also  über den Begriff des wahren Christen mit der zweiten Predigt verbunden.  Der durch die Untersuchung der zweiten Predigt gewonnene Schluss,  dass  Hegels religionsphilosophische Auffassung in ihren Grundlagen hier  anders ist als in den Bögen a-g des Textes 16, wird durch die Lektüre  dieser dritten Predigt bestätigt. Gleich am Anfang befindet sich der  Ausdruck „das verdorbene Herz des Menschen“ (68,4) und gegen Ende  der Predigt der Ausdruck „verdorbene Natur“ in bezug auf die Natur des  Menschen (69,28-29). Schon diese Äußerungen bestätigen die bisherige  Hypothese von einer tiefgreifenden Änderung in Hegels damaliger Religionsphilosophie endgültig.

Zwar befinden sich in dieser Predigt auch Gedanken und Ausdrücke,  die sehr an die Auffassung der Religion als „Sache des Herzens“ erinnern,  wie z.B. in dem an Gott gerichteten Satz:

„Gib dass  dise Wissenschaft zum  lebendigen Glauben in uns werde, dass er reich werde an guten Früchten  [...]“ (68,26-27).

Hier kommt sehr deutlich der versteckte Gedanke der  subjektiven Religion, die nicht tote Wissenschaft, sondern lebendiges,  moralisches Handeln sein soll, ans Licht. Auch der Ausdruck „Diser Glaube  ist nicht blos Sache des Verstandes“ (69,13) versetzt uns in eine schon  gut bekannte Gedankenwelt. Die Ausdrücke, die auf das „verdorbene Herz  des Menschen“ hinweisen, machen aber klar, dass Hegel sich hier in einer  neuen Gedankenwelt bewegt und eine neue Stufe in seiner Denkentwicklung erreicht hat.[34]

Die vierte Predigt,[35] die von dem „Reich Gottes“ handelt, zeigt auf  eine noch deutlichere Weise, dass sich eine Wandlung in Hegels religionsphilosophischer Auffassung ereignet hat: dieser Predigt liegt Kants  religionsphilosophische Auffassung zugrunde, wie diese in der  Religionsschrift dargestellt ist.[36] Da diese Predigt zu einer noch späteren Stufe gehört, wird deren Inhalt an entsprechender Stelle in dieser  Studie dargestellt und kommentiert. Hier ist nur auf das Wiederauftreten der Gedanken von der Besserung des Herzens als Voraussetzung zum moralischen Verhalten sowie von der Verdorbenheit des menschlichen  Herzens, die hier sogar als „angeboren“ bezeichnet wird, hinzuweisen (vgl.  GW 1, S. 71,13 bzw. 71,22-23).

Aus den Ergebnissen der Untersuchung der 2., 3. und 4. Predigt kann  also geschlossen werden, dass sich zum Zeitpunkt der Entstehung der  Texte ein Wandel sowohl in der religionsphilosophischen Grundlage von  Hegels damaligem Denken als auch demzufolge in seiner Auffassung der  Volksreligion vollzogen hat. Diesen Predigten liegt nicht mehr die  Religionsphilosophie der Offenbarungsschrift zugrunde, und in ihnen wird  keine Volksreligion als „Sache des Herzens“ vertreten. In der vierten  Predigt lässt sich deutlich der Einfluß der Religionsphilosophie Kants beweisen; indirekt kann auch geschlossen werden, dass sie die Auffassung  der Volksreligion als „Vernunftreligion“ implizit vertritt, da die Gedanken,  die deren „versteckte Ebene“ bilden und von Kant stammen (Reich Gottes  als etwas Innerliches, also die unsichtbare Kirche usw.), unter diesem  Begriff zusammenzufassen sind.

Es bleibt also noch offen, welche Religionsphilosophie der 2. und der  3. Predigt zugrunde liegt und welche Auffassung der Volksreligion diese  Texte vertreten.

Um diese Frage zu beantworten, ist eine weitere Untersuchung von  den Gedanken und Ausdrücken durchzuführen, die zu dem Schluss geführt  haben, dass es sich bei diesen Predigten um eine andere religionsphilosophische Einstellung handelt als in den Bögen a-g von Text 16. Es sind  die Gedanken, die in den folgenden Ausdrücken zusammengefasst sind:  „Umänderung und Besserung des Herzens“ (2. Predigt) und „das  verdorbene Herz des Menschen“ (3. Predigt).

 

Der Einfluss des ersten Teils von Kants Religionsschrift auf die 2. und 3. Predigt

Diese Gedanken  finden sich in der Religionsschrift Kants, und zwar in  deren erstem Stück "Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem  guten; d.i. vom radikalen Bösen in der menschlichen Natur".

Dieses erste Stück behandelt das Thema der Beschaffenheit der  Natur des Menschen, beschäftigt sich also mit der Frage, ob der Mensch  von  Natur aus gut oder böse sei. Kant stellt auf den ersten,  einführenden Seiten das Problem sowie die beiden extremen Lösungen dar.  In dem ersten und zweiten Kapitel Von der ursprünglichen Anlagen zum  Guten in der menschlichen Natur bzw. Von dem Hange zum Bösen in der  menschlichen Natur untersucht er dann diese zwei Lösungen einzeln.  In  dem dritten und vierten Kapitel Der Mensch ist von Natur böse bzw. Vom  Ursprunge des Bösen in der menschlichen Natur stellt er seine Position  dar. Diese besteht hauptsächlich in der Grundidee, dass es im Menschen  einen natürlichen Hang zum Bösen gibt. In der allgemeinen Anmerkung  Von der Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten in ihrer  Kraft, die dieses erste Stück abschließt, gibt Kant Hinweise darauf, wie  die Menschen ihre von Natur aus vorhandene, aber von dem gegenteiligen  Hang zum Bösen vertriebene Anlage zum guten Handeln wiederherstellen  können.

Bevor es gezeigt wird, welche Begriffe Hegel aus diesem ersten Teil von  Kants Schrift unmittelbar übernommen hat, ist es sinnvoll, einen Vergleich  zwischen den Hauptthemen und den damit verbundenen Hauptansichten,  die sich sowohl in Kants Schrift als auch in Hegels 2. und 3. Predigt  feststellen lassen, zu führen.

Diesbezüglich lässt es sich zuerst bemerken, dass es  nicht mehr um Religionsphilosophie im engeren Sinne, sondern um Anthropologie geht.  Sicher ist es schwer, eine klare Grenze zwischen diesen beiden Wissens-  bzw. Erfahrungsgebieten zu ziehen; es ist aber möglich, sie zu  unterscheiden und die Wechselbeziehung zu erkennen, die zwischen ihnen  besteht.

Die Anthropologie, als Erkenntnis der Beschaffenheit der menschlichen Natur, scheint die Voraussetzung für die Herausbildung einer religiösen Theorie zu sein. Abhängig davon, ob eine „optimistische“ oder  „pessimistische“ Anthropologie als Grundlage angenommen wird,[37] wird es  ein entsprechendes Bedürfnis nach Religion geben. Liegt eine optimistische Anthropologie zugrunde, nach der also der Mensch von  Natur aus gut ist, wird es kein Bedürfnis nach einer Religion geben, die  das moralische Verhalten des Menschen begründet, und zwar deshalb, weil  der Mensch keine Begründung durch die Religion braucht, um sich moralisch zu verhalten. In Rousseaus Philosophie lässt sich ein ähnliches Verhältnis zwischen Moral und Religion bzw. Anthropologie und Ontologie  feststellen.

Allein Zweifel an der guten Natur des Menschen, also eine mehr oder  weniger pessimistische Anthropologie, verursachen ein Bedürfnis nach  einer religiösen Begründung des moralischen Verhaltens. Die Philosophie  Kants ist ein gutes Beispiel dafür.

Daraus erklärt sich, wieso auch Hegels Texten aus diesen Jahren  immer eine Anthropologie zugrunde liegt. Die Auffassung der Religion als  „Sache des Herzen“ beruht auf einer Anthropologie, die in ihrem Kern optimistisch ist. Sie gründet sich auf das Herz als Fundament sowohl der  Moral als auch der Religion, und somit wird von Hegel angenommen, dass  das menschliche Herz unverdorben ist.[38] Andererseits ist diese Auffassung nicht völlig optimistisch, da Hegel nicht ignoriert, dass der  Mensch auch aus einer sinnlichen Natur besteht, und diese braucht die  „Hilfe“ der Religion, um Ausdruck in einem moralischen Verhalten zu  finden.

Was die 2. und 3. Predigt betrifft, liegt ihnen eine eindeutig pessimistische Anthropologie zugrunde, wie die oben zitierten Stellen deutlich  zeigen.

