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DRITTE PHASE : Umwandlung der religiösen Grundvorstellungen  der Originalbotschaft Jesu  in die ents

DRITTE PHASE : Umwandlung der religiösen Grundvorstellungen  der Originalbotschaft Jesu  in die ents

 

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DRITTE PHASE 

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Umwandlung der religiösen Grundvorstellungen 
der Originalbotschaft Jesu 
in die entsprechenden philosophischen Begriffe

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Zeitlicher Rahmen: 1797-1802
Hauptquellen: Texte der Frakfurter Zeit; Jenaer Kritische Schriften
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(Bitte beachten Sie: Die Endnoten müssen noch überarbeitet werden!)

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Einführende Bemerkungen

1796 ist Hegel also in der Frage nach der Vernünftigkeit der ethisch-religiösen Originallehre Jesu zu diesem ersten Ergebnis gelangt: die Positivität dieser Lehre entspricht nicht ihrem Wesen, sondern ist ein äußerlicher Aspekt, der auf ihre Vorstellungsform zurückzuführen ist. Diese steht wiederum mit dem jüdischen Ursprung dieser Religion in Zusammenhang.
In den beiden folgenden Jahren setzt Hegel seine Überlegungen über die Vernünftigkeit der ethisch-religiösen Lehre Jesu fort und verfasst einige Texte, die von Nohl unter dem gemeinsamen Titel Der Geist des Christentums und sein Schicksal überliefert wurden. Dank der wissenschaftlichen Ausgabe in GW 2 wissen wir heute, dass es sich um mehrere, nicht immer zusammenhängende Texte handelt.  Es sind vorwiegend die Texte ab 48 (Fortsetzung) (1).
Diese Texte enthüllen ebenso wie der Verlauf des Hegelschen Denkens in diesen beiden Jahren einen zweifachen, historischen und philosophischen, Aspekt:

- Einerseits sind sie als eine historische Zusammenfassung der Gedanken und Schlussfolgerungen des jungen Philosophen zum Wesen und zum Ursprung der christlichen Religion zu sehen;

- Andererseits kennzeichnen diese Fragmente gleichzeitig den Beginn der philosophischen Konstruktion der neuen ethisch-religiösen Theorie Hegels, die dann im ersten vollständigen, wenn auch noch nicht definitiven, philosophischen System aus den Jahren 1805/06 realisiert werden wird.

Die historische Ebene, die den Fragmenten den Grundton verleiht und in diesen beiden Jahren die bemerkenswerteste Ebene in der Entwicklung des Hegelschen Denkens ist, besteht aus der Zusammenfassung der Hegelschen Studien über den Ursprung der christlichen Religion. Diese Zusammenfassung bildet gleichzeitig das endgültige Urteil über diese Lehre, zu dem der junge Denker nach zumindest vier Jahren intensiven Nachdenkens kam, wobei die beiden letzten Jahre ausschließlich dem Vergleich zwischen dem ursprünglichen und dem historisch entwickelten, positiven Christentum gewidmet waren. Dieses Urteil stellt also seine definitive und vollständige Antwort auf die Frage nach der Vernünftigkeit der ursprünglichen Botschaft Jesu dar. Diese Frage hatte er sich nach der Verfassung der Schrift über Das Leben Jesu gestellt.
Hegel stellt im ursprünglichen Predigen Jesu zwei Komponenten fest: 

- Die erste entspricht dem ewig wahren Inhalt seiner Botschaft und seiner Definition vom „Geist“ des Christentums (es handelt sich um den Inhalt dieser Lehre, den er bereits mit seinen Überlegungen in den Jahren 1794-1795 verstanden hatte);

- Die zweite entspricht der Form, in der Jesus die ewig wahre Botschaft seiner Lehre formuliert und zum Ausdruck gebracht hat. Diese Form ist nicht ewig wahr, sondern bezieht sich vielmehr auf die historische Periode ihres Erscheinens. Es handelt sich dabei um die auf Vorstellungen basierte oder mythologisch-symbolische Form, die von Hegel bereits in den Texten zur Positivität der christlichen Religion erkannt wurde. 

Die zweite Komponente hat im Laufe der Jahrhunderte als Wahrheitswert den Platz des von ihr ausgedrückten Inhaltes eingenommen und so die „natürliche“ Originalbotschaft Jesu in eine „positive“ umgewandelt. So wie der Inhalt der Botschaft Jesu den „Geist“ des Christentums darstellt,  entspricht die darstellende und positive Form dem „Schicksal“, das, wie wir gesehen haben, nicht mit dem Inhalt der ethisch-religiösen Lehre Jesu, sondern mit den historischen Gegebenheiten ihrer Entstehung zusammenhängt. 
Diese Überlegungen kennzeichnen also das Ende des Prozesses der gründlichen Analyse des Christentums, die der junge, aber schon extrem tiefgründige Philosoph durchführte, um zu einem historisch und wissenschaftlich fundierten und somit definitiven Urteil über diese Religion zu gelangen. Ihm blieb es nun keine andere Möglichkeit, als den Weg der Geschichte zu verlassen und den der theoretischen Überlegungen zu beschreiten, also zum Aufbau einer neuen ethisch-religiösen Lehre überzugehen, die frei von jenen „Defekten“ der christlichen Lehre sein sollte, die sie unweigerlich zur Positivität „verurteilten“. Das wird das Ziel der nachfolgenden Entwicklung des Hegelschen Denkens sein.

