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1995C9: Die Aktualisierung von Hegels System als  die wichtigste Aufgabe der Philosophie heute

1995C9: Die Aktualisierung von Hegels System als  die wichtigste Aufgabe der Philosophie heute

 

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1995

Hegels Philosophie als Weisheitslhere

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Beitrag 9

Die Aktualisierung von Hegels System als 
die wichtigste Aufgabe der Philosophie heute

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Die Überlegungen, die in den letzten zwei Beiträgen angestellt worden sind, und die Schlüsse, die daraus gezogen wurden, führen zum weiteren, zusammenfassenden Schluss, dass es heutzutage von immenser Wichtigkeit wäre, wenn es gelingen würde, der Philosophie und insbesondere der Philosophie Hegels in unserem ethisch-politischen Leben eine wichtigere Stellung einzuräumen, als die, die ihr zur Zeit zugeschrieben wird. In der Tat könnte Hegels Philosophie in den Menschen und vor allem in denjenigen, die verantwortungsvolle Positionen einnehmen, Weisheit fördern und somit die Grundlage bilden, auf der Entscheidungen getroffen werden, die dem Gemeinwohl aller Menschen zugutekommen. Eine Übernahme von Hegels Philosophie als Grundlage für das ethisch-politische Leben der heutigen Gesellschaft setzt aber deren Aktualisierung voraus.
Eine Philosophie der Vergangenheit zu aktualisieren, bedeutet, den wahren Kern dieser Philosophie von den Gedanken zu trennen, die nur eine historische Geltung zur damaligen Zeit hatten. Niemand könnte in der Tat behaupten, dass in einer Philosophie der Vergangenheit alles richtig ist. In jeder Philosophie sind Äußerungen von deren Gründer vorhanden, die sich nicht ohne weiteres aus den Prinzipien dieser Philosophie ableiten lassen und eher eine Konzession des Philosophen an seine Zeit, an den eigenen Charakter usw. sind.
So sind z.B. die Äußerungen von Plato und Aristoteles über die Sklaverei sicherlich nicht in Einklang mit den Grundprinzipien ihrer Philosophien, aus denen eigentlich eher eine Gleichheit aller Menschen abzuleiten wäre. Dies gilt z.B. auch für Kants Philosophie und insbesondere für seine Religionsphilosophie. In der Tat hätte Kant in der Religionsschrift keine so wichtige Rolle in der menschlichen Gesellschaft dem historischen Glauben einräumen dürfen, mit der argumentativ nicht stringenten Begründung, dass das Volk einen solchen Glauben braucht, weil es nicht imstande ist, die Vernunftreligion, die Kant wohl als die einzig richtige Form von Religion hielt, als die eigene Religion anzunehmen (1).
Dies sind nur einige Beispiele aus der Geschichte der Philosophie, die zeigen, wie auch die großen Philosophen bei der Herausbildung ihrer, für ihre Zeit sehr revolutionären Auffassungen, irgendwann auf einen Punkt gestoßen sind, an dem sie mit der Deduktion der Schlüsse aus den angenommenen Prinzipien aufgehört haben und mehr oder weniger gravierende Konzessionen an die Mentalität und die Vorurteile ihrer Zeit gemacht haben.
Dies ist selbstverständlich auch bei Hegel geschehen. Die Anschuldigungen von Marx gegen ihn aufgrund seiner Akkomodation (2) sind von Ilting im Grunde genommen als historisch wahr bewiesen worden (3). Auch Hegels Passatismus (4) sowie im allgemeinen die Tendenz des Berliner Hegel, den Einklang mit dem offiziellen Christentum und mit dem preußischen Staat auf jeden Fall zu suchen, wenngleich dies nicht ohne weiteres auf eine logisch-dialektische Weise zu begründen war (5), lassen sich nur als Konzessionen von Hegel an den Zeitgeist (6), an den Glauben seiner Frau und seiner Kinder, sowie im allgemeinen an seinen nicht gerade mutigen Charakter (7) erklären. Diese Makel betreffen aber nicht den ’Geist’ von Hegels Philosophie, also die Schlüsse, die wir heute aus den Hauptprinzipien seiner Philosophie mit einer anderen, von der damaligen Zeit sehr entfernten und viel offeneren Mentalität ziehen können, sondern allein deren ’Buchstaben’, also die Schlüsse, die Hegel selbst gezogen hat8).
Die Aktualisierung von Hegels Philosophie soll also in erster Linie in der scharfen Trennung zwischen dem ’Geist’ seiner Philosophie, also den Prinzipien und den Hauptschlüssen, die sich eindeutig aus diesen Prinzipien ableiten lassen, und deren ’Buchstaben’, also die weiteren Schlüsse, die Hegel entweder unter psychologischem Druck seitens seiner Gesellschaft gezogen hat, ohne sie aber logisch-dialektisch stringent begründen zu können oder hätte ziehen sollen und aufgrund seiner Ängstlichkeit vor dem preußischen Staat bzw. seiner Rücksicht gegenüber seiner Familie gar nicht gezogen hat.