In diesen zwei Predigten fällt besonders auf, dass Hegel sich hier in  erster Linie mit der Anthropologie und nicht mit der Religion beschäftigt.  In der Tat macht er sich sowohl in der 2. als auch in der 3. Predigt vor  allem Gedanken darüber, was es bedeutet, ein „wahrer Christ“ zu sein. Dabei stellt er sich z.B. die Frage, wie man „durch anhaltende Wachsamkeit  auf die Regungen der bösen Neigungen unsers Herzens“ (65,18-19) zu  einem wahren Christen werden kann. Dadurch zeigt er sich bewusst, dass  eine bloß negative Wirkung der Religion, die innerhalb der Auffassung  von der Religion als „Sache des Herzens“ für ihn noch denkbar war, jetzt  nicht mehr ausreicht, um das „Bestreben, immer vollkommener zu werden“  (64,19), zu unterstützen.

Hier zeigt sich eine erste, thematische Ähnlichkeit zwischen dem  ersten Teil von Kants Schrift und den Predigten Hegels, die unser Forschungsgebiet betrifft: beide beschäftigen sich  mit dem Verständnis der  menschlichen Natur, also mit einer anthropologischen Frage.

Aber auch aus der Perspektive der Ergebnisse lässt sich eine starke  Ähnlichkeit zwischen diesen Schriften feststellen. Sowohl Kants als auch  Hegels Anthropologie lassen sich durch das Wort „Selbstbesserung“ zusammenfassen. Dieser Ausdruck befindet sich wörtlich bei Kant (S. 51),  und der Gedanke, der dahinter steht, zieht sich sowohl durch Hegels  Predigten als auch durch den ersten Teil von Kants Schrift, vor allem in  dessen letztem Abschnitt (Allgemeine Anmerkung).

Was Kant betrifft, fasst der Begriff „Selbstbesserung“ die Ergebnisse  dieses ersten Teils zusammen: der Mensch soll sich selber moralisch  bessern, um seine ursprüngliche Anlage zum Guten wiederherzustellen.[39]  Diese Selbstbesserung besteht nach Kant in einer „Herzensänderung“, auf  deren Grundlage der Mensch die Pflicht als das oberste moralische Gesetz  erkennt und sich nach diesem verhält. Bei dieser Herzensänderung kann  es sich um keine „Reform“, sondern nur um eine „Revolution“ handeln,  wodurch ein „neuer Mensch“, wie „durch eine Art von Wiedergeburt“,  entstehen soll (S. 46-47). Nur auf diesen sich selbst gegenüber harten  Weg kann der Mensch sich bessern. Dabei handelt es sich um einen fortschreitenden Prozess, der kontinuierlich verläuft (S. 47-48). Er soll  zwar  mit einer persönlichen, inneren Revolution beginnen, damit hat sich  der Mensch aber nur auf den richtigen Weg begeben. Das Ziel ist noch  sehr weit entfernt. Um sich diesem anzunähern, bedarf es einer ausdauernden, kontinuierlichen Selbstbesserung.

Diese Gedankenkonstellation, die sich in der Allgemeinen Anmerkung befindet und die Schlüsse aus dem ersten, einführenden Teil von Kants  Schrift enthält, schlägt sich in der 2. und 3. Predigt deutlich nieder. Der  Begriff von der Besserung des Herzens des Menschen bildet den Hauptgedanken der 2. Predigt, wie oben gezeigt worden ist. Auch der hergeleitete  Schluss, dass der Mensch zu sich selbst streng sein soll, befindet sich bei  Hegel, ebenso wie der Gedanke, dass diese Strenge zu dem Ziel einer  kontinuierlichen Besserung des Menschen führen soll (64,18-20: „eine solche Trägheit würde dem Bestreben, immer vollkommener zu werden  [...]  gerade entgegen seyn“). Diesbezüglich ist von Hegel auch der Gedanke  von einem „Vertrag von gegenseitiger Nachsicht mit Gott“ (60,21) aus  Kants Allgemeiner Anmerkung, wenngleich nicht wörtlich, übernommen  worden.[40] Die Liebe für die anderen Menschen wird von Hegel als „Gebot“  bezeichnet, das den Menschen von Jesus gegeben ist (65,30-31), und das  entspricht Kants Auffassung des Pflichtbewusstseins als der einzig wahren  moralischen Einstellung.[41]

Hiermit dürfte erwiesen sein, dass sich an der Gedankenstruktur der  2. Predigt ein tief  prägender Einfluss durch die Religionsphilosophie und  insbesondere die Anthropologie Kants ablesen lässt, wie diese vor allem in  der Allgemeinen Anmerkung zum Ausdruck kommt.

Zu gleichen Ergebnissen führt eine vergleichende Untersuchung der  dritten Predigt. Auch hier befindet sich eine gedankliche Struktur, die  auf Kant zurückzuführen ist. Vor allem der Gedanke von der verdorbenen  Natur des Menschen ist das Bindeglied zwischen beiden Schriften. Diese  Auffassung befindet sich nicht in der Allgemeinen Anmerkung, wo er  vorausgesetzt wird, sondern in dem dritten und vierten Kapitel des ersten Stückes von Kants Religionsschrift. Die Auffassung von der  „Selbstbesserung“, die den Kern der Allgemeinen Anmerkung bildet, findet  sich dagegen in dieser dritten Predigt nicht wörtlich. Nur am Schluss wird  sie angedeutet.[42] An gleicher Stelle ist auch die Rede von dem  „vollkommen werden“ des Menschen (69,33), was auch auf Kant  zurückweist.

Außer der gedanklichen Konstellation, die im Vergleich zwischen dem  ersten Teil von Kants Schrift und Hegels 2. und 3. Predigt zweifellos  gleich ist, gibt es mehrere einzelne Ausdrücke und entsprechende  Begriffe, die sich sowohl bei Kant als auch bei Hegel befinden. Eine  Aufstellung der Begriffe ist geeignet, diese vergleichende Untersuchung  abzurunden.[43]  

Früchte:  

Kant vergleicht den Menschen mit einem „Baum“ und fragt sich, wie es  möglich ist, dass  „ein böser Baum gute Früchte bringen“ kann, und stellt  umgekehrt fest, dass „ein ursprünglich (der Anlage nach) guter Baum arge  Früchte hervorgebracht hat“ (S. 44-45).

Bei Hegel befindet sich dieser Begriff in der 2. Predigt an folgenden  Stellen:  

- 61,27-28:  „Aber er genoß der Früchte seiner Härte [...]“

- 64,26: „so fruchtlos seine Bemühungen bei dem grösten Haufen sind  [...]“

- 66,4-5: „[...] die wahren Früchte des Glaubens [...]“.  

In der 3. Predigt befindet sich dieser Gedanke an den Stellen:  

- 68,17: „[...] die ächten Früchten des Glaubens wahrnehmen“

- 68,27: „Gib dass dise Wissenschaft zum lebendigen Glauben in uns werde,  dass er reich werde an guten Früchten [...]“ - 69,22: „was sind die wahre Früchte des Glaubens?“  

Quelle:  

Kant: S. 45, wo die Rede von der Selbstliebe als der „Quelle alles Bösen“  ist - s. unten unter „Selbstliebe/Eigenliebe“. Hegel:  

- 60,6: „Alle die geräuschvollen Tugenden [...] verlieren ihren Glanz,  sobald sie nicht aus der rechten Quelle fliessen.“

- 60,25-26: s. unten unter „Selbstliebe/Eigenliebe“.  

Selbstliebe/Eigenliebe:  

Kant:  - 45: „[...] die Selbstliebe [...]; die, als Prinzip aller unserer Maximen  angenommen, gerade die Quelle alles Bösen ist.“  

Hegel:  

- 60,25-26: „[...] lasset uns vorher die Quellen aufsuchen, aus welchen  Unversönlichkeit entspringt, a) Eigenliebe“.

Dieser Gedanke von der Selbstliebe bzw. Eigenliebe als „Quelle alles Bösen“ in dem Menschen scheint von Hegel direkt von Kant zusammen mit  den Begriffen von „Quelle“ und „Früchte“ übernommen zu sein. Die drei  Begriffe bilden in der Tat eine Einheit zusammen: Die Selbstliebe ist die  Quelle der bösen, schlechten Früchte.

Schadenfreude:  

Bei Kant:  27 (wo diese als „teufliche Last“  bezeichnet wird).

Bei Hegel:  63,15-16; 65,1; 65,11; 66,12.  

Gebot/Gesetz:  

Kant:  - 47: „[...] das Gebot: wir sollen bessere Menschen werden [...]“ - 50: „Denn, wenn das moralische Gesetz gebietet, wir sollen jetzt bessere  Menschen sein.“  

Hegel:  2.Predigt:  

- 60,21: „[...] dein Gebot zu erfüllen [...]“

- 62,14: „[...] dass wir also durch Unversöhnlichkeit sowohl seinem Gesez  [...] zuwider handeln.“

- 65,27 ff.: „Jesus gab uns ein höheres Gebot [...], er gab uns ein neues  Gebot, das Gebot der Liebe [...]“  

3. Predigt:  

- 69,29-30: „[...] das Gebot der Liebe“.  

Diese sind nur einige Beispiele, die sicher vervollständigt werden können,  was allerdings eine besondere, spezielle Forschung erfordern würde. Auch  in dem hier dargebotenen Umfang können diese aber verdeutlichen, dass  das erste Stück von Kants Religionsschrift und vor allem dessen  Allgemeine Anmerkung nicht nur der Gedankenkonstellation, sondern auch  der sprachlichen Form der 2. und 3. Predigt zugrunde liegt.