Parallel zur Bildung eines zusammenfassenden Urteils über die Beziehung zwischen natürlichem „Geist“ und positivem „Schicksal“ des Christentums beginnt Hegel in der Tat in diesen Jahren, etwa 1797, mit der Ausarbeitung der Grundbegriffe seiner eigenen ethisch-religiösen Lehre. 
Dieser Vorgang entspricht der zweiten, eher philosophischen Ebene der Fragmente aus diesen Jahren. Diese besteht aus der Erarbeitung der philosophischen Begriffe aus den religiösen Grundvorstellungen des ursprünglichen Christentums. Hegel beginnt mit der Ausarbeitung dieser Begriffe bei den Vorstellungen der universellen Liebe und des Anbruchs des Reichs Gottes, und wandelt die auf Vorstellung basierte Ausdrucksform in eine begriffliche Form um.
Der logische Inhalt der immanenten Entwicklung des Hegelschen Denkens setzt sich in dieser langen zweiten Phase (1797-1802) der zweiten Periode aus verschiedenen Stadien zusammen, in denen der schwäbische Denker die Grundvorstellungen der ethisch-religiösen Lehre Jesu in die entsprechenden Begriffe umwandelt. Es handelt sich um drei Stadien, das erste von 1797 bis 1799, das Zweite in der Zeit 1799-1800 und schließlich das Dritte von 1801 bis 1802/03.
Am Ende dieser Phase hat Hegel schließlich sowohl das religiöse, rationale und populäre Prinzip als auch das natürliche Ethikideal der neuen ethisch-religiösen Lehre formuliert. Er hatte sich die Gründung dieser Lehre schon seit der Tübinger Zeit vorgenommen. Und das ist nämlich der Moment, in dem Hegel nach seinem „Eintauchen“ in die Geschichte wieder auftauchen und mit der Realisierung seines eigenen Jugendideals beginnen konnte. Die Geschichte hat dem Menschen, der sie bescheiden um Rat gefragt hat, geistige Nahrung zur Verfügung gestellt. 
Bevor er die christlichen Wurzeln seines eigenen Denkens zurückverfolgen konnte, stand Hegel vor dem Problem, ein religiös-metaphysisches Prinzip zur Wiedereinfügung der Vernunft in die Welt zu schaffen, das gleichzeitig populär und rational sein sollte. Mit diesem Prinzip wiederum wollte er das Wesen des Geistes verstehen und so die neue natürliche Moral formulieren und somit sein ursprüngliches Grundideal verwirklichen. Zwischen dem religiös-metaphysi-schen Prinzip und dem ethischen Ideal existiert, wie wir bereits in der ersten Periode der Entwicklung des Hegelschen Denkens gesehen haben, eine präzise logische Beziehung: Die Formulierung des ethischen Ideals hängt nämlich vom Verständnis des religiösen Prinzips ab, und so hängt auch bei diesem Umwandlungsvorgang der christlichen Vorstellungen in die entsprechenden philosophischen Begriffe jede Stufe der Umwandlung der Vorstellung des ethischen Ideals von der entsprechenden Stufe der Umwandlung der Vorstellung des religiöse-metaphysischen Prinzips ab. 

 

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ERSTES STADIUM
(1797 - 1799)

Die Entstehung der dialektischen Ontologie

 

Betrachten wir nun den Inhalt des ersten Stadiums dieses Vorganges, in dem Hegel die religiös-metaphysische Vorstellung der universellen Liebe und die ethische Vorstellung des Anbruchs des Reichs Gottes umwandelte. Nach Ansicht des jungen Denkers stellen sie gemeinsam den ’Geist’ der Botschaft Jesu dar.


ERSTER MOMENT

Umwandlung des religiösen Prinzips:
von der Vorstellung der universellen Liebe
zum Begriff  der Einheit der Gegensätze

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Aufgrund der Abhängigkeit des ethischen Ideals vom religiösen Prinzip führt Hegel den ersten Schritt in diesem Umwandlungsprozess der christlichen Vorstellungen in die entsprechenden philosophischen Begriffe durch: Es handelt sich um das Verständnis des Begriffs, der in der Vorstellung der universalen Liebe implizit aktiv ist.
Folgender Grundbegriff dominiert dieses Stadium: Die Liebe, jegliche Form von Liebe, besitzt die Fähigkeit, zwei Gegensätze zu vereinen. Zu diesem Thema drückt Hegel sich folgendermaßen aus:

„[...] denn sie (gemeint: die Liebe) ist die lebendige Beziehung der Wesen selbst. [...]; die Liebe selbst spricht kein Sollen aus; sie ist kein einer Besonderheit entgegengeseztes Allgemeines; nicht eine Einheit des Begriffs, sondern Einigkeit des Geistes, Göttlichkeit; Gott lieben ist sich im All des Lebens, schrankenlos im Unendlichen fühlen; in diesem Gefühl der Harmonie ist freilich keine Allgemeinheit; denn in der Harmonie ist das Besondre nicht widerstreitend, sondern einklingend, sonst wäre keine Harmonie; [...] nur die Liebe hat keine Grenze, was sie nicht vereinigt hat, ist ihr nicht objektiv, sie hat es übersehen oder noch nicht entwikelt, es steht ihr nicht gegenüber“ (GW 2, S. 229-232). (2)

Noch deutlicher wird der junge Philosoph im Text 49 welchem Zwekke…, der von Nohl richtigerweise unter dem Titel Die Liebe überliefert wurde, da es darin ausdrücklich um dieses Thema gewidmet geht:

„Wahre Vereinigung, eigentliche Liebe findet nur unter Lebendigen die an Macht sich gleich, und also durchaus füreinander lebendige, von keiner Seite gegeneinander todte sind statt; sie schliest alle Entgegensezungen aus, sie ist nicht Verstand, dessen Beziehungen das Mannichfaltige immer als mannichfaltiges lassen und dessen Einheit selbst Entgegensezungen sind; sie ist nicht Vernunft, die ihr Bestimmen dem Bestimmten schlechthin entgegensetzt; sie ist nichts begränzendes, nichts begränztes, nichts endliches; sie ist ein Gefühl, aber nicht ein einzelnes Gefühl; aus dem einzelnen Gefühl weil es nur ein Theilleben nicht das ganze Leben ist drängt sich das Leben durch Auflösung, zur Zerstreuung in der Mannichfaltigkeit der Gefühle, und um sich in diesem Ganzen der Mannichfaltigkeit zu finden; in der Liebe ist diß Ganze nicht als in der Summe vieler Besonderer Getrennter enthalten; in ihr findet sich das Leben selbst, als eine Verdopplung seiner Selbst, und Einigkeit desselben; das Leben hat, von der unentwikelten Einigkeit aus, durch die Bildung den Krais zu einer vollendeten Einigkeit durchlaufen; der unentwikelten Einigkeit stand die Möglichkeit der Trennung, und die Welt gegenüber; in der Entwicklung producirte die Reflexion immer mehr entgegengeseztes, das im befriedigten Triebe vereinigt wurde, bis sie das Ganze des Menschen selbst, ihm entgegensezte, bis die Liebe die Reflexion in völliger Objektlosigkeit aufhebt, dem entgegengesezten allen Charakter eines Fremden raubt, und das Leben sich selbst ohne weitern Mangel findet. In der Liebe ist das getrennte noch aber nicht mehr als getrenntes, als einiges, und das Lebendige fühlt das Lebendige“ (GW 2, Text 49, S. 84-86).