Eine solche Unterscheidung hat Hegel selbst in bezug auf das Christentum gemacht, indem er in den Jahren 1795-1799 zwischen dem wahren Kern der Botschaft Jesu (Das Leben Jesu, 1795) und deren falscher Überlieferungsform durch die Apostel (Die Positivität der chrislichen Religion, 1796/97) streng unterschieden hat. Seine zusammenfassenden Ergebnisse sind in den Fragmenten zu Der Geist des Christentums und sein Schicksal (1797/99) enthalten.
Auch in Bezug auf Hegels Philosophie sollte man die gleiche Operation durchführen, und zwar unter dem Titel: Der Geist des Hegelianismus und sein Schicksal. Der einzige Unterschied zwischen Jesus und Hegel würde darin liegen, dass Jesus von seinen Aposteln verraten wurde, während Hegel sich selbst verraten hat. Seine Schüler haben durch die Benutzung der Vorlesungsnachschriften für die Veröffentlichung der ersten Ausgabe von Hegels Werken dagegen versucht, Hegels Selbstverrat rückgängig zu machen.
Allein nach einer solchen ’Reinigungs- bzw. Vervollständigungsoperation’ (9) wird man über ein philosophisches System verfügen, das den positiven Wert von Hegels Philosophie als Weisheitslehre aufweisen wird, ohne aber deren negativen Wert, also ohne die unbegründeten Schlüsse mit zu enthalten. Endziel dieser doppelten Operation soll die Erarbeitung einer neuen Fassung der Philosophie des absoluten Idealismus sein.
Die Reinigungs- bzw. Vervollständigungsoperation von Hegels System kann selbstverständlich nicht innerhalb der begrenzten Aufgabe dieses Beitrages durchgeführt werden, dessen Ziel es eigentlich allein war, zu zeigen, dass eine solche Operation den harten Kern einer historisch und systematisch fundierten Aktualisierung von Hegels Philosophie bildet und deshalb die unentbehrliche Voraussetzung für deren Anwendung auf das ethisch-politische Leben unserer heutigen Gesellschaft ausmachen soll.
In Bezug auf die Bezeichnung der neuen, aktualisierten Fassung von Hegels Philosophie ist einiges zu präzisieren. Da einige wichtige Änderungen in Hegels System vorzunehmen sind - wie z.B. in Bezug auf den Begriff ’bürgerliche Gesellschaft’ im vorigen Beitrag ausführlich dargestellt wurde -, ist es besser, eine Bezeichnung zu benutzen, die sich eindeutig auf die Prinzipien von Hegels Philosophie bezieht, ohne sich aber auf Hegels System zu begrenzen. Die Bezeichnung ’Philosophie des absoluten Idealismus’ scheint mir deshalb besser geeignet, eine aktualisierte Fassung von Hegels Philosophie zu definieren. Der Ausdruck ’objektiver Idealismus’, der üblicherweise verwendet wird, um eine solche Denkrichtung zu bezeichnen (10), scheint mir dagegen sowohl historisch als auch systematisch ungeeignet.
In der Tat hat Hegel selbst den Standpunkt des Absoluten (bzw. des Subjekts und des Geistes), den er durch seine Philosophie vertreten hat, gegenüber dem Standpunkt der Objektivität (bzw. der Substanz und der Natur) von Schellings Philosophie scharf unterschieden.
Mit objektivem Idealismus sollte deshalb eine Weltauffassung à la Schelling und Spinoza gemeint werden, nach der das Hauptprinzip der Welt die unendliche Substanz ist. Dabei handelt es sich um eine statische Weltauffassung, die die Entwicklung der Substanz und deren Geistwerden nicht berücksichtigt.
Dagegen ist in Hegels Philosophie des absoluten Idealismus das Hauptprinzip der Welt etwas Dynamisches, und zwar die absolute Idee, die sich zuerst als Natur und dann als Geist entwickelt und erst in diesem letzten Entwicklungsstadium als Subjekt zum vollen Erscheinen kommt.
Es handelt sich dabei um einen enormen Unterschied, der auf keinen Fall nur die Bezeichnung betrifft, da er sich in den verschiedenen Systeminhalten und darunter vor allem in den verschiedenen Menschenauffassungen niederschlägt. Während in Schellings Philosophie der Mensch auf gleiche Ebene mit der Natur gestellt ist, wird von Hegel der Mensch als Geist zur Verkörperung des Absoluten erhoben, da erst in dem Geist das Absolute vollständig erscheint (und zwar als absoluter Geist). Deswegen ist die Sittlichkeit bei Hegel eine absolute Sittlichkeit, da derjenige, der sittlich lebt, nicht der empirische, sondern der absolute Mensch ist, also der Mensch, der in sich das Absolute erkannt und sich mit ihm identifiziert hat.
Diese Welt- und Menschenauffassung hat Hegel genau in Gegenüberstellung zu Schelling in den letzten drei Jahren seines Jenaer Aufenthaltes erarbeitet und gegen ihn verwendet, wie unter anderem die Vorrede zur Phänomenologie des Geistes ausführlich belegt. Sie bildet eigentlich den wesentlichen Unterschied zwischen Hegelianismus und Schellingianismus, also zwischen absolutem und objektivem Idealismus.
Hegels Philosophie bzw. eine aktualisierte Fassung derselben, die sich als Fortsetzung und Umsetzung von Hegels Programm selbst interpretiert (11), als ’objektiven Idealismus’ zu bezeichnen, scheint mir deshalb einen historischen und systematischen Fehler zu enthalten, der nur dahin führt, dass der Erfolg einer solchen Unternehmung aufgrund selbst verursachter Ungenauigkeit eigentlich nur erschwert wird (12).