Damit ist der Vergleich zwischen Kant und Hegel in Bezug auf die  Gedanken, die der junge Stiftler von dem Meister aus Königsberg in  dieser Stufe rezipiert hat, abgeschlossen.

Exkurs: Gesamtrekonstruktion der bisherigen Entwicklung und Vorschläge zur  Chronologie  

Auf Grund der erzielten Ergebnisse kann jetzt versucht werden,  eine  Erklärung zu finden für den am Anfang dieser Stufe festgestellten gedanklichen Bruch zwischen den Bögen g und h von Text 16. Dieser Bruch  lässt sich auf folgende Weise erklären: der Bogen h sowie die folgenden  Bögen i, k  und l beinhalten eine Auffassung der Volksreligion als  „Vernunftreligion“, die eine spätere Stufe darstellt als die der Religion als  „Sache des Herzens“; chronologisch betrachtet, sind sie also mit Sicherheit nach den Bögen a-g und höchstwahrscheinlich im Sommer 1793  entstanden. Die vierte Predigt (16. Juni 1793) gehört zweifellos zur  gleichen Gedankenkonstellation; die zweite und dritte Predigt enthalten  daraus nur die Gedanken von der „verdorbenen Natur des menschlichen  Herzens“ und von dem Bedarf nach einer „Umänderung“ bzw. „Besserung“  desselben, was aus dem ersten Gedanken folgt. Von der gesamten  Gedankenfolge der Religionsschrift schlägt sich also nur ein Teil, und  zwar der grundlegende, anthropologische, erste Teil, in der zweiten und  dritten Predigt nieder. Wie bekannt, erschien dieser Teil als Aufsatz ein  Jahr vor der Veröffentlichung der vollständigen Schrift im April 1792.

Mit der Kenntnis dieser Voraussetzungen lässt sich weiter schließen,  dass Hegel zuerst mit dem ersten Teil bekannt wurde und infolgedessen  die anthropologischen Grundlagen seiner Auffassung der Religion als  „Sache des Herzens“ in Frage gestellt hat. Dieser Zusammenbruch der  Grundlagen seiner damaligen Religionsphilosophie wird in der 2. und 3.  Predigt sichtbar. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Predigten (bis 1.  Mai 1793) hat er aber noch keine neue Auffassung der Volksreligion erarbeitet. Das wird erst ab Mitte Juni unter dem Einfluss der ganzen Religionsschrift Kants geschehen und lässt sich durch die 4. Predigt  und  dann vor allem durch die Bögen h-l reichlich belegen. Die zweite und  dritte Predigt bilden deshalb das inhaltliche Bindeglied zwischen der  Auffassung von der Religion als „Sache des Herzens“ und der von der Religion als „Vernunftreligion“.  Durch sie lässt sich nachvollziehen, dass Hegel  spätestens im Frühling 1793 die alte Auffassung in Frage gestellt hat, sie  aber durch eine neue noch nicht ersetzen konnte. Die Zeit der Abfassung  der 2. und 3. Predigt ist deshalb als die zweite Stufe dieses Stadiums zu  betrachten. Dabei handelt es sich mehr um eine „Zwischenstufe“, die eher  einen Übergang, eine Überbrückung zwischen den Religionsauffassungen  der ersten und der dritten Stufe darstellt als eine richtige Stufe in sich  selbst. In dieser zweiten Stufe besitzt Hegel zwar eine neue Anthropologie, aber noch keine neue Religionsauffassung.

Die eben durchgeführte Gesamtrekonstruktion dieser Zeit ermöglicht  auch den Versuch, eine entsprechende Chronologie festzulegen. Es ist  diesbezüglich allerdings zu sagen, dass sich dieses Ziel sehr schwer  verwirklichen lässt. Grund dafür ist vor allem, dass es heute noch  unmöglich ist, eine sichere Datierung für die 2. Predigt vorzunehmen.[44]

Ein Versuch könnte so aussehen: Als sichere Anhaltspunkte gelten  die erste Predigt (10. Januar 1792) sowie die dritte und vierte (1. Mai  bzw. 16. Juni 1793). Was die zweite Predigt betrifft, wird von den Herausgebern von GW 1 in dem editorischen Bericht als Datum der 4. November 1792 vermutet.[45] Der Text 12, der aus inhaltlichen Gründen vor dem  Text 16 geschrieben sein muss, stammt frühestens von Ende August 1792.  Im Anschluss an die Abfassung von Text 12 muss die Abfassung von den  Bögen a-g von Text 16 erfolgt sein, die an den Text 12 direkt anknüpfen,  wie der Bezug auf Fichte beweist. Die Bögen h-l von Text 16 müssen nach  der vierten Predigt bzw. in enger zeitlicher Nachbarschaft zu ihr niedergeschrieben worden sein, da sich beide auf Kants ganze  Religionsschrift gründen.

Als nächstes ist zu bestimmen, wann Hegels Lektüre und Rezeption  von dem ersten Teil der Religionsschrift und der von ihr verursachte  Zusammenbruch seiner bisherigen Anthropologie erfolgt sind. Da die neue  Anthropologie erst mit der zweiten Predigt erscheint, ist die Festsetzung  dieses Zeitpunktes von der Datierung der zweiten Predigt abhängig. Wir  wissen leider nicht, und es lässt sich auch nicht von den erhaltenen  Schriften und Dokumenten herleiten, ob Hegel den Inhalt des ersten Teils  durch dessen Veröffentlichung als Aufsatz (April 1792) oder als ersten Teil des Buches (April 1793) rezipiert hat. Auf jeden Fall ist es  unmöglich, dass er Kants Gedanken schon vor Ende August/Anfang  September 1792 rezipiert hat,[46] da er in dieser Zeit unter dem Einfluss   von Fichte stand, wie der Text 12 belegt. Wenn Hegel Kants Anthropologie als Aufsatz in Kenntnis nahm, dann ist das frühestens gegen  September/Oktober 1792, also nicht sofort nach dessen Veröffentlichung geschehen.

Eine erste Möglichkeit ist deshalb, dass Hegel diese Anthropologie im  Herbst 1792 rezipiert hat, und auf Grund dieser Datierung wäre dann die  von den Herausgebern von GW 1 vorgeschlagene Datierung der zweiten  Predigt auf den 4. November 1792 annehmbar. In diesem Fall wäre die  Datierung der Bögen a-g von Text 16 vor diesem Datum anzusetzen, da  der Inhalt dieser Bögen einer früheren Stufe in Hegels Entwicklung entspricht und deshalb auch vor der zweiten Predigt abgefasst worden sein  muss. Die Datierung dieser Bögen fiele in diesem Fall auf den Zeitraum  September/Oktober, also zwischen den Text 12 (ab 22.8.92), der vor ihnen  kommt, und die zweite Predigt (4.11.92), die nach ihnen kommt.

Nach dieser Gesamtchronologie, die von der Datierung der zweiten  Predigt auf den 4. November abhängig ist, würden die Auffassung der  Religion als „Sache des Herzens“  und die Rezeption von Kants Anthropologie in der Zeit September/Oktober zusammenfallen. Das scheint  sehr unwahrscheinlich, da anzunehmen ist, dass Hegel Zeit gebraucht hat,  um:  

- Fichte zu lesen und zu verstehen;

- dessen Religionsphilosophie auf die eigene Problematik der Volksreligion  anzuwenden und auf der Grundlage dieser Religionsphilosophie die eigene  Auffassung der Volksreligion als „Sache des Herzens“ auszuarbeiten.  

Der Nachteil von dieser Chronologie, die sich auf die Hinweise der Herausgeber von GW 1 stützt, ist also, dass die Zeitspanne zwischen der  Rezeption von Fichte bzw. der Ausarbeitung der Auffassung von der  Religion als „Sache des Herzens“ und dem Zusammenbruch derselben durch  die Rezeption von Kants Anthropologie viel zu kurz ist. Nach dieser Datierung ist außerdem die Zeitspanne, in der Hegel nur den ersten Teil von  Kants Religionsschrift, aber noch nicht die ganze Schrift rezipiert hat,  viel zu lang (etwas mehr als 7 Monate vom 4. November 1792 bis 16. Juni 1793). Aus den angeführten Gründen erscheint diese erste Möglichkeit also  eher unwahrscheinlich.