Es war notwendig, diese Stellen vollständig zu zitieren, weil sich darin zweifellos die ursprüngliche Formulierung der Dialektik befindet. Begriffe wie Vereinigung, Entgegensetzungen, Verstand, Vernunft, Begrenztes, Endliches, Teilleben/Leben, Verdoppelung, Einigkeit, Kreis, Reflexion usw. sind dem Kenner des reifen Hegelschen Denkens und insbesondere der Wissenschaft der Logik sehr vertraut, da sie in diesem Teil des philosophischen Systems des Philosophen immer wieder nicht nur in derselben Bedeutung, sondern sogar in derselben sprachlichen Formulierung wie in diesen Fragmenten vorkommen. Der einzige Unterschied zwischen der Auffassung von Dialektik in diesen Jugendtexten und im reifen philosophischen System betrifft den Begriff der ‘Vernunft’, den Hegel in diesem Entwicklungsstadium seines Denkens noch  nicht vom Begriff des ‘Verstands’ getrennt hat, wie aus dem letzten Zitat hervorgeht. In der Wissenschaft der Logik hingegen, wenn er dann den Umwandlungsvorgang der christlichen Vorstellungen in die entsprechenden Begriffe hinter sich haben wird, wird es der Begriff der ‘Vernunft’ sein, natürlich in einer für die Geschichte der Philosophie völlig neuen und originellen Bedeutung, der die vereinigende Funktion übernehmen wird, die in den Frankfurter Fragmenten der Liebe zugeteilt wurde.

In diesem Stadium bringt Hegel also im Begriff der ‘Liebe’ jegliche Form der Aufhebung von Gegensätzen und daher der Vereinigung zum Ausdruck. Die Art von Liebe, die es hier zu betonen gilt, ist vor allem die Beziehung, die in der Religion Jesu Gott mit den Geschöpfen verbindet. Gott hat die Welt nach dem Prinzip der Liebe erschaffen. Nach diesem Prinzip wurden die einzelnen Lebewesen füreinander geschaffen und deshalb besteht zwischen ihnen eine gegenseitige Abhängigkeitsbeziehung. Diese Beziehung stellt die Vernünftigkeit dar, die der Natur zugrunde liegt. Sie ist das Ergebnis von Gottes Handeln nach dem Prinzip der Liebe und daher die Einheit, die den Beziehungen zwischen den vielfältigen und unterschiedlichen Lebewesen der Welt zugrunde liegt. Diese Lebewesen scheinen gegensätzlich zu sein, aber in Wirklichkeit sind sie in einem Ganzen vereint.
Das ist der Grundbegriff dieses ersten Stadiums des Vorgangs der Herausarbeitung des philosophischen Begriffs, der der christlichen Vorstellung der Liebe innewohnt. Die Liebe Gottes zu den Geschöpfen, also das religiös-metaphysische Prinzip der Lehre Jesu, wird daher zum Begriff der vereinenden Vernünftigkeit, die wiederum dem Schöpfungsprozess der Natur innewohnt. Diese Vernünftigkeit manifestiert sich als Einheit der Gegensätze und als ihre wechselseitige Abhängigkeit, also als Grundlage ihres scheinbaren Gegensatzes.

Wie es bereits erwähnt wurde, handelt es sich hier um den Ursprung des Begriffs der Dialektik und insbesondere um die ursprüngliche Formulierung des ‘ontologischen’ Wertes, den die Kategorie der ‘Idee’ in der reifen Philosophie Hegels und vor allem in seiner Logik erhält.

In diesem ersten Stadium des begrifflichen Umwandlungsvorganges der religiös-metaphysischen Vorstellung der Lehre Jesu hat Hegel nämlich die Grundlage für die Formulierung des Begriffs der logischen Idee also des Absoluten geschaffen. Er hat damit begonnen, aus der christlichen Vorstellung der universellen Liebe den darin enthaltenen philosophischen Begriff herauszuarbeiten. Dieser Begriff wird dann am Ende dieses ‚Herausschälungsprozesses‘ das Absolute bzw. die logische Idee sein.

Der implizite Begriff, der  in der Vorstellung der universellen Liebe aktiv ist, ist also die Einheit der Gegensätze, die vereinende Vernünftigkeit, die dem Schöpfungsprozess der Welt zugrunde liegt. Es ist die universelle Dialektik, die nicht nur dem zeitlich und räumlich begrenzten Universums, das den Menschen provisorisch als letztes Ziel der Evolution hat,  sondern auch dem Sein als Sein, unabhängig von Zeit und Ort, innewohnt. 

Weitere Erläuterungen zu diesem ontologischen Wert der Idee werden beim ersten Moment der dritten Periode gegeben, in dem eben genau dieser Begriff diskutiert wird. Es war allerdings schon in diesem Stadium notwendig, zu betonen, wie dieser Begriff der Dialektik oder der universellen Vernünftigkeit aus dem Hegelschen Verständnis und begrifflichen Ausdruck des religiös-metaphysischen Prinzips der universellen Liebe entstanden ist. Durch dieses Prinzip hatte Jesus nämlich den Menschen auf der Ebene von Vernunft und Welt wieder in die Natur eingefügt.

Kommen wir nun zu dem Schritt, mit dem Hegel die ethische Vorstellung vom Anbruch des Reichs Gottes in den entsprechenden philosophischen Begriff umwandelte.

 

ZWEITER MOMENT

Transformation des ethischen Ideals:
von der Darstellung der Ankunft des Reiches Gottes
zum Gemeinschaftsbegriff

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Entsprechend der Formulierung des religiösen Prinzips der Gottesliebe als Einheit der Gegensätze im ontologischen Sinne führt Hegel eine Reihe von dialektischen Überlegungen zur ursprünglich christlichen Vorstellung von der Ankunft des Reiches Gottes an In diesen Jahren entstand die zukünftige Philosophie des objektiven Geistes, der, wie sich später zeigen wird, den ursprünglichen Kern und nicht zufällig auch den bedeutendsten der Philosophie des Geistes darstellt. Dies sind isolierte Anwendungen des ontologischen Prinzips der Einheit der Gegensätze auf Inhalte, die sich auf den Begriff der menschlichen Gemeinschaft beziehen, also auf das von Jesus in seinem ideellen Aspekt definierte ethische Universum „Reich Gottes“.


