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1995C7: Von der Weisheit zur Wissenschaft:  Hegels philosophischer, dialektischer Werdegang

1995C7: Von der Weisheit zur Wissenschaft:  Hegels philosophischer, dialektischer Werdegang

 

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1995

Hegels Philosophie als Weisheitslehre

Beitrag 7

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Von der Weisheit zur Wissenschaft: 
Hegels philosophischer, dialektischer Werdegang

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Digitaler Text hier unten

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In Hegels philosophischem Werdegang nimmt der Brief an Schelling vom 2. November 1800 (1) eine zentrale Stelle ein. Grund dafür ist, dass Hegel darin seine bisherige Entwicklung kurz skizziert und sich vor allem über die Wende äußert, die sich in seinem Denken gerade zu der Zeit ereignete:
"In meiner wissenschaftlichen Bildung, die von untergeordneten Bedürfnissen der Menschen anfing, mußte ich zur Wissenschaft vorgetrieben werden, und das Ideal des Jünglingsalters mußte sich zur Reflexionsform, in ein System zugleich verwandeln; ich frage mich jetzt, während ich noch damit beschäftigt bin, welche Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen zu finden ist." (S. 59-60)
Diese Stelle weist auf einen dialektischen Prozess in Hegels Entwicklung hin:
1. Phase (Affirmation): Hegel interessiert sich für die "untergeordneten Bedürfnisse der Menschen" und erarbeitet das Ideal der Stiftung einer neuen Volksreligion;
2. Phase (1. Negation): Hegel setzt dieses Ideal in eine systematische Form um;
3. Phase (2. Negation bzw. Negation der Negation): Hegel kehrt zu seinem ursprünglichen Interesse zurück, und zwar jetzt in der systematischen Form, die er durch die zweite Phase gewonnen hat.
Das Fragment Fortsetzung des Systems der Sittlichkeit (1802/1805) bildet den Zeitpunkt, an dem sich Hegel bewusst zeigt, das ursprüngliche religiöse Ideal durch sein System verwirklicht und dadurch die Rückkehr zu den "untergeordneten Bedürfnissen der Menschen" erfolgreich durchgeführt zu haben (2), die er sich zur Zeit der Abfassung des zitierten Briefes wünschte. Dabei sind vor allem drei Aspekte zu bemerken:
- Erstens, es fällt auf, dass Hegel schon zu dieser Zeit, als das dialektische System noch nicht entstanden ist, dialektisch ’denkt’, da er die eigene geistige Entwicklung dialektisch interpretiert.
- Zweitens, Hegel zeigt sich schon dessen bewusst, dass sich sein Denken von den Tiefen der "untergeordneten Bedürfnisse der Menschen" zu den Höhen der Systematik erhoben hat. Deswegen, obwohl das System in der endgültigen Form sicherlich noch nicht entstanden ist, zeigt er sich hier, subjektiv betrachtet, schon als ein systematischer Philosoph und nicht mehr als Religionstheoretiker bzw. denkender Historiker, wie es bis zu diesem Zeitpunkt der Fall ist (3).
- Drittens, es ist in Hegels Denkentwicklung eine Kontinuität festzustellen. In der Tat beweist die zitierte Briefstelle, dass Hegel selbst seine Entwicklung zumindest bis 1800 als kontinuierlich betrachtet hat. Er hatte mit Studien über die Religion und die "untergeordneten Bedürfnisse der Menschen" angefangen, ist dann von diesen Studien zur Wissenschaft vorgetrieben worden, und beabsichtigte nun, zu den ersten zurückzukehren. Dieser Prozess des Zurückkehrens darf allerdings keinesfalls als Rückschritt zu einer früheren Phase seiner Entwicklung betrachtet werden, sondern als Fortschritt, da er dabei alles behalten hat, was er während der zweiten Phase erreicht hatte, also die systematische Form der Wissenschaft.