Ich schlage deshalb eine zweite Möglichkeit vor, wobei ich nochmals  erklären möchte, dass es nach dem heutigen Stand der Forschung, vor  allem auf Grund der unsicheren Datierung der zweiten Predigt, nicht  möglich ist, zu einer endgültigen, gesicherten Chronologie zu kommen.  Durchaus legitim ist aber, sich darüber Gedanken zu machen, wie die Reihenfolge der Schriften anzusetzen ist und, anhand der schon  bekannten Datierungen, wenigstens die Jahreszeit festzulegen zu versuchen, in der die Schriften abgefasst sein könnten, deren Datierung  unbekannt ist. Dieser Versuch erhebt natürlich keinen Anspruch auf  endgültige Genauigkeit und Wahrheit. Nach dieser zweiten Möglichkeit  wird der Ausarbeitung von der Auffassung der Religion als „Sache des  Herzens“ mehr Zeit zugeschrieben: sie könnte in dem Zeitraum Spätherbst/Winter 1792/93 erfolgt sein. Die Rezeption von Kants Anthropologie  ist dann entweder auf die Lektüre von dem Aufsatz zurückzuführen und  in diesem Fall frühestens gegen Ende Winter 1792/93 anzusetzen; oder,  was am wahrscheinlichsten ist, sie ist mit der Veröffentlichung von der  ganzen Schrift in Verbindung zu bringen und deshalb im April 1793  anzusetzen. Diesem Vorschlag zufolge hätte Hegel die Schrift Kants  unmittelbar nach deren Veröffentlichung gelesen, was im Übrigen mit  Hegels Gewohnheiten übereinstimmt und auch von den Herausgebern von GW 1 unterstützt wird.[47] Als Folge dieser Rezeption hat sich dann der  Zusammenbruch von Hegels früherer Anthropologie ereignet, wie dieser in  der Predigt vom 1. Mai seinen Ausdruck findet. Die weitere Lektüre  dieser Schrift hat ihn dann zu seiner neuen199 Auffassung der Religion als  „Vernunftreligion“ geführt, die sich in der Predigt vom 16. Juni zum  ersten Mal feststellen lässt.

Der Vorteil dieser Chronologie ist, dass der Erarbeitung der Auffassung von der Religion als „Sache des Herzens“ genug Zeit zugeschrieben wird, und zwar der Zeitraum Spätherbst/Winter 1792/93. Außerdem   gestattet sie auch, Hegels Rezeption von Kants Schrift stufenweise zu  rekonstruieren: zuerst die Rezeption des ersten Teils, die sich wie ein  Erdbeben in der zweiten und dritten Predigt niederschlägt, und dann die  Rezeption der anderen Teile, die zuerst in der 4. Predigt und dann in  den im Sommer verfassten Bögen h-l ihren Ausdruck findet.

Nachteil dieses Chronologievorschlags ist, dass es damit nicht möglich  ist, die von den Herausgebern von GW 1 vorgeschlagene Datierung der  zweiten Predigt auf den 4. November 1792 beizubehalten. Andererseits ist  diese Datierung auch nicht sicher.[48] Es wird von den Herausgebern von  GW 1 nicht ausgeschlossen, dass dieser Text im Jahr 1793 abgefasst worden  ist,[49] und außerdem wird von ihnen auch bewiesen, dass die Predigt  unmöglich in den Monaten Juli/August 1793[50] und sehr wahrscheinlich  nicht in der Zeit zwischen der dritten (1.Mai) und der vierten (16. Juni)  Predigt niedergeschrieben wurde.[51] Was von ihnen mit Sicherheit  festgesetzt wird, ist also allein, dass diese Predigt auf jeden Fall zwischen  der ersten und der dritten ihren Platz findet.[52] Dieser Schluss stimmt  ohne weiteres mit der von mir vorgeschlagenen zweiten Möglichkeit überein, nach der diese Predigt in dem Zeitraum zwischen Winter 1792/93 und  Frühjahr 1793 (allerdings bis zum 1. Mai) anzusetzen ist.

Neben diesen beiden  Möglichkeiten kann man sich selbstverständlich  auch andere vorstellen, immer aber in Abhängigkeit davon, wann die  Niederschrift der zweiten Predigt angesetzt wird. Sollte es einmal möglich  sein, für diese Predigt eine sichere Datierung festzulegen, wäre dann  auch die Voraussetzung für eine genauere chronologische Rekonstruktion  von Hegels geistiger Entwicklung in diesen,  für die Geschichte der  Religionsphilosophie goldenen Monaten zwischen April 1792 und Sommer  1793 geschaffen.

Am Schluss dieses Kapitels sei darauf hingewiesen, dass sich die  Entwicklung von Hegels Denken innerhalb dieser Stufe  auch ohne eine  monatgenaue Chronologie derselben deutlich erkennen und schildern lässt.  Die Reihenfolge der Texte dürfte stimmen, auch wenn es bei einigen von  ihnen nicht möglich ist, die genaue Datierung zu erkennen. Auf Grund  der Reihenfolge ist es möglich, die Brücke zwischen dem Bogen g und  dem Bogen h von Text 16 zu erkennen: die Krisis in Hegels  Auffassung  der Religion als „Sache des Herzens“, verursacht durch die Rezeption von  Kants Anthropologie des „radikalen Bösen“ in der menschlichen Natur.  Hegel überwand die Krisis und konnte durch die Übernahme von Kants Auffassung der Religion als „Vernunftreligion“ seine Auffassung der  Volksreligion durch zusätzliche Hauptmerkmale weiter ausbauen. Damit trat  er in eine neue Stufe seiner geistigen Entwicklung ein.

 

*

3.2.3
DRITTE STUFE

Die Volksreligion als „Vernunftreligion“ 

Zeitlicher Rahmen: 1. Mai - Sommer 1793; 
Hauptquellen: 4. Predigt; Text 16, Bögen h bis l  


Wie in dem vorigen Paragraphen angedeutet wurde, wird durch die vierte  Predigt eine neue Stufe in Hegels Entwicklung eröffnet. Diese Stufe, die  dritte und letzte dieses zweiten Stadiums, besteht hauptsächlich darin,  dass Hegel seine Auffassung von der Religion als „Sache des Herzens“   durch die der Religion als „Vernunftreligion“ ersetzt. Damit kann er die  Krisis überwinden, die die Lektüre des ersten Teils von Kants  Religionsschrift verursacht hat, indem diese sein ursprüngliches  Vertrauen in die gute Natur des menschlichen Herzens und  in dessen  Fähigkeit, Fundament der Religion und der Moral zu sein, in Frage stellte.

Der Eintritt in die neue Stufe seiner Entwicklung wird Hegel ermöglicht durch die Lektüre und die Rezeption der anderen Teile von  Kants Religionsschrift. Zweck dieses Kapitels ist, die neue Stufe darzustellen. Dabei wird zuerst  der Inhalt von den für diese Untersuchung  relevanten Teilen der Schrift Kants geschildert und darunter insbesondere von denen, die auf Hegel den größten, entscheidenden Einfluss geübt  haben; danach werden auf der Grundlage von der vierten Predigt und  von dem Bogen h von Text 16 die Begriffe einzeln aufgestellt und kommentiert, die Hegel aus diesen Teilen der Religionsschrift nachweislich  übernommen hat;  zum Schluß wird dann Hegels neue Auffassung der  Volksreligion als „Vernunftreligion“ nachgezeichnet, wie diese in den Bögen   i-l von Text 16 von Hegel selbst auf eine sehr systematische Weise  zusammengefasst wurde.  

 

Exkurs: Kants Religionsschrift und die Begründung der Vernunftreligion als der  einzig wahren Religion  

In seinem Aufsatz „Verschlüsselte Losung. Hegels letzte Tübinger Predigt“  hat F. Nicolin  durch eine Untersuchung der vierten Predigt ausführlich  bewiesen, dass Hegels Auffassung der Religion zur damaligen Zeit die  Religionsphilosophie Kants  zugrunde lag. Darin konnte der Interpret  außerdem nachweisen, dass die Auseinandersetzung Hegels und seiner  Stiftskameraden mit der Schrift Kants gleich nach deren Veröffentlichung  im Frühling 1793 stattfand. Außerdem haben die Herausgeber von GW 1 in  mehreren  Anmerkungen belegt, dass zahlreiche Stellen von Hegels  Fragmenten aus dieser Zeit und vor allem vom Text 16 unmittelbar an Kants Schriften und hauptsächlich an die Religionsschrift anknüpfen.[53] In  der Anmerkung 99,29 zu Text 16[54] ist zu lesen: „Hegels Gedanken und Begriffe sind hier so deutlich durch diese Schrift Kants bestimmt, dass sich  damit ein Hinweis auf die Datierung von Stück 16 ergibt“.[55] Die Wichtigkeit dieser Schrift Kants  für die Niederschrift dieser Texte und darunter  vor allem von Text 16  ist also so eindeutig und die expliziten bzw.  impliziten Bezüge auf Kant sind darin so zahlreich, dass man dadurch sogar zur Datierung dieses Textes  kommen kann, wie wenn es sich dabei  um einen „Kommentar“ der Schrift Kants durch Hegel handelte. Eine Darstellung von Kants Schrift kann deswegen für das nachfolgende Verständnis des Textes Hegels sehr aufschlussreich sein.

Das dritte Stück Vom Sieg des guten Prinzips über das böse und  der Stiftung eines Reichs Gottes auf Erden von Kants Werk ist der zentrale Teil, da der Philosoph hier die wichtigsten Ergebnisse darstellt, zu  denen er gekommen ist. In Bezug auf dieses Stück sind die ersten beiden  Stücke und vor allem das schon dargestellte erste Stück eine Einführung  mit Problemstellung, während das vierte und letzte Stück eine Anwendung  von den Ergebnissen auf die gesellschaftliche, geschichtliche Wirklichkeit  ist.