An erster Stelle wandte er dieses Prinzip auf den Begriff der Eltern-Kind-Beziehung an, deren Diskussion erstmals in dem erwähnten Liebesfragment ("... welchem Zwecke denn alles Übrige dient...") auftaucht Auf mehr oder weniger eingehende Weise wird dann auf die verschiedenen aufeinanderfolgenden Entwürfe der Philosophie des objektiven Geistes (3) zurückgegriffen.

 

„Weil die Liebe ein Gefühl des lebendigen ist, so können liebende sich nur insofern unterscheiden, als sie sterblich sind, als die diese Möglichkeit der Trennung denken nicht insofern als wirklich etwas getrennt wäre, als das Mögliche mit einem Seyn verbunden, ein Wirkliches wäre. An Liebenden ist keine Materie, sie sind Ein lebendiges Ganzes; [...]. Das trennbare, solang es vor der vollständigen Vereinigung noch ein eignes ist, macht den liebenden Verlegenheit, es ist eine Art von Widerstreit zwischen der völligen Hingebung, der einzig möglichen Vernichtung, der Vernichtung des Entgegengesezten in der Vereinigung – und der noch vorhandnen Selbstständigkeit; jene fühlt sich durch diese gehindert – die Liebe ist unwillig über das noch getrennte, über ein Eigenthum; [...] Das eigenste vereinigt sich das noch getrennte in der Berührung, in der Befühlung, bis zur Bewußtlosigkeit, der Aufhebung aller Unterscheidung, das Sterbliche hat den Charakter der Trennbarkeit abgelegt, und ein Keim der Unsterblichkeit, ein Keim des ewig aus sich [sich] entwickelnden und zeugenden ein lebendiges ist geworden. Das vereinigte trennt sich nicht wieder; die Gottheit hat gewirkt, erschaffen– Dieses vereinigte aber ist nur ein Punkt, die liebenden können ihm nichts zutheilen, daß in ihm ein Mannichfaltiges sich befände; [...] der Keim windet sich immer mehr zur Entgegensezung los, und beginnt, jede Stuffe seiner Entwicklung ist eine Trennung, um wieder den ganzen Reichthum des Lebens selbst zu gewinnen: Und so ist nun,  das einige, die getrennten und das wiedervereinigte, die Vereinigten  trennen sich wieder, aber im Kind ist die Vereinigung selbst ungetrennt geblieben“. (GW 2, Text 49, S. 86-91).

 

Im selben Fragment findet sich im nächsten Absatz die dialektische Behandlung der Begriffe Eigentum und Recht, Besitz und Gemeingebrauch; diese Begriffe werden dann ebenso Bestandteil der Philosophie des objektiven Geistes.


Im Text 52 Zu der Zeit da Jesus…, der laut Schüler aus dem Herbst 1798 stammt (4), befindet sich dann die dialektische Abhandlung der Begriffe zum Strafrecht bzw. die Begriffe Schuld, Strafe und Recht (5). Auch diese Begriffe werden später Teil der definitiven Philosophie des objektiven Geistes. (6)


Hierzu ist anzumerken, dass der logische Übergang von der dialektischen Behandlung der Eltern-Kind-Beziehung zu den strafrechtlichen Begriffen in diesem Fragment identisch ist mit dem Übergang, der dann in der endgültigen Ausarbeitung des Übergangs vom Begriff der Familie zum Begriff der bürgerlichen Gesellschaft in der Philosophie des objektiven Geistes erfolgen wird. Dies stellt einen weiteren Beweis für die Kontinuität der Entwicklung von Hegels Denken dar und ergänzt die zahlreichen anderen Beweise, die von uns ich in unseren beiden früheren Hegel-Monographien angeführt wurden.

Schließlich möchten wir noch auf eine wichtige Tatsache hinweisen, die uns auf den Übergang zum zweiten Stadium dieser Phase vorbereitet: Im eben zitierten Text 52 formuliert Hegel auf dialektische Art und Weise den Begriff „Reich Gottes“, der von ihm als Ganzheit gesehen wird, die in ihrem Inneren die Begriffe von Eltern-Kind-Beziehung, Rechtsverhältnis von Eigentum und Gebrauch, Strafrechtsverhältnis von Bestrafung, Schuld und Gesetz usw. einschließt.
Hegel drückt die Vorstellung des Reichs Gottes folgendermaßen aus: 

 

„Das Reich Gottes ist der Zustand, wenn die Gottheit herrscht, also alle Bestimmungen alle Rechte aufgehoben sind.“

(GW 2, Text 52, S. 133, 5-6).

 

Im darauffolgenden Paragraphen bestimmt er die dialektische Beziehung zwischen Gott und der Gemeinschaft noch expliziter:

 

„[...] Gott ist in nichts isolirtem, sondern in lebendiger Gemeinschaft, die im Individuum betrachtet – Glauben an die Menschheit ist, Glauben ans Reich Gottes – Glauben ist das individuelle gegen das lebendige – nicht die Geseze Gottes herrschen, denn Gott und seine Geseze sind nicht zweierlei“ (ebd., S. 133, 17-21).
 

Dieser Begriff der Identität zwischen Gott und seinen Gesetzen ist äußerst wichtig, da er die Grundstruktur des Begriffs des absoluten Geistes darstellt, der sich auf die Identität zwischen individuellem (den Gesetzen) und absolutem Geist (Gott) gründet. Diese Grundstruktur, wie bekannt, schließt das philosophische System Hegels.
Es bildet sich somit langsam das Thema der Beziehung zwischen dem Individuum und dem Allgemeinen in der ethischen Sphäre heraus. Diese Beziehung, vom subjektiven Standpunkt des menschlichen Individuums aus gesehen, wird im Jahre 1800 zum Begriff des ‘religiösen Lebens’. Vom objektiven Standpunkt der Gottheit bzw. des Allgemeinen aus wird sie im Jahre 1802 zum Begriff der ‘absoluten Sittlichkeit’, dem dann im reifen System große Bedeutung zukommen wird.
Einstweilen aber gehen wir weiter logisch und chronologisch vor, und dies führt uns nun zur Analyse des zweiten Stadiums des Hegelschen Umwandlungsprozesses der christlichen Vorstellungen in die entsprechenden philosophischen Begriffe.