Wenn wir nun in bezug auf diese kontinuierliche, dialektische Entwicklung von Hegels Denken die Frage stellen, worin diese im wesentlichen bestand und wie sie in wenigen Worten zusammenzufassen ist, können wir folgende Antwort geben: Die zweite Phase, wie Hegel selbst sie in dem Brief schildert, kann als die Phase des Systems bzw. - in Hegels Sprache - der ’Wissenschaft’ bezeichnet werden; die erste Phase, die in Hegels Interesse für die "untergeordneten Bedürfnisse der Menschen" besteht, müsste dementsprechend als die ’nicht systematische bzw. nicht wissenschaftliche’ Phase definiert werden; die dritte schließlich als ’Einheit von Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft’.
Bei der eben vorgeschlagenen Definition der dritten Phase könnte aber eine leichte Verwirrung entstehen, da wir wissen, dass Hegel in seinen späteren Werken den Akzent entschieden darauf gesetzt hat, dass seine reife Philosophie eine Wissenschaft sei. Wenn wir aber seine gesamte Entwicklung unter dem Gesichtspunkt jenes zentralen Briefes betrachten, sind wir gezwungen, den Schluss zu ziehen, dass Hegels spätes System nicht ausschließlich ’Wissenschaft’ ist, sondern darin Elemente enthalten sein müssen, die sich auf die "untergeordneten Bedürfnisse der Menschen" beziehen und in keinem unmittelbaren Bezug zur Philosophie als Wissenschaft stehen.
Um diese Problematik zu lösen, ist es notwendig, der Frage nachzugehen, welcher Begriff bzw. welche Auffassung der Philosophie und des Wissens überhaupt hinter dem Gedanken von "untergeordneten Bedürfnissen der Menschen" steht. Es ist mit anderen Worten zu fragen, welche Auffassung der philosophischen Tätigkeit der Auffassung als ’Wissenschaft’ in Hegels Entwicklung vor dem 2. November 1800 vorherging. Der Ausdruck ’Nicht-Wissenschaft’, der hier bisher benutzt wurde, ist, sozusagen, als eine vorübergehende Variable anzusehen, die durch den Fortschritt dieser Untersuchung durch einen positiven und nicht bloß negativen Begriff ersetzt werden soll.
Die Lektüre und Interpretation von Hegels Schriften bis November 1800 zeigt, dass er sich hier - für den Kenner von Hegels spätem System erstaunlicherweise - sehr entschieden gegen die Wissenschaft äußert. Dies wird am besten durch die Entgegensetzung von subjektiver und objektiver Religion, die er hauptsächlich von Fichtes Offenbarungsschrift übernimmt, deutlich. Die erste, die sich auf das Herz gründet, ist ’lebendig’ und ’warm’, die zweite, die sich dagegen auf den Verstand gründet, ’tot’ und ’kalt’. Die erste ist nützlich für den Menschen, die zweite kann sogar schädlich für ihn sein.
Die objektive Religion bzw. Theologie wird von Hegel als die ’Wissenschaft’ von Gott, der Unsterblichkeit der Seele usw. betrachtet. Er wendet sich also gegen das Wissen als Wissenschaft, wenn er in diesen Texten Stellung gegen die objektive Religion nimmt. Die subjektive Religion ist dagegen das Wissen nicht als etwas Theoretisches, sondern Praktisches. Sie findet ihren Ausdruck nicht in bloßen Worten und Gedanken, sondern in Taten. Als solche ist die subjektive Religion keine ’Wissenschaft’, sondern ’Weisheit’.
Dieser Unterschied wird von Hegel an einer sehr schönen Stelle ausgedrückt, die sich im Bogen g von Text 16 und deshalb noch innerhalb der Auffassung der Religion als ’Sache des Herzens’ befindet (4):
"Etwas anderes als Aufklärung, als Räsonnement ist Weisheit - Aber Weisheit ist nicht Wissenschaft - Weisheit ist eine Erhebung der Seele, die sich durch Erfahrung verbunden mit Nachdenken über Abhängigkeit von Meinungen wie von den Eindrükken der Sinnlichkeit erhoben hat, und nothwendig, wenn es praktische Weisheit, nicht blosse selbstgefällige oder prahlende Weisheit, von einer ruhigen Wärme, einem sanften Feuer begleitet seyn mus; sie räsonnirt wenig, sie ist auch nicht methodo mathematica von Begriffen ausgegangen, und durch eine Reihe von Schlüssen in barbara et barocco zu dem, was sie für Wahrheit nimmt gekommen - sie hat ihre Überzeugung nicht auf dem allgemeinen Markt eingekauft, wo man das Wissen an jeden, das richtig bezahlt, hergibt, wüste sie auch nicht in blanker Münze, in den gangbarn Sorten auf den Tisch wieder hin zu zählen - sondern spricht aus der Fülle des Herzens." (GW 1, S. 97,8-19)