Gleich am Anfang des dritten Stückes stellt Kant die Frage, die zu  lösen ist und die die Verbindung zu den anderen Teilen und vor allem  zum ersten Teil bildet: wenn der Mensch sich selber bessern soll, wie es  am Ende des ersten Teils gefordert wird, aber seine ursprüngliche Anlage  zum Guten aber dem Prinzip des Bösen zeitweise unterlegen ist, stellt sich die Frage, wie er das machen kann.[56]

Die Antwort auf diese Frage bildet das Thema des dritten Stücks. Zu  dieser Antwort kommt Kant schrittweise. Im Folgenden werden die Schritte  rekonstruiert.  

- Die Ursache, weshalb sich der Mensch böse verhält, liegt nach Kant in  dem Verkehr mit den anderen Menschen.[57] Die Lösung dieses Problems,  die mit der Sprache Kants als „Der Sieg des guten Prinzips über das  böse“ zu bezeichnen ist,[58]  ist deshalb nur „durch Errichtung und  Ausbreitung einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen und zum Behuf  derselben“ (S. 94) zu erreichen.  

- Die „Tugendgesetze“, die die Grundlage einer solchen Gesellschaft  bilden sollen, können sich  aber die Menschen wegen der „unzulänglichen  Kräfte der Einzelnen“ selber nicht geben; deshalb müssen die Einzelkräfte  „zu einer gemeinsamen Wirkung vereinigt werden“, und das kann nur  durch die Idee „eines höhern moralischen Wesens“ erfolgen.[59]  

- Eine solche Gesellschaft bekommt durch ihre moralische Grundlage die  Geltung von „Volk Gottes“. In diesem Volk wird nicht nach bloßer „Legalität“, sondern nach wirklicher „Moralität“ gelebt().  

- Als Volks Gottes ist eine solche ethische Gesellschaft oder, in Kants  Sprache, ein solches „ethisches gemeines Wesen“, das „unter der göttlichen moralischen Gesetzgebung“ lebt und handelt, „eine Kirche, welche,  so fern sie kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist, die unsichtbare  Kirche heißt“ (S. 101).[60]  

- Wenn es den Menschen gelingt, eine Gemeinde zu errichten, die diesem  Ideal entspricht(), kommt die „wahre (sichtbare) Kirche“ zustande, die  diejenige ist, „welche das (moralische) Reich Gottes auf Erden, soviel es  durch Menschen geschehen kann, darstellt“ (S. 101).  

- Dieser einzig wahren, allgemeinen, auf den wahren Glauben gegründeten  Kirche stehen die einzelnen, historischen Glaubensformen gegenüber:[61]  die eine ist für den Menschen „bloß als Mensch betrachtet“, die anderen  sind für den Menschen „als Bürger“ (S. 105; auch in diesem Fall ist der  Einfluss von Rousseau auf Kant eindeutig). Wegen der Schwäche der  menschlichen Natur ist  es nach Kant nicht möglich, eine allgemeine  Kirche auf den reinen Religionsglauben zu gründen, wenngleich allein  dieser eine „allgemeine Kirche“ begründen könnte, „weil er ein bloßer  Vernunftglaube ist, der sich jedermann zur Überzeugung mitteilen läßt“  (S. 102-103). Es muss also eine historisch bedingte Glaubensform dazu  benutzt werden.[62] 

- Weil  dabei  aber die Gefahr besteht, dass dieser historische Glaube zu  bloßer Legalität und nicht zu echter Moralität bei den Menschen führen  könnte, wird dazu „eine Auslegung der uns zu Händen gekommenen Offenbarung erfordert, d.i. durchgängige Deutung derselben zu einem Sinn,  der mit den allgemeinen praktischen Regeln einer reinen Vernunftreligion  zusammenstimmt“ (S. 110). Die Vernunftreligion als „der Geist Gottes, der  uns in alle Wahrheit leitet“, enthält in der Tat „das oberste Prinzip aller  Schriftauslegung“ (S. 112). Dies soll sicherstellen, dass auch der  historische Glaube reine Moralität und nicht bloße Legalität befördert.

- Das Zusammenfallen von reiner Vernunftreligion, die einzig und allgemein ist, und historischem Glauben, der zeitlich und räumlich begrenzt  ist, muss nicht auf ewig notwendig sein: „Es ist also eine notwendige Folge  der physischen und zugleich der moralischen Anlage in uns, welche  letztere die Grundlage und zugleich Auslegerin aller Religion ist, dass  diese endlich von allen empirischen Bestimmungsgründen, von allen Statuten, welche auf Geschichte beruhen, und die vermittelst eines  Kirchenglaubens provisorisch die Menschen zur Beförderung des Guten  vereinigen, allmählich losgemacht werde, und so reine Vernunftreligion  zuletzt über alle herrsche, „damit Gott sei alles in allem“ (S. 121).

- Hierin gipfelt die Religionsgeschichte der Menschheit, endet das  „Jünglingsalter“, die erwachsen gewordenen Menschen legen ab „was  kindisch ist“ (S. 121-122) und „der erniedrigende Unterschied zwischen  Laien und Klerikern hört auf“. Dadurch bildet sich der Übergang zu  einer „neuen Ordnung der Dinge“ und man kann nun endlich zu Recht  sagen, „dass das Reich Gottes zu uns gekommen sei“ (S. 122).  

- Somit ist schließlich die Grundlage für den Sieg von dem Prinzip des  Guten üüber das Prinzip des Bösen in der menschlichen Natur geschaffen   worden und die Frage gelöst, von der Kants  Überlegungen ihren  Ausgang nehmen. Die ethische Gesellschaftsform, die entstehen soll und  die Kant als „unsichtbare Kirche“ bezeichnet und als Verwirklichung des  „Reichs Gottes“ auf Erden versteht, ist also die Lösung jener Frage.  

Mit diesem Schluss ist die Thematik der Religionsschrift im Prinzip abgeschlossen. Was Kant in dem vierten und letzten Stück[63] noch behandelt,  sind einige Themen, die nicht mehr die theoretische Frage der Möglichkeit  einer reinen Religion, sondern praktische Fragen hinsichtlich der äußeren  Organisation dieser Kirche und vor allem des Unterschieds zwischen  der  richtigen und der falschen Form des Dienstes betreffen. Dabei beschäftigt  er sich auch mit der christlichen Religion als natürlicher sowie als  gelehrter Religion. In Bezug auf Hegel ist der zweite Teil dieses letzten Stücks besonders wichtig.[64] Hier kommen die Gefahren zur Sprache, die  mit den historischen Glaubensarten verbunden  sind, wie z.B. Anthropomorphismus, Aberglaube, Fetischismus usw. Kant wendet  sich sehr  scharf gegen diese falschen Formen von Dienst, die er als „Afterdienst“  bzw. „Religionswahn“ bezeichnet.[65] Darin sieht er die Gefahr, dass das  Volk noch weiter von der reinen Vernunftreligion entfernt wird, da es  seiner „moralischen Freiheit beraubt wird“. Auf diese Weise wird aber der historische Glaube, anstatt als Zwischenstation auf dem Wege zur Vernunftreligion und als ein Mittel zu dienen, zu einem Hindernis bei  ihrer Verwirklichung.

 

Hegels Rezeption von Kants religionsphilosophischer Auffassung

 

Bogen ’h’

(GW 1: 99,29 bis 103,2)[66]

An das vierte und letzte Stück von Kants Schrift knüpft der Anfang von Bogen h unmittelbar an. Darin stellt Hegel, mit den Worten und Begriffen  Kants, die Vernunftreligion dem Fetischglauben gegenüber und schließt,  dass es

"[...] so wichtig für die Menschheit ist, diese immer mehr zur Vernunft Religion hinzuführen, und den FetischGlauben zu verdrängen" (GW 1, 100,4-5).

Dieses Ziel  setzt sich Hegel ausdrücklich. Seine Überzeugung  formuliert er in den folgenden Sentenzen:

 - erstens, dass „[..] eine allgemeine geistige Kirche nur ein Ideal der Vernunft bleibt“ (GW 1, 100, 6); 

- zweitens, dass es "[...] nicht wohl möglich ist, daß eine öffentliche Religion gegründet werden könnte, die alle Möglichkeit, FetischGlauben daraus ziehen benähme" (GW 1, 100, 6-8)]

Diese beiden Abgrenzungen stammen deutlich von Kant, in dessen Werk  z.B. zu lesen ist:

“Die erhabene nie völlig erreichbare Idee eines ethischen gemeinen Wesens [...]”

(S. 129).

Nachdem Hegel diese beiden Grenzen klar gesetzt hat, wirft er die Frage auf 
„[...] wie eine Volksreligion im allgemeinen eingerichtet werden müssen“ (GW 1, 100, 8-9), 

um die folgenden zwei Ziele zu erreichen:

- erstens,  zu vermeiden, dass sich unter dem Volk „FetischGlauben“  verbreitet (negatives Ziel) (100,9-10);  

- zweitens, das Volk zur Vernunftreligion zu führen (positives Ziel)  (100,11-12).  