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ZWEITES STADIUM
(1799-1800)

Dieses Stadium in der Entwicklung des Hegelschen Denkens ist durch den Übergang von in erster Linie religiösen zu vorwiegend philosophischen und metaphysischen Überlegungen (10) geprägt, und zwar im Sinne einer Kontinuität und nicht eines Bruchs. In der Tat ändert sich weder die Problematik noch die Bedeutung der Überlegungen  Hegels, sondern allein die Form, mit der er diese entwickelt. Es überwiegt nicht mehr die auf Vorstellungen basierte Form der religiösen Erkenntnis, sondern auf Begriffen basierte Form der Philosophie.
Dieser Übergang stellt das Herzstück und das Zentrum in der Entwicklung des Hegelschen Denkens dar, auch weil hier zum ersten Mal ein Begriff auftaucht, der später das wichtigste Merkmal der gesamten nachfolgenden Gedankenentwicklung sein wird: die Systematik. Und tatsächlich ist die wichtigste Quelle dieses Stadiums das sogenannte Systemfragment (heute Text 63 und 64 von GW2): Aus dem überlieferten Titel sind schon die Merkmale ersichtlich, die diesen Text von den anderen uns überlieferten Jugendschriften unterscheidet.
Hegel selbst zeigte sich übrigens im schon berühmten Brief an Schelling vom 2. November 1800 sehr wohl der Tatsache bewusst, dass sich in dieser Periode seiner geistigen Entwicklung eine grundlegende Änderung vollzog, und zwar in der Art und Weise, in der er seine Weltanschauung konzipierte. Zu jenem Tag interpretierte er seine jüngste geistige Entwicklung so:

 

„In meiner wissenschaftlichen Bildung, die von untergeordnetern Bedürfnissen der Menschen anfing, mußte ich zur Wissenschaft vorgetrieben werden, und das Ideal des Jünglingsalters mußte sich zur Reflexionsform, in ein System zugleich verwandeln; ich frage mich jetzt, während ich noch damit beschäftigt bin, welche Rückkehr zum Eingreifen in das Leben  der Menschen zu finden ist“ (Br. 1, S. 58-60). (11)

 

Der Text 64 von GW2 wurde am 14. September des gleichen Jahres fertiggestellt, also gerade 40 Tage vor der Verfassung dieses Briefes. Die autobiographischen Überlegungen Hegels, die er dem Freund und zukünftigen Kollegen mitteilt, gründen sich offensichtlich auf die intellektuellen Fortschritte aus der letzten Periode, die auch in seiner systematischen Schrift, von der uns leider nur wenige Seiten überliefert wurden, enthalten sind.
Das Hauptmerkmal dieses Stadiums ist also zumindest in formaler Hinsicht sicherlich die Systematik. Untersuchen wir nun den Gedankeninhalt dieser Systematik, d.h. den logischen Schritt, der dieses Stadium vom vorhergehenden unterscheidet.
In den Texten zum vorhergehenden Stadium zeigt Hegel, verstanden zu haben, dass sich in der auf Vorstellungen basierten Form, mit der Jesus das religiös-metaphysische Prinzip der universellen Liebe formuliert und ausgedrückt hat, der Begriff der Einheit der Gegensätze als ontologisches Universalprinzip verbirgt. Nun macht er einen weiteren Schritt vorwärts, denn er bestimmt mit größerer Präzision den Begriff, der in der Vorstellung der universellen Liebe enthalten ist: Es handelt sich um den Begriff der Vereinigung von Mensch (als Vernunft) und Gott (als Welt). 
Hegel versteht nämlich durch die Überlegungen aus dem Jahre 1799-1800, die schließlich in der Fertigstellung des Textes 64 ein objektiven Mittelpunkt… von GW2 am 14. September ihren Höhepunkt fanden, dass das religiöse Prinzip der Lehre Jesu die Identität zwischen der menschlichen Vernunft - sicherlich nicht als Intellekt der endlichen Formen der Reflexionsphilosophie verstanden, sondern als spekulative Vernunft des religiösen Erkennens -  und dem unendlichen Geist ist, der sich in der Natur durch ihre verschiedenen Lebewesen entwickelt und verbreitet. Dieser unendliche Geist ist ‚Gott‘, aber nicht als Vorstellung, die auf Glauben begründet ist, sondern als Begriff im pantheistischen Sinne. (12)
Dies ist der wichtigste Inhalt dieses zweiten Stadiums, in dem die Vorstellung des religiös-metaphysischen Prinzips der universellen Liebe in den entsprechenden Begriff umgewandelt wird. Natürlich muss man diesen Begriff noch genauer bestimmen, aber dies ist nicht gerade einfach.
Zunächst einmal weil das Gesamtmanuskript, wovon die Texte 63 und 64 nur wenige Seiten enthalten, schwer verstümmelt bei uns angelangt ist: Von den angeblich 47 (laut Schüler) bzw. 49 (laut dem Herausgeber von GW2) handgeschriebenen Blätter des Originals besitzen wir nämlich zurzeit nur diese zwei Doppelblätter. (13) 
Es gibt außerdem einen weiteren Grund logischer und nicht bloß philologischer Natur, der die Lektüre und Interpretation dieser Texte höchst schwierig macht: Es handelt sich um die Tatsache, dass sie den ersten Versuch Hegels darstellen, sich von der unsystematischen Form der vorhergehenden Texte abzuheben. Deshalb besitzen die zwei Texte weder die diskursive Einfachheit der Texte vor 1800 noch die logische Strenge der definitiv systematischen Veröffentlichungen. Bei ihnen haben wir es hingegen mit empirischen Begriffen, typisch für die frühere Denkform, zu tun, die dazu neigen, langsam die eindeutige Klarheit des systematischen Denkens zu erreichen. Diese Klarheit wird von Hegel in den Texten 63 und 64 allerdings nur teilweise erreicht, da die von ihm verwendete, großenteils religiöse Sprache natürlich nicht dazu geeignet ist, um den jetzt schon eindeutig philosophischen und systematischen Gedankeninhalt auszudrücken.
Dieser Gegensatz zwischen philosophischem Gedankeninhalt und religiöser Form des sprachlichen Ausdrucks ist die Ursache für die erwähnten Interpretationsschwierigkeiten bei diesen Texten Hegels. Versuchen wir trotzdem so genau wie möglich, auf der Grundlage des zur Verfügung stehenden Materials, die Fortschritte Hegels in diesem Stadium zu bestimmen.