Diese Textstelle ist sehr wichtig und unentbehrlich für eine richtige Hegelinterpretation, und zwar nicht nur der Jugendschriften, sondern auch, unter der Perspektive des Briefes an Schelling vom 2. November 1800 betrachtet, des reifen Systems. In der Tat hat es sich sehr gelohnt, sie vollständig zu zitieren, da sie alle Begriffe enthält (Weisheit, Wissenschaft, Wissen), die im Spiel sind. Hegel macht hier den Unterschied deutlich, den er zwischen Weisheit und Wissenschaft sieht: Die Weisheit "spricht aus der Fülle des Herzens", sie kommt aus der Erfahrung "verbunden mit Nachdenken" und ist nicht mit dem bloßen Wissen zu verwechseln. Während das Wissen von jedem erworben werden kann (wie auf dem Markt, wo jeder, der Geld hat, alles kaufen kann, was er möchte), kann die Weisheit nicht gekauft werden, sondern sie soll sich aus dem Leben selbst, also aus der eigenen, gelebten Erfahrung und aus dem eigenen Nachdenken spontan entwickeln.
Dieser Gedanke wird von Hegel an mehreren Stellen in den Texten der Jahre 1792/93-94 wiederholt und bildet eigentlich den Kern seines Jugendideals. Hegels ganze Entwicklung in der Stuttgarter Zeit von 1785 bis 1788 und dann vor allem der Einfluss von Rousseau durch den Émile in den Jahren 1789-1792 haben in der Tat entscheidend dazu geführt, dass er eine Welt- und Menschenauffassung schon vor dem Einfluss von Kant auf ihn, der erst ab 1792/93 wirkte, herausgebildet hatte. In dieser Auffassung gab es keinen Platz für eine Interpretation des Wissens und der Philosophie als ’Wissenschaft’. Was für Hegel von Wichtigkeit war, war dagegen - und dies eindeutig Rousseau folgend - allein die Weisheit. Der Einfluss von Fichte ab dem Herbst 1792 hat zu dieser schon vorhandenen Auffassung die religionsphilosophisch klare Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Religion hinzugefügt, aber sie keinesfalls gebildet.
Was die Jahre zwischen 1792/93-1794, als Hegel die Texte verfasste, in denen das Ideal der Stiftung einer neuen Volksreligion explizit formuliert ist (5), und 1800, als von ihm der zitierte Brief geschrieben wurde, angeht, so ist eigentlich keine wichtige Veränderung in Hegels Auffassung des Wissens als ’Weisheit’ zu bemerken. Erst mit dem Systemfragment von Sommer 1800 erarbeitet Hegel eine erste systematische Schrift und scheint sich deshalb der Interpretation der Philosophie bzw. des Wissens als ’Wissenschaft’ anzunähern, wie es der Brief an Schelling zur Sprache bringt.
Ein Blick auf die frühen Schriften Hegels ermöglicht uns also, eine Antwort auf die oben gestellte Frage nach der Auffassung von Philosophie und Wissen zu geben, die hinter dem Gedanken von "untergeordneten Bedürfnissen der Menschen" steht. Der vorübergehend nur negativ definierte Begriff von ’Nicht-Wissenschaft’ soll durch den positiv definierten Begriff von ’Weisheit’ ersetzt werden. Wenn Hegel am 2. November 1800 schreibt, dass er zu den "untergeordneten Bedürfnissen der Menschen" zurückkehren möchte, meint er damit, dass er von der Form des Wissens als ’Wissenschaft’, in der sich sein Denken zur Zeit ausdrückt, zurück zum Wissen als ’Weisheit’ zurückkehren möchte. Dies bedeutet aber selbstverständlich nicht, dass er die systematische Form des Wissens als ’Wissenschaft’ von diesem Zeitpunkt an ablehnen wollte. Wenn es so gewesen wäre, hätte Hegel niemals das philosophische System