Diese Stellungnahme Kant gegenüber zeigt, dass Hegel nicht nur dessen  Schrift gelesen, verstanden und aufgenommen hat, sondern dass er sich  die religiöse Auffassung von Kant angeeignet hat und diese von dem  Punkt aus fortsetzt, wo der Philosoph aus Königsberg aufgehört hatte. Dadurch wird klar, was Hegel meint, als er in den etwas späteren  Briefen an Schelling vom Ende Januar bzw. 16. April 1795 schreibt, dass er  an eine „Anwendung“ von Kants Philosophie arbeite bzw. deren  „Vollendung“ erwarte.[67] Genau das ist es, was er seit der Zeit der Fassung dieses Bogens macht: er wendet die Resultate, zu denen Kant gekommen ist, auf seine Auffassung der Volksreligion an.[68] Diese Anwendung ist gleichzeitig eine Vervollständigung, da er dabei versucht,  das auszuführen, wovon Kant in dem Kapitel V des dritten Stückes zurückgewichen hatte: den Schritt zu vollziehen von dem theoretischen Verständnis der Richtigkeit der Vernunftreligion als der einzig wahren und  absoluten Religion zu der praktischen Entscheidung der Stiftung einer solchen Religion. Durch die Auffassung der möglichen Vereinbarung von historischem Glauben und Vernunftreligion hat Kant einen Ausweg aus  dieser notwendigen Folge seiner Theorie gesucht, da es ihm unmöglich  schien, eine solche Religion wirklich stiften zu können. Deswegen hat er  sich auf den Weg des „Kompromisses“ zwischen Vernunftreligion und historischem Glauben begeben. Dieser Weg hat aber seiner Theorie nur Probleme und Hindernisse bereitet, wie z.B. die Probleme, die er  im vierten  Stück bespricht. Wenn er konsequent in seinen Gedanken gewesen wäre,  hätte er den Schluss gezogen, dass Aufgabe der Zeit sei, das Volk zu  erziehen und dadurch zu den reinen moralischen Wahrheiten der Vernunftreligion zu führen. Dadurch hätte er der Stifter der wahren Religion  und der Gründer der „unsichtbaren Kirche“ sowie des Reichs Gottes als  der ethischen Gesellschaft unter den Menschen werden können. Dieses  Anliegen  hatte Kant aber nicht: er war ein großer Theoretiker, aber kein  Volkserzieher! Diese Anlage besaß dagegen Hegel, der schon seit der  Stuttgarter Zeit von der Frage bewegt war, wie der „gemeine Mann“ am  erfolgreichsten aufzuklären sei. Er macht sich gar keine Gedanken über  die Möglichkeit der Vereinbarung von historischem Glauben und Vernunftreligion: er weiß, dass dies nicht möglich ist. Er setzt das Programm von Kant fort, indem er sich selber zum Träger der Aufgabe macht, das Volk  zur Vernunftreligion zu führen. Die oben zitierten Zeilen von Bogen h  und insbesondere ihre praxisbezogene Stimmung[69] bezeugen es  unbezweifelbar.

Auf den folgenden Seiten von diesem Bogen stellt Hegel weitere  Überlegungen über den Begriff „Volksreligion“ an, die eigentlich nichts  Neues dazu sagen. Diese Überlegungen sind aber in Bezug auf das Verhältnis zu Kant wichtig, da sie einige Begriffe und entsprechende Ausdrücke enthalten, die Hegel von Kant inhaltlich und oft auch wörtlich  übernommen hat. Hier folgt eine Auflistung von diesen Begriffen.

- „Idee der Heiligkeit als die letzte Höhe der Sittlichkeit“  (100,13) (bei  Kant: S. 47 und 159)().

- „Hang zur Sinnlichkeit“ (100,20) (bei Kant:  S. 28: „Unter einem Hange  (propensio) verstehe ich [...]“; s. auch das ganze, zweite Kapitel des  ersten Teils Von dem Hange zum Bösen in der menschlichen Natur;[70]

 - Die Ausdrücke „Legalität“ (100,21), „Triebfedern“ (100,22), und „empirischer Charakter“ (101,6; 100,9 und 101,14) befinden sich bei Kant unter  anderem in der „Allgemeinen Anmerkung“ zum ersten Teil (s. vor allem S.  46-47). Diese Ausdrücke befinden sich aber auch bei Fichte, der sie  seinerseits durch die „Critik der praktischen Vernunft“ rezipiert hat (bei  Fichte s. für den Ausdruck „Legalität“ S. 30; für „Triebfeder“ S. 34; für  „empirischer Character“ S. 67).  

Ab der Textstelle 101,21 schließt Hegel weitere  Überlegungen üüber den  Begriff „Volksreligion“ an.  Er nimmt einige frühere  Gedanken wieder auf,  wie z.B den Gedanken von der Wichtigkeit des Herzens und der Phantasie  in dem Leben des Menschen(). Diese  Überlegungen sind besonders  interessant, da er hier versucht, in die neue, entstehende Auffassung der  Volksreligion als Vernunftreligion die Hauptmerkmale zu übernehmen, die  den Inhalt seiner vorigen Auffassung der Religion als „Sache des Herzens“  bildeten.

Diesbezüglich erklärt er, dass der Mensch „ein so vielseitiges Ding“  ist, „dass sich alles aus ihm machen läßt“ (102,3-4), und, nachdem er   vorausgeschickt hat, wie mannigfaltig das Gewebe der Empfindungen der  Menschen ist,[71]  gibt er eine sehr schöne Definition von dem „Geschäft  der Volksreligion“, das darin bestehen soll, „dise schöne Fäden der Natur  dieser gemäs in ein edles Band zu flechten“ (102,7-8).

Hier zeigt sich, dass die Sprache und die Begriffe, mit denen Hegel  jetzt arbeitet, nicht mehr so ausschließlich und direkt aus der Religionsschrift Kants stammen, wie es für den Bogen h bis zu dieser Textstelle  der Fall ist, sondern eher an die Terminologie der Bögen a-g erinnern.  Das bedeutet, dass Hegel die unmittelbare, intensive Beschäftigung mit der  Religionsschrift Kants ab dieser Textstelle schon hinter sich hat, und  nachdem er den Hauptinhalt dieses Werkes auf seine Problematik angewendet hat, kehrt er zu seinen, vorübergehend zur Seite gelegten, alten  Gedanken zurück und ist im Begriff, diese in seine neue Auffassung der Volksreligion zu übernehmen. Dies wird dadurch bestätigt, dass er in den  folgenden Zeilen auch den Unterschied zwischen Volksreligion und  Privatreligion wieder aufnimmt, wobei aber jetzt die Religion eine viel  größere  Rolle bei der Beförderung der Moralität spielt, als es innerhalb  der Auffassung der Religion als „Sache des Herzens“ der Fall war. In der  ersten Stufe dieses Stadiums war Hegel in der Tat der Meinung, dass die  Wirkung der Religion auf die Moralität „mittelbar“[72] bzw. „negativ“  erfolgen solle, wie es in dem schon zitierten Absatz „Meine Absicht  ist...“ vom Bogen c zur Sprache kommt, der eine Definition seiner ersten Auffassung der Volksreligion enthält. Innerhalb der neuen Auffassung der  Volksreligion als „Vernunftreligion“ ist die Funktion der Religion in der  Beförderung der Moralität unentbehrlich geworden. Ihre Aufgabe wird von  Hegel jetzt nicht mehr als bloße Hilfe zur Beförderung von dem reinen  Gewissen (90,19-25) verstanden, und die Wirkung, die die Religion auf den  Menschen üben soll, wird von ihm als „mächtig“ und „unentbehrlich“ bezeichnet:

„VolksReligion unterscheidet sich von privatReligion vornehmlich dadurch, dass der Zwek jener ist, indem sie mächtig auf Einbildungskraft und Herz wirkt, der Seele überhaupt die Kraft und den Enthusiasmus – den Geist einzuhauchen ist gross 1, 102, 10-13). 