 

ERSTER MOMENT

Umwandlung des religiösen Prinzips:
vom ontologischen Begriff der Einheit der Gegensätze im Allgemeinen
zum theologischen Begriff der Einheit der Gegensätze Mensch - Gott

 

Was die Umwandlung der religiös-metaphysischen Vorstellung betrifft, so ist der Grundbegriff des ersten Stadiums die Einheit der Gegensätze im Allgemeinen, während es in diesem zweiten Stadium die Einheit der Gegensätze Mensch - Gott wird.
Im Text 63 definiert Hegel nämlich alles, was existiert, als ‘Leben’. Er unterscheidet zwischen zwei Ebenen der Zugehörigkeit zum Leben: die Ebene der Individualität, von ihm als ‘endliches Leben’  definiert, und die Ebene der Universalität, als ‘unendliches Leben’ bezeichnet:

„Das ungetheilte Leben vorausgesetzt, fixirt, so können wir die Lebendigen, –als Äusserungen des Lebens, als Darstellung desselben betrachten, deren Mannich-faltigkeit, die eben weil Äusserungen gesezt werden, zugleich gesetzt, und zwar als unendlich gesezt wird, die Reflexion dann als ruhende, bestehende, als feste Punkte, als Individuen fixirt; – oder ein Lebendiges vorausgesezt, und zwar uns die betrachtenden, so ist das ausser unserem beschränkten Leben gesezte Leben ein unendliches Leben von unendlicher Mannichfaltigkeit, unendlicher Entgegensezung, unendlicher Beziehung; als Vielheit, eine unendliche Vielheit von Organisationen, Individuen, als Einheit ein einziges organisirtes getrenntes und vereinigtes Ganzes – die Natur.“ (GW 2, S. 342, 3-13).

Das Leben beinhaltet also sowohl die Beziehung zwischen den  einzelnen Lebewesen als auch ihre Gegensätze und von diesem Standpunkt aus schließt Hegel

„[...] das Leben sey die Verbindung der Verbindung und der Nicht-Verbindung [...]“ (ebd.. S. 344, 1-2 […])

und prägt somit einen Ausdruck, der in unmissverständlicher Weise die entstehende Dialektik ankündigt und unmittelbar auf die reife Wissenschaft der Logik verweist. (14)
Der Mensch gehört zum endlichen Leben, aber da er selbst Leben ist, besitzt er die Fähigkeit, sich vom endlichen zum unendlichen Leben, also zu Gott, zu erheben:

„Diese Erhebung des Menschen, nicht vom Endlichen zum Unendlichen,  denn dieses sind nur Produkte der blossen Reflexion, und als solcher ist ihre Trennung absolut –, sondern vom endlichen Leben zum unendlichen Leben – ist Religion. Das unendliche Leben kan man einen Geist nennen, im Gegensaz [zu] der abstrakten Vielheit, denn Geist ist die lebendige Einigkeit des Mannichfaltigen […]“ (ebd, S. 343, 5-9)

Dieser wichtige Gedanke wird gegen Ende des Textes noch deutlicher und verstärkt ausgedrückt: 

„Dieses Theylsein des Lebendigen hebt sich in der Religion auf, das beschränkte Leben erhebt sich zum Unendlichen; und nur dadurch, daß das Endliche, selbst Leben [ist], trägt es die Möglichkeit in sich zum unendlichen Leben sich zu erheben.“ 
(ebd, S. 344-12-15).

Dieser Vorgang der Erhebung zum unendlichen Leben aus dem endlichen Leben heraus als Werk eines Wesens, das selbst zum endlichen Leben gehört, stellt also die Essenz  der Religion dar.
Das charakteristische Merkmal des Menschen ist also die ‘Religion’ (im Gegensatz zu der Philosophie, die beim Endlichen bleibt) und die Zugehörigkeit zu den  Ausdrucksformen des endlichen Lebens; Gott hingegen ist das unendliche Leben, d.h. das Ganze der Lebewesen, das aus verschiedenen Individuen besteht und allgemein ‚Natur‘ bzw. ‚Welt‘ oder auch ‚Geist‘ genannt wird.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass Hegel in diesem Text rzu dem folgenden Schluss kommt:

„Die Philosophie muß eben darum mit der Religion aufhören (...)“  (ebd., S. 344, 15-16).

Da er nämlich noch keine spekulative Philosophie erarbeitet hatte, kritisiert der Philosoph aus Stuttgart in diesem Entwicklungsstadium die Philosophie als für den Verstand typische Erkenntnisform, die die Gegensätze getrennt hält, und stellt ihr die Religion gegenüber, die hingegen seiner Ansicht nach die Gegensätze vereinen kann.
Diese Auffassung wird sich während des Aufenthaltes in Jena verändern, wenn Hegel dann seine eigene Philosophie ausarbeiten wird, die dank der Formulierung der logischen Dialektik den spekulativen Charakter der Religion annehmen wird, d.h. ihre Fähigkeit, die Gegensätze Mensch-Gott zu vereinen.
Obwohl Mensch und Gott anscheinend in einem unüberbrückbaren Verhältnis des Gegensatzes zueinander stehen, endliches Leben der eine, unendliches Leben der andere, bilden sie in Wirklichkeit eine Einheit. Zwischen ihnen besteht nämlich eine Identität, die die Grundlage und Wahrheit der scheinbaren Opposition ist und sich auf der Tatsache gründet, dass sie beide ‚Leben‘ sind.
Die Endlichkeit des Menschen und die Unendlichkeit Gottes stellen daher nur die zwei verschiedenen Ebenen ihrer unterschiedlichen Zugehörigkeit zum Leben dar. Das endliche Leben ist ein Teil, das unendliche Leben das Ganze. Und es ist eben diese dem Gegensatz zwischen Mensch und Gott zugrundeliegende Identität, die eine religiöse Erhebung vom endlichen zum unendlichen Leben ermöglicht.
In der Religion erhebt sich der Mensch also zu Gott d.h.  zu dem unendlichen Leben.  Im Vorgang dieser Erhebung sind die beiden Gegensätze nicht mehr zwei, sondern eins, nicht mehr getrennt, sondern vereint. Hegel erklärt auch, dass diese Erhebung nichts Zufälliges, sondern etwas Notwendiges sei. Allein die Stufe, auf der ein bestimmter Mensch oder ein bestimmtes Volk bei ihrer Erhebung zum Unendlichen anhalten, sei zufällig. Die Erhebung selbst jedoch ist notwendig.
Der junge Denker drückt sich zu diesem Thema folgendermaßen aus:

„[...] Religion ist irgendeine Erhebung des Endlichen zum Unendlichen, als einem gesezten Leben und eine solche ist nothwendig, denn jenes ist bedingt durch dieses; aber auf welcher Stuffe der Entgegensezung und Vereinigung die bestimmte Natur eines Geschlechts von Menschen stehen bleibe, ist zufällig in Rücksicht auf die unbestimmte Natur.“ (GW 2, 347, 14-19).