gegründet und somit die Philosophie als ’Wissenschaft’ weiter betrieben, was er allerdings bis zum Ende seines Lebens ununterbrochen praktizierte. Es bedeutet eher, dass er sich zum Zeitpunkt der Abfassung des zitierten Briefes bewusst war, dass er sich durch seine Überlegungen in den letzten Jahren von seinem ursprünglichen Ideal der Stiftung einer neuen Volksreligion allmählich entfernt hatte. Er spürte nun aber das Bedürfnis, den ursprünglichen Sinn seines Philosophierens wiederzufinden, und genau dies kommt zur Sprache, wenn er schreibt: "[...] ich frage mich jetzt, [...], welche Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen zu finden ist."
In der Tat beabsichtigte Hegel durch das Programm (6) der Stiftung einer neuen, auf Vernunft gegründeten Volksreligion, weder Kenntnisse über Gott, Unsterblichkeit der Seele usw. zu gewinnen, wie seine Kritik an der objektiven Religion bzw. Theologie eindeutig zeigt, noch den Menschen ein Trostmittel anzubieten, sondern ausschließlich folgendes: die Menschen als ’Weise’ zu bilden bzw. ’Weisheit’ in Form einer natürlichen Moralität in den Menschen zu befördern (7).
Wenn Hegel 1800 schreibt, dass er den Weg "zum Eingreifen in das Leben der Menschen" wiederfinden möchte, ist das genau dieser ursprüngliche Sinn seines Philosophierens, der sich in seinem Bewusstsein wiedermeldet. In der Tat hat Hegels Entwicklung von 1794 bis 1800 den Sinn gehabt, jene Forderung nach einer neuen Religion, die die natürliche Moralität in den Menschen befördern könnte, von einer noch religiösen, auf Vorstellungen gegründeten Sprache, in der sie sich gebildet hatte, in eine philosophische, auf Begriffe gestützte Terminologie zu transponieren8).
Dieser Prozess hat sich aber nicht vollständig bewusst, sondern zum Teil unbewusst vollzogen! Hegels historische Studien über das Christentum zwischen 1794 und 1800 (9) weisen in der Tat zwei Ebenen auf:
- Eine erste Ebene, die in der bewussten Forschungstätigkeit Hegels besteht, d.h. in der Untersuchung der Frage nach der echten, ursprünglichen Bedeutung des Christentums als Religion der Liebe (1795) und den Ursachen von dessen Ende als Aberglaube (10) (1796) sowie schließlich in der Zusammenfassung dieser Ergebnisse als Reinschrift für die geplante, aber nicht vollzogene Veröffentlichung (1797-1799).
- Eine zweite Ebene, die dagegen in dem teilweise unbewussten Prozess besteht, der sich hinter dieser bewussten Forschungstätigkeit vollzogen hat und sich als Transponierung der religiösen Hauptvorstellungen der ursprünglichen Lehre Jesu (Gott, Liebe) in die entsprechenden philosophischen Begriffe (das Absolute, absolute Sittlichkeit) entfaltet.
Genau dieser zweiten Ebene, die über lange Zeit in der unbewussten Tiefe von Hegels Geist geblieben war und die die von ihm selbst nicht gleich begriffene treibende Kraft seiner historischen Untersuchungen ausgemacht hatte, wurde Hegel sich in der Zeit der Fassung des Briefes an Schelling allmählich bewusst.
Die zwei Elemente des Prozesses der Transponierung, die religiösen Vorstellungen und die philosophischen Begriffe, entsprechen zwei Hauptperioden in Hegels Entwicklung: die Periode der historischen und systematischen Studien über die Religion (1785-1800) und die Periode des Aufbaus des Systems (1800-1831). Diesen zwei Elementen und den zwei diesbezüglichen Perioden entspricht außerdem auch das Begriffspaar Weisheit-Wissenschaft: Die Weisheit entspricht selbstverständlich der ersten Phase, während die Wissenschaft der zweiten entspricht (11).
Die Zeit der Abfassung des Briefes an Schelling ist genau die Zeit von Hegels Bewusstwerden dieses Prozesses, also der - zum Teil sich schon vollzogenen - Transponierung der religiösen Vorstellungen in philosophische Begriffe, und schließlich der Umwandlung seiner Grundauffassung von der Philosophie als Weisheit zu der Philosophie als Wissenschaft. Eben dieses Bewusstsein Hegels kommt in dem zitierten Brief zur Sprache.