Ein Vergleich zwischen dieser Stelle, in der Hegel seine neue Auffassung der Volksreligion definiert, mit der Stelle „Meine Absicht ist...“,  die die Definition seiner ersten Auffassung derselben enthält, zeigt also,  dass sich inzwischen eine große Veränderung in der Entfaltung von Hegels  religiöser Problematik ereignet hat. Ursache dafür ist zweifellos die Rezeption von Kants Religionsschrift gewesen. Durch diese Schrift hat  Hegel das Ideal der Vernunftreligion als der wahren Religion sowie der  Gründung einer allgemeinen ethischen Gesellschaft als einer „unsichtbaren  Kirche“ bzw. als „Reich Gottes“ unter den Menschen rezipiert. In diesem  Ideal gipfelt die Entwicklung seiner  Überlegungen, deren Ausgang im Text 12 zu suchen ist, und für die darin enthaltene Frage der „Rettung“ der  Religion in einer aufgeklärten Nation wird eine erste, vollständige Lösung  gefunden. Es ist zweifelfrei dieses Ideal, das ab diesem Zeitpunkt „die  gute Sache“ bildet, wofür sich die drei Stiftskameraden engagieren  wollten.[73]

Diese Lösung ist aus folgenden Gründen als „erste“ und „vollständige“   zu bezeichnen: sie ist nicht endgültig, da Hegel in der Jenaer Zeit, und  zwar mindestens ab dem Zeitpunkt der Abfassung des Fragments  Fortsetzung des Systems der Sittlichkeit (1802/1805),[74] der Meinung sein  wird, dass nur die Philosophie die Aufgabe der Beförderung der Moralität  bei einem aufgeklärten Volk übernehmen kann. Diese wird seine endgültige Lösung der Frage nach der Rettung der Religion sein. Die Religion  wird als Philosophie in einer aufgeklärten Nation gerettet und  „aufgehoben“. Dabei handelt es sich um eine Philosophie, die auch Religion  ist, da sie, wie die Religion, in einem absoluten System besteht, von dem  die Menschen eindeutige Richtlinien für ihr moralisches Handeln bekommen  können. Gegenüber der Philosophie als „endgültiger“ Lösung ist also die  Auffassung der Religion als Vernunftreligion die „erste“ Lösung.[75] Sie ist  andererseits als die „erste, vollständige“ Lösung zu bezeichnen, da die  erste Lösung im engeren Sinne die Auffassung der Religion als „Sache des  Herzens“ ist. Diese Auffassung wird von Hegel aber in ihren  Grundgedanken in die Auffassung der Vernunftreligion übernommen und  kann deshalb eher als eine „Vorbereitung“, ein „erster Versuch“ als eine  vollständige, durchdachte Lösung jener ursprünglichen Frage betrachtet  werden. Im Grunde genommen können nur zwei echte Lösungen von Hegels  Hauptproblematik der Rettung der Religion bei einer aufgeklärten Nation  festgestellt werden: die Rettung durch die Vernunftreligion, als Ideal der  Jugendzeit, und die Rettung durch die Philosophie, als Verwirklichung  dieses Ideals im reifen Alter. Sowohl die erste als auch die zweite Lösung  werden von mehreren Stadien und Stufen vorbereitet, und die Auffassung  der Rettung der Religion als „Sache des Herzens“ ist eine dieser Stufen.  

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ANMERKUNGEN

[1] GW 1, S. 473-475

[2] Vgl. GW 1, S. 473-475.

[3] Siehe darüber Henrich, 1971, S. 58-59.

[4] Vgl. Fichte, Off., S. 24,1-5.

[5]  Ebd., S. 20,6 ff.

[6] Die ganze Masse von ReligionsGrund­säzen - und von den daraus flies­senden Emp­findungen; und besonders der Grad von Stär­ke, womit sie auf Hand­lungsArt einflüssen kön­nen, ist der Hauptpunkt einer Volksreli­gion" (GW 1, S.86,26 - 87,1).

[7] Wenn ich von ’vorigen’ bzw. ’folgen­den’ Bögen spreche, meine ich das nicht im chronologischen Sinn, weil es auf Grund von unse­rem heutigen  Wissen nicht möglich ist, in­nerhalb der Bögen a-g von Text 16 eine chronologische Rei­henfolge zu be­stimmen. Dass es aber eine logische Reihenfolge gibt, wird unter anderem dadurch belegt, dass He­gel selbst diese Bögen in einer bestimm­ten Rei­henfolge geordnet hat, die er mit latei­nischen Buchstaben gekennzeichnet hat (vgl. GW 1, S. 473-475). Wenn er einen Text vor einen anderen gesetzt hat, muss es wohl des­wegen gewesen sein, weil er diesen Text als Voraussetzung für den an­de­ren innerhalb des Ganzen angesehen hat. Vielleicht hat er den Text, der als vor dem ande­ren stehend über­liefert ist, nach diesem geschrieben; die Gedanken aber, die hier enthalten sind, sind eine Voraussetzung für die Gedanken des folgenden Textes. In diesem inhalt­li­chen Sinn werden von mir die Ausdrucke ’vo­riger’ bzw. ’folgender’ Bogen in Bezug auf die Bö­gen von Text 16 benutzt.

[8] Vgl. GW 1, S. 99,29 sowie die dritte Stufe dieses Stadi­ums.

[9] Der Bogen ‚e‘ ist nicht überliefert worden (vgl. GW 1, S. 473).

[10] Vgl. GW 1, S. 94,28; 97,30 und 98,1-2.

[11] An dieser wichtigen Stelle, wo Hegel seine subjektive, auch leidenschaft­liche Teilnahme an der von ihm behandelten re­li­giösen Problematik offen zum Ausdruck bringt, konnte nicht der Bezug auf Lessings Nathan fehlen und insbesondere auf die Stelle, mit der Hegel schon in der Stutt­garter Zeit seine Er­kennt­nis der Natürlich­keit der Griechen belegt hatte (GW 1, S. 99,25-26).

(Die Endnoten 12 und 13 fehlen aufgrund eines Fehlers bei der automatischen Berechnung der Anmerkungsnummerierung. Das hat aber keinen Einfluss auf die Richtigkeiit des Textes.)

[12]) Zu dem sehr wichtigen Begriff der "Weisheit" im jungen und reifen Hegel vgl. de Angelis, 1996, "Hegels Philosophie als Weisheitslehre", insbesondere Kapitel 7" Von der Weisheit zur Wissenschaft. Hegels philosophischer, dialektischer Werdegang".

[13]) Vgl. Schmidt-Japing,1924, S.3-4; deAngelis, 1995, S. 41-49.

[14] Vgl.Off.,S..41,22-23

[15]) Vgl. GW1, Editorischer Bericht, S.557, Anm. zu 75,4.

[16]) Vgl. GW1, Editorischer Bericht, S.470.

[17]) Vgl. GW1, S.470.

[18]) Vgl.GW1, S.488.

[19]) Vgl.GW1, S.470.

[20]) Vgl. auch die Textstelle 19,21:"Die höchste Sittlichkeit, vereint mit der höchsten Glückseligkeit [...]". In den folgenden Seiten benutzt Fichte auch andere Aus­drücke, wie z.B "Congruenz der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit" (21,16-17) bzw. "Gleich­gewicht zwi­schen Sittlichkeit und Glückse­ligkeit" (21,23-24), die die gleiche Bedeu­tung haben.

[21]) Vgl. darüber auch die Anm. zu 91,23 in GW1, S.563, in der auf die ent­sprechen­deStelle so­wohl in Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ als auch in Fich­tes Offenbarungsschrift verwiesen wird. Drei Zeilen unter dieser Textstelle befindet sich außerdem der Aus­druck "Deduktion der Religion", der auf Fichte deutlich verweist (vgl. dar­über Anm. zu 91,7,in GW1,S.563).

[22]) Hier wird von Fichte die „unmorali­sche Natur“ des Menschen, also dessen Sinn­lich­keit, worüber in den Zeilen unmittelbar vor dem Zitat die Rede ist (Off., S.29,6 ff.), berührt.

[23]) Auch mit dieser treffenden Deutung der Re­ligion als Mit­tel zum Zusammenhalten der Gesellschaft befand sich Hegel un­mittel­bar im Einklang: „[...]-was ist christliche Kirche- eine Menge einzelner Menschen (nicht eine verbundene Menge von Menschen) die eine ge­wisse Vollkommenheit der Moralität er­reicht haben“(GW1, S.77, 16-18).

[24]) Vgl. Furck, 1953, S. 9 ff. und Lacorte, 1959, S. 141 ff.

[25]) GW1, S. 557, Anm. zu 75,3

[26] Über Flügge siehe vgl. die Bibliographie hier: https://www.philosophyforfuture.org/de/news-644/bibliographie-_ber-hegels-denkentwicklung-von-1785-bis-1806.html

[27] GW1, S. 99,29

[28] GW 1, p. 78,3-7

[29] GW 1, p. 79,10 

[30] GW 1, pp. 465-467.

[31] Die vollständige Textstelle lautet: “Es gibt manche Tugenden die leicht auszuüben sind, und die sehr in die Augen fallen, denen aber gerade das wesentliche, das was ihnen in den Augen Gottes einen Werth gibt, abgeht, und was eben oft am schwersten zu erkämpfen ist, nemlich eine völlige Umänderung und Besserung des Herzens” (GW 1, p. 60,9-12).

[32] Dass er daran wirklich geglaubt hat, ist anhand der anderen Texte privater Natur aus diesen Jahren, in denen sich der junge Stiftler offensichtlich nicht zu verstecken brauchte, völlig ausgeschlossen.

[33] GW 1, Text 10, S. 68-69; Datierung 1. Mai 1793, vgl. GW 1, Editorischer Bericht, S. 467-468.