Der logische Übergang in diesem Stadium besteht also darin, dass der allgemeine und abstrakte Begriff aus dem vorherigen Stadium - die Einheit der Gegensätze - nun zum spezifischen Begriff der Einheit zwischen Mensch und Gott geworden ist, und zwar in der eben dargelegten Bedeutung. Mensch und Gott, das endliche und das unendliche Leben, die Vernunft und die Welt, werden in der Religion eins: Obwohl scheinbar entgegengesetzt, bestehen sie nämlich in Wirklichkeit aus derselben Grundsubstanz, die in ihrem ganzheitlichen Aspekt Gott oder dem unendlichen Leben entspricht, während ihr Teilaspekt unter anderem dem Menschen oder dem endlichen Leben entspricht.
So wie der im vorhergehenden Stadium formulierte Begriff der Einheit der Gegensätze dem ontologischen Wert der absoluten Idee entspricht, so entspricht dieser Begriff der spezifischen Einheit der beiden Gegensätze Mensch-Gott dem theologischen Wert, den das logisch-metaphysische Prinzip der Idee in der Philosophie des reifen Hegel, insbesondere in der Wissenschaft der Logik, haben wird. Die Bedeutung dieses theologischen Wertes liegt darin, dass Gott, bzw. das logische Prinzip  der Welt, weder ausschließlich ein Begriff der Vernunft ist (logisch-formaler Wert der Idee von Gott, typisch für die Kantische Philosophie), noch ein Wesen außerhalb der Welt und außerhalb der Herrschaft der Vernunft (metaphysisch-unkritischer Wert der Idee von Gott, typisch für die institutionelle christliche Religion). Gott ist vielmehr die unauflösliche Einheit von Vernunft und Welt, von Denken und Sein, beides Aspekte ein und derselben Substanz, die Hegel in den Texten 63 und 64 als ‘Leben’ und im reifen philosophischen System als ‘Idee’ definiert.
Weitere Erläuterungen zum theologischen Wert des Begriffs der absoluten Idee werden im entsprechenden Kapitel der dritten Periode gegeben werden, das spezifisch der Diskussion dieses Begriffs gewidmet sein wird. An dieser Stelle war es nur angebracht, auf den theologischen Wert der absoluten Idee hinzuweisen. Dieser Wert wird von Hegel ab der Verfassung der Logik/Metaphysik im Jahr 1804/05 ausführlich dargestellt und in den systematischen Texten 63-64 von 1799-1800 zum ersten Mal explizit formuliert.
Der Begriff der Einheit der Gegensätze Mensch-Gott bildet also den Hauptinhalt der Umwandlung der christlichen Originalvorstellung der universellen Liebe in den entsprechenden philosophischen Begriff. Wenden wir uns nun dem entsprechenden Begriff aus der Umwandlung der Vorstellung des ethischen Ideals vom Anbruch des Reichs Gottes zu.

 

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ZWEITER MOMENT

Umwandlung des ethischen Ideals:
vom Begriff der Gemeinschaft
zum Begriff des religiösen Lebens

 

Wir befinden uns nach wie vor in der Zeit 1799-1800 und die Hauptquellen sind auch in diesem Fall die Texte 63 und 64. Was die Umwandlung des ethischen Ideals betrifft, so ist der Hauptbegriff dieses Stadiums ‘das religiöse Leben’. Hegel fasst die verschiedenen bisherigen Anwendungsversuche des Prinzips der Einheit der Gegensätze auf die menschliche Gemeinschaft zusammen. Er fasst sie jedoch noch in subjektiver Hinsicht, bzw. vom menschlichen Standpunkt und seiner Beziehung zur Gottheit aus zusammen: Es ist der Standpunkt der Religionsphilosophie, also der denkenden Betrachtung der religiösen Erfahrung.
Um einen sehr geglückten Ausdruck von Hegel selbst zu verwenden, kann das religiöse Leben folgendermaßen definiert werden:

 

„Im religiösen Leben wurde sein Verhältnis zu Objekten, sein Handeln als ein Lebendig erhalten, oder als ein Beleben derselben aufgezeigt, [...]“ (GW 2, S. 345, 22-23).

 