Die Rückkehr zu der Auffassung des Wissens als ’Weisheit’ der früheren Phase hat für Hegel also die Bedeutung einer Rückkehr zu den Wurzeln der eigenen philosophischen Identität gehabt. Dabei verfolgte er das Ziel, diese Identität, die er während des Transponierungsprozesses vorübergehend verloren hatte, wiederzugewinnen und in das philosophisches System, das er sich aufzubauen anschickte, einzubringen. Diese Rückkehr ist deshalb nicht vergangenheits-, sondern zukunftsorientiert gewesen, d.h. Hegels Rückblick auf die Vergangenheit hat dazu gedient, genau das wieder in seinem Besitz zu nehmen, was bei dem
Prozess der Transponierung der religiösen Vorstellungen in philosophische Begriffe, also bei der Erhebung des Wissens von der Form der Weisheit zu der der Wissenschaft vorübergehend in den Hintergrund seines Bewusstseins gerückt war.
In der Zeit nach dem 2. November 1800 hat Hegel folglich beide Auffassungen der Philosophie und des Wissens, die ’Weisheit’ und die ’Wissenschaft’ vereinigt. Hegels philosophisches System enthält deshalb beide Momente in sich, sowohl die Wissenschaft als auch die Weisheit. Das Wissen als ’Wissenschaft’ ist in der "Reflexionsform" des Systems enthalten, und zwar in der Dialektik, die die Autonomie und die Selbstbegründung des Systems gewährleistet (12). Das Wissen als ’Weisheit’ ist dagegen in dem Inhalt des Systems enthalten, und zwar vor allem in der Philosophie der Sittlichkeit. Diese zeichnet in der Tat die Grundlinien einer ethischen Auffassung nach, die anstrebt, durch das zugrundeliegende Prinzip der echten Freiheit als Einheit von sinnlichen und intellektuellen Komponenten, von Recht und Pflicht eine natürliche und deshalb ’weise’ Lebensführung in den Menschen zu fördern.
Aufgrund der Tatsache, dass sie in sich das Wissen sowohl als ’Wissenschaft’ als auch als ’Weisheit’ enthält, ist Hegels Philosophie deshalb als ’Weisheitslehre’ zu betrachten: Sie ist wissenschaftlich aufgebaut und deshalb durch die Vernunft überprüfbar, zielt aber darauf, in den Menschen nicht lediglich bloßes Wissen, sondern vor allem echte Weisheit zu fördern, und zwar dies in Form von Sittlichkeit.
Damit hat Hegel das Kantische Ideal der Philosophie als Einheit von Wissenschaft und Weisheit umgesetzt, wie dieses der Königsberger in der Kritik der reinen Vernunft formuliert hatte (13). Was dies für unser heutiges Philosophieren bedeutet und ob es Hegel gelungen ist, diese schwierige, aber bedeutungsvolle Unternehmung erfolgreich zu vollziehen, wird das Thema des folgenden Beitrages sein. Zweck dieses Beitrages war lediglich zu verstehen, wie Hegels Werdegang unter dem Gesichtspunkt des zentralen, an Schelling gerichteten Briefes vom 2. November 1800 interpretiert werden soll. Diesbezüglich ist der folgende, zusammenfassende Schluss zu ziehen: Hegels Denkentwicklung soll als Werdegang von der Weisheit über die Wissenschaft zur Weisheitslehre gekennzeichnet werden. Diese drei Phasen sind untereinander dialektisch aufgebaut: Die erste Phase ist die Affirmation, die zweite die Negation und die dritte die Negation der Negation und somit die Rückkehr zu der ersten Phase, angereichert aber durch den Beitrag der zweiten Phase. Hegels System, als Ergebnis dieser dialektischen Entwicklung, ist eine ’Weisheitslehre’, deren Wesen darin besteht, den Anspruch zu erheben, in den Menschen Weisheit zu fördern, und dies auf eine wissenschaftliche Art, so dass jeder Mensch zur Weisheit durch Studium, durch Lernen, also letztendlich durch Wissen geführt werden bzw. sich selber führen kann.