 

Anmerkungen
1) Darüber s. Einfluß, S. 154-155.
2) Siehe von ihm die bekannte Schrift: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 514: "Es ist hier also eine Inkonsequenz Hegels innerhalb seiner eigenen Anschauungsweise, und eine solche Inkonsequenz ist Akkomodation".
3) Siehe z.B. seine Einführung zu Hegels Vorlesungen über Rechtsphilosophie.
4) Siehe darüber Hösle, 1988, Bd. 2, § 7.1.2 Das Zuspätkommen der Philosophie. Hegels Passatismus und Nihilismus.
5) Eigentlich hätte Hegel sogar das Gegenteil aus den Prinzipien seiner Philosophie schließen müssen, also sich gegen die christliche Religion und gegen den preußischen Staat äußern müssen.
6) Z.B. infolge der Karlsbader Beschlüsse, wie Ilting in der schon erwähnten Einführung ausführlich gezeigt hat (s. den Abschnitt Die Karlsbader Beschlüsse (1819) verzögern die Publikation der "Rechtsphilosophie", S. 43 ff.).
7) Vgl. diesbezüglich den von Ilting zitierten Brief Hegels an Niethammer vom 9. Juni 1921, in dem unter anderem folgendes Zugeständnis Hegels zu lesen ist: "[...] Sie wissen, ich bin einesteils ein ängstlicher Mensch, andernteils liebe ich die Ruhe, [...]" (S. 68).
8) Das Gleiche kann selbstverständlich in bezug auf die anderen zitierten Philosophen gesagt werden. Die Aktualisierung von Plato und Aristoteles im Mittelalter und dann in der Renaissance hat sich auch auf dieser Unterscheidung gegründet, ansonsten wäre es nie möglich gewesen, in einer Zeit, in der die brüderliche Liebe unter den Menschen bzw. die Wiedergeburt des Menschen gefordert wurden, sich auf Philosophen zu berufen, die sich für die Sklaverei ausgesprochen hatten.
9) Bei der Reinigung handelt es sich um die Ausmerzung von logischdialektisch unbegründeten Schlüssen, während es bei der Vervollständigung um die Ergänzung von Schlüssen geht, die von Hegel nicht gezogen wurden, wenngleich sie aus den logisch-dialektischen Hauptprinzipien stringent hätten folgen müssen (s. darüber den folgenden Beitrag).
10) Vgl. z.B. Hösle, 1988, Bd. 2, S. 665, Fußnote 2: "Von Inkonsistenzen in der Durchführung abgesehen ist ohnehin klar, dass Hegels System in seiner konkreten Form ein endgültig Vergangenes ist - [...]. Eine andere Frage aber ist, ob nicht diese neuen Resultate mit einem System vom Typ des objektiven Idealismus kompatibel sind." (Vgl. auch Bd. 1, S. 57, Fußnote 77).
11) Wie dies z.B. Hösle (1988, Bd. 1) im Paragraphen 2.3 Hegels Systemprogramm. Möglichkeiten seiner immanenten Kritikausdrücklich tut.
12) Hier wird selbstverständlich nur die von Hösle ausgesuchte Bezeichnung und keinesfalls das darunter gemeinte Programm kritisiert, das dagegen als eines der größten und ernsthafteren Resultate der Philosophie in den letzten Jahren zu betrachten ist. An dieser Stelle sei Vittorio Hösle für seine Unternehmung Anerkennung ausgesprochen und ein für alle Male gleichzeitig auch erklärt, dass jede Kritik von mir an Denkern, die sich für die Aktualisierung von Hegels Philosophie mutig einsetzen, konstruktiv, als gemeinsamer Gang auf dem gleichen Wege, und nicht destruktiv, als Suche nach einem individuellen, persönlichen Wege, verstanden werden muss.

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