[34] Das Überleben von Gedanken, die aus einer vorigen Stufe stammen, wie der von der subjektiven Religion, sind durch das Prinzip der ’Aufhebung’ zu er­klären. Die wichtigsten Gedanken der alten Gesamtauf­fassung bleiben in der neu­en erhalten, wenngleich sie in dieser einem anderen ’Herrn’ dienen.

[35] GW 1, Text 11, S. 70-72; Datierung: 16. Juni 1793 (vgl. GW 1, Editori­scher Be­richt, S. 468).

[36] Dies ist zuletzt von Nicolin, 1988, bewiesen wor­den. Die diesbezüglichen Anmer­kungen in GW 1 geben für mehrere Textstel­len der Predigt die entspre­chenden Text­stel­len der Religionsschrift wieder, die ihnen zugrun­de liegen.

[37] Über diese Bezeichnungen sowie über dieses Thema über­haupt vgl. Kon­dylis, 1977, S. 81 ff. Mit den Schlüssen, zu denen er kommt, und zwar oft auf ei­ne sehr partei­ische und unbegrün­dete Weise, kann man nicht einverstanden sein. Ihm ist aber zweifellos das Ver­dienst zuzuschreiben, auf diese Problematik bei dem jungen Hegel so­wie auch bei dessen Stiftska­meraden Schel­ling und Hölderlin in aller Deutlichkeit auf­merksam ge­macht zu haben.

[38] Vgl. z.B. vom Text 16 die Textstelle 84,1, wo die Rede von der "unver­dorbenen MenschenSinne" ist sowie auch der ganze Bo­gen  d, der, wie im vori­gen Kapitel ge­zeigt wurde, eine Apologie des Herzens ist.

[39] Die Selbstbesserung wird von Kant mit diesen schönen, treffenden Wor­ten definiert: "Wiederherstellung durch eigene Kraftanwen­dung" (S. 50). Unter dem Begriff von ’Wie­der­herstel­lung’ ist natürlich die Wieder­herstellung der ur­sprünglichen Anlage zum Guten ge­meint, wie aus der Überschrift der Allge­meinen Anmerkung ersichtlich.

[40]  Vgl.bei Kant S. 51 ff.

[41]  Vgl. bei Kant S. 47.

[42] "[…] wenn wir uns Mühe geben, kommt Gott unsrer Schwachheit zu Hülfe, er unterstüzt uns mit seinem Geist [...]" (69, 31-32).

[43] Die meisten Ausdrücke sind bereits beim Vergleich zwi­schen den gedank­li­chen Struk­turen angegeben worden. Im fol­gen­den werden  deshalb nur die Aus­drucke angegeben, die bisher noch nicht zur Spra­che kamen.

[44] Zur diesbezüglichen Problematik vgl. GW 1, Editorischer Bericht, S.465-467.

[45] Vgl. GW 1, S. 466.

[46] Damit wird selbstverständlich nicht ausgeschlossen, dass er den Aufsatz von Kant schon kannte. Man hat zwischen der Lektüre und der Rezeption eines Textes streng zu unter­scheiden. So kann man einen Text lesen, ohne ihn zu rezipieren, aber nicht rezipieren, ohne diesen Text gelesen zu ha­ben (dabei wird selbstverständlich von der Möglichkeit der indirek­ten, z.B. mündlichen Rezeption  abgesehen).

[47] Vgl. Edito­rischer Bericht, S. 474-475.

[48] Von den Herausgebern von GW 1 wird geschrieben, dass die­se Predigt "mit einiger Wahrscheinlichkeit" (S. 467) am 4. No­vember 1792 von Hegel nie­dergeschrieben ist.

[49] GW 1, Editorischer Bericht, S. 466: "Andere Folgerungen sind möglich, wenn wir annehmen, daá der erörterte Bibeltext unab­hängig vom Predigttag als Vorlage gewählt wur­de. Dann lässt sich die Predigt auch in das Jahr 1793 verwei­sen."

[50] "Angesichts dieser Dokumente scheint es ausgeschlossen, dass die fragli­che Pre­digt­niederschrift den Monaten Juli/August zugehört." (GW 1, Editorischer Bericht, S. 467)

[51] Vgl. GW1, S. 466.

[52] "Zusammenfassend ist zu sagen, dass [...] alle ermittel­baren Anhaltspunk­te da­für spre­chen, den Text an die zweite Stelle der vier erhaltenen Übungpredig­ten zu set­zen." (vgl. GW 1, S. 467).

[53] Siehe darüber vor al­lem die Anmerkun­gen von 70,9 bis 159,6, die im Personen­ver­zeichnis von GW 1 unter dem Stichwort ’Kant’ aufgeli­stet sind.

[54] GW 1, Editorischer Bericht, S. 566.

[55] Es ist diesbezüglich aber zu präzi­sieren, daá nur die Datierung der Bögen h-l da­durch festge­setzt werden kann, aber nicht die Datierung der Bögen a-g, die unter dem Ein­fluss von Fichte und nicht von Kant abge­fasst wurden, wie sich in der Untersuchung der ersten Stufe dieses Stadiums erwiesen hat.

[56] "In diesem gefahrvollen Zustande ist der Mensch gleichwohl durch seine eigene Schuld; folglich ist er verbunden, soviel er vermag, wenigstens Kraft anzuwenden, um sich aus demselben herauszuarbeiten. Wie aber? das ist die Frage."  (S.93)

[57] "Der Neid, die Herrschsucht, die Hab­sucht und die damit verbundenen feindseli­gen Neigungen bestürmen alsbald seine an sich genügsame Natur, wenn er unter Men­schen ist [...]" (S. 93-94). Der Einfluss von Rousseau auf Kant kommt in diesem Satz deutlich ans Licht.

[58] Die vollständige Überschrift von die­sem Stck ist: Der Sieg des guten Prinzips über das Böse, und die Gründung eines Reichs Gottes auf Erden.

[59] Alle Zitate befinden sich auf S. 98.

[60] „Also ist ein ethisches gemeines We­sen nur als ein Volk unter göttlichen Gebo­ten d.i. als ein Volk Gottes, und zwar nach Tugendgesetzen, zu denken mög­lich.“ (S. 99)

[61] "Es ist nur eine (wahre) Religion; aber es kann vielerlei Arten des Glau­bens geben." (S. 107)

[62] Die Fortsetzung des Zitats, die eine genauere Definition dieser Kirche enthält, ist auch sehr interessant und aufschluss­reich: "[...] (eine blosse Idee von der Verei­nigung aller Rechtschaffenen unter der göttlichen unmittelbaren aber mo­rali­schen Weltregie­rung, wie sie jeder von Menschen zustiften­den zum Urbilde dient)" (S. 101).

[63] "Die sichtbare ist die wirkliche Ver­einigung der Menschen zu einem Gan­zen, das mit jenem Ideal zusammenstimmt." (S. 101)

[64] Vom Afterdienst Gottes in einer sta­tutarischen Religion.

[65] "[...] wegen des natürlichen Bedürfnis­ses aller Men­schen, zu den höch­sten Ver­nunftbegriffen und Gründen, immer et­was Sinnlichhaltbares, irgend eine Erfahrungs­bestätigung u.d.g. zu verlangen, [...] ir­gend ein historischer Kirchen­glaube, den man auch gemeiniglich schon vor sich fin­det, müsse benutzt wer­den."  (S.109)

[66] Vom Dienst und Afterdienst unter der Herrschaft des guten Prinzips, oder von Re­ligi­on und Pfaffentum.

[67] Vgl. Briefe, Bd. 1, S. 16 bzw. 23.

[68] Diesbezüglich spricht er von einer "großer Anwendbarkeit auf allgemei­ner brauchba­re Begriffe" als die Begriffe von der theoretischen Vernunft (vgl. Briefe, Bd. 1, S. 16).

[69] Dabei geht es Hegel nicht um die theoretische Frage, welche Art von Re­ligion die wahre ist: dies hat er von Kant erfah­ren. Ihm geht es vielmehr um die prakti­sche Frage der ’Errichtung’ der Vernunftreligion als der wahren Volksreli­gion (diesbezüglich sei bemerkt, daá auch das Wort ’Errichtung’ auf Kant zurück­zuführen ist.)

[70] Vgl. S. 170-171.

[71] Über das Wiederkehren dieses Aus­drucks vgl. Text 16, S. 90,9: "[...] das Gewe­be der menschlichen Empfindungen [...]"

[72] Dieser Satz befindet  sich genau am Anfang des Kapitels über die "un­sichtbare Kir­che" (Kap. IV des dritten Stückes), das zweifelsohne eines der ein­flussreichsten für Hegel ge­wesen ist.

[73] Vgl. den Brief von Schelling an Hegel vom Januar 1796, in: Briefe, Bd.1, S. 35: "In der Tat, ich glaube von Dir fordern zu dürfern, daß Du Dich auch öffentlich an die gute Sache anschließt".

[74] Vgl. für dessen Datierung Kimmerle, Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften, S. 151-152.

[75] "Bei einer Volksreligion besonders ist von der grösten Wichtigkeit, dass Phan­tasie und Herz nicht unbefriedigt bleiben." (GW 1, S. 101,25-26)

 

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