 

Anmerkungen
1) In: Briefe, Bd. 1, S. 58-60
2) Es wird hier erst einmal noch keine chronologisch genaue Umgrenzung der verschiedenen Phasen vorgelegt, sondern es werden nur die verschiedenen Richtungen in der Entwicklung von Hegels Denken skizziert, und dies vor allem insofern er sich deren bewusst war. Die zitierte Stelle weist diesbezüglich darauf hin, dass sich Hegel zu der Zeit anschickte, eine Vermittlung (in der Terminologie der Wissenschaft der Logik: Negation der Negation) zwischen dem Ideal der frühen Phase (Affirmation) und dessen Umsetzung in eine wissenschaftliche Form in der mittleren Phase (1. Negation) durchzuführen. Was die Periodisierung betrifft, werde ich mich in einer anderen Studie darüber ausdrücklich äußern, die in Kürze in italienischer und deutscher Sprache mit dem Titel Lo sviluppo immanente del pensiero di Hegel: la nascita ed il significato del suo sistema filosofico (Die immanente Entwicklung von Hegels Denken: Die Entstehung und die Bedeutung seines philosophischen Systems) erscheinen wird. Auf diese Arbeit, die die Überarbeitung meiner italienischen ’tesi di laurea’ (Magisterarbeit) sein wird, wird hier verwiesen (diesbezüglich s. auch die Anmerkung 11 zu diesem Beitrag, in der die Chronologie der verschiedenen Phasen angegeben wird).
3) Als Schnittpunkt zwischen den Schriften zur Religionstheorie bzw. -geschichte und den systematischen Abhandlungen der frühen Jenaer Jahre ist mit Sicherheit das Systemfragment zu betrachten, worauf sich Hegel in dem zitierten Brief anscheinend bezieht.
4) Über die Unterscheidung zwischen Hegels Auffassungen der Religion als ’Sache des Herzens’ (in den Bögen a-g von Text 16) und als ’Vernunftreligion’ (in den Bögen h-l von demselben Text) s. Einfluss, S. 109 ff.
5) Die endgültige, ausdrückliche Formulierung dieses Ideals findet sich in dem Text 26 von GW 1 (s. darüber Einfluss, S. 169-170).
6) Über die Interpretation von Hegels Jugendideal als seinem philosophischen Lebensprogramm s. den Beitrag 6 in der vorliegenden Arbeit.
7) ’Weisheit’ kann in Hinblick auf Rousseau als Synonym für ’natürliche Moralität’ betrachtet werden. Der Begriff ’natürliche Moralität’ ist von mir in Einfluss ausführlich behandelt worden (s. z.B. S. 178-180). Was den Ausdruck ’Beförderung der Moralität’ betrifft, s. Einfluss, S. 79 ff.
8) In meiner italienischen Magisterarbeit (s. oben Anm. 2) sind die verschiedenen Stufen dieses Prozesses der Transponierung der religiösen Vorstellungen in philosophische Begriffe ausführlich nachgezeichnet worden. Hier konnte gezeigt werden, dass Hegel dabei die Hauptvorstellungen der christlichen Religion (Gott und zwischenmenschliche Liebe) in philosophische Begriffe (das Absolute und die Sittlichkeit) umgesetzt und schließlich hierauf sein System gegründet hat.
9) Es handelt sich um folgende Studien:
Das Leben Jesu (1795)
Fragmente zu: Die Positivität der christlichen Religion (1796)
Fragmente zu: Der Geist des Christentums und sein Schicksal (1797-1799).
Für eine vollständige Auflistung mit Chronologie s. Schüler, 1963.
10) In Hegels Terminologie: Positivität
11) Hegels Entwicklung gliedert sich, genauer gesagt, in drei Hauptperioden, deren chronologische Reihenfolge folgendermaßen wiederzugeben ist:
1. Phase: Herausbildung des Jugendideals der Stiftung einer neuen vernünftigen Volksreligion (1785-1794);
2. Phase: Gewinn der Hauptbegriffe der neuen Volksreligion durch die Transponierung der Hauptvorstellungen der christlichen Religion (Gott, Liebe) in philosophische Begriffe (das Absolute, absolute Sittlichkeit) (1795-1803);
3. Aufbau des Systems auf der Grundlage dieser Hauptbegriffe und somit Verwirklichung des Jugendideals (1803-1831).
12) Hegels Begründung der Dialektik als Grundstruktur der Philosophie als Wissenschaft befindet sich vor allem in den Vorreden zur Phänomenologie und zur Wissenschaft der Logik.
13) Siehe Vorwort, Anm. 6.

 

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