Es besteht also darin, der Existenz einen Sinn zu verleihen, es ist der höchste Ausdruck des menschlichen Geistes, der seine eigenen Möglichkeiten im Leben, seine eigene materielle Beschaffenheit organisiert und plant.
Um die gegenseitige Abhängigkeit zwischen religiösem Prinzip und ethischem Ideal, und insbesondere die Abhängigkeit des Zweiten von Ersterem zu unterstreichen,  erklärt Hegel, dass der Grad der Glückseligkeit bzw. der Einheit des Menschen mit sich selbst und mit der ihn umgebenden Welt, daher auch der Grad des Bewusstseins um den Sinn des eigenen Lebens im natürlichen und sozialen Umfeld, den ein Volk erreicht, eben von der Art der Beziehung abhängt, die der Mensch mit der Gottheit aufbaut, also vom Grad der Vereinigung von Vernunft und Welt durch das Verständnis Gottes, des logischen Prinzips der Welt. Dieses Verhältnis zwischen Mensch und Gottheit wiederum, also zwischen endlichem und unendlichem Leben, hängt von der moralischen Verfassung des Volkes, vom Grad der Glückseligkeit ab, und entspricht somit bereits einem  typischen dialektischen Kreis.
Es handelt sich offensichtlich um zwei verschiedene Arten von Abhängigkeit. Die erste Abhängigkeit, also die des ethischen Ideals vom religiösen Prinzip, ist eine „logische“ Abhängigkeit. Die zweite, die des religiösen Prinzips von den ethischen Lebensbedingungen, ist hingegen eine „historische“ Abhängigkeit. Damit beginnt sich die außerordentliche Fähigkeit Hegels herauszukristallisieren, die innere Dialektik der Geschichte zu verstehen, die ab 1807 die herausragendsten Werke hervorbringen wird, in erster Linie die Phänomenologie des Geistes und dann die großen historischen Rekonstruktionen der Vorlesungen, insbesondere über die Weltgeschichte. 
Das Ideal des religiösen Lebens stellt also den Hauptbegriff dieses zweiten Stadiums des Hegelschen Umwandlungsprozesses der ethischen Vorstellungen des ursprünglichen Christentums in die entsprechenden philosophischen Begriffe dar. Dieses Ideal fügt den Geist wieder in die Materie ein, wobei allerdings noch eine Grenze bestehen bleibt: der subjektive Standpunkt. Der religiös lebende Mensch bleibt jedoch eben ein Mensch, also ein empirisches, endliches, begrenztes Subjekt. Die Vereinigung mit Gott, mit dem unendlichen Leben, ist daher noch nicht vollständig.
Diese Grenze des religiösen Lebens ist übrigens nicht zufällig, sondern unvermeidlich. Hegel spricht hier vom „Schicksal“ des religiösen Lebens (GW 2, 34523-24) und verwendet dabei einen der bedeutendsten Begriffe aus der Periode zwischen 1795 und 1800.
Im religiösen Leben kann sich also die Vereinigung zwischen endlichem und unendlichem Leben nicht vollständig vollziehen, da der individuelle Mensch darin nicht zur Erkenntnis des unendlichen Lebens an-sich und zur Beseitigung jeglicher noch existierender Barriere zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen, der Subjektivität und der Objektivität usw. gelingen kann. Im religiösen Leben kann diese Vereinigung von Subjektivität und Objektivität nicht stattfinden.
Diese „absolute“ Ebene (also die Ebene der Identität zwischen subjektiven und objektiven Aspekt in der logischen Aussage) kann nur erreicht werden, wenn es gelingt, die Elemente der religiösen Erfahrung, also des Empirischen - auch wenn dieses schon zum Unendlichen und daher zur eigenen Aufhebung hingewandt ist -  vollständig beiseite zu lassen und sich zur Ebene der reinen Begriffe zu erheben, also zum „Reich der Schatten“, wie Hegel sich in diesem Zusammenhang in einer nicht nur klaren, sondern auch äußerst eindrucksvollen Definition der Logik ausdrückt:

 

„Das System der Logik ist das Reich der Schatten, die Welt der einfachen Wesenheiten, von aller sinnlichen Concretion befreyt“

(GW 21, 42).

 

Dieser weitere Schritt nach vorne bildet den Hauptinhalt des nachfolgenden Stadiums der immanenten Entwicklung des Hegelschen Denkens. Darin geht der junge schwäbische Philosoph von der reflexiven zur spekulativen Erkenntnis über, seine Sprache wird jene der idealistischen Philosophie und selbst sein Berufsleben ändert sich: Wechsel an die Universität Jena, Beginn der akademischen Laufbahn, Austritt aus der Bildungsisolation, Eintritt in die philosophische Auseinandersetzung.
All das wurde erst durch die bereits vollendete Formulierung der Grundstruktur seines philosophischen Systems ermöglicht, das Hegel mit Hilfe seiner historisch-religiösen Studien verwirklicht hatte.  Er verfügte nämlich schon seit Ende 1800 zumindest in Ansätzen über ein metaphysisches Prinzip, mit dem er der toten Materie des logisch-metaphysischen Wissens seiner Zeit neuen Geist einhauchte, und über ein ethisches Ideal, mit dem er die kalten Glieder der Kantischen und Fichteschen Ethik belebte. 
Bevor wir jedoch zum dritten und letzten Stadium übergehen, wäre es sinnvoll, zuerst noch einige Worte zur grundlegenden Frage zu sagen, ob das Systemfragment bzw. die Texte 63 und 64, die uns davon übriggeblieben sind, als erstes System Hegels bezeichnet werden kann oder nicht. 
Aus den bisherigen Ergebnissen lässt sich meiner Meinung nach ableiten, dass es sich bei diesem Fragment tatsächlich um Hegels ersten systematischen Versuch handelt. Darin finden wir nämlich sowohl die Abhandlung der menschlichen Welt (ethisches Ideal des religiösen Lebens) als auch der natürlichen Welt (Prinzip des unendlichen Lebens und der Natur als Lebewesen); vor allem aber beinhaltet es auch das Verständnis der Beziehung zwischen Mensch und Natur durch die Auffassung der Einheit der Gegensätze Vernunft und Welt in Gott, in der Bedeutung von unendlichem Leben oder Alleben. In dieser Auffassung vereinigt Hegel die drei Begriffe der Metaphysik und der Theologie, wenn auch innerhalb der erwähnten subjektiven und reflexiven Grenzen: die Begriffe der Seele, der Welt und von Gott. In der Tat hat man ein philosophisches System dann, wenn es gelingt, diese drei Grundaspekte des Seins in einer einzigen Auffassung zu vereinigen. Mehr als ein ‚Versuch‘ scheinen aber zumindest die erhaltenen Texte nicht zu enthalten. Solange die zahlreichen fehlenden Seiten verschwunden bleiben, muss die Frage nach der Vollständigkeit dieses philosophischen Systems, in dem alle einzelnen Teile auch wirklich entwickelt sein sollten, unbeantwortet bleiben.

 

*

DRITTES STADIUM
(1801-1802)

 

Der nächste logische Schritt im Hegelschen Denken besteht darin, der Identität von Mensch und Gott, als Ergebnis des notwendigen Prozesses der Erhebung des endlichen zum unendlichen Leben, einen spezifischen Namen zu geben und insbesondere die Beziehung zwischen Gott als Ganzheit und dem Menschen als Teil zu bestimmen. Die Einheit der Gegensätze Mensch-Gott wird nun zum Begriff des Absoluten, den Hegel vor allem während der Lektüre der Schriften seines ehemaligen Universitätskollegen Schelling aufnimmt. 
Im Januar 1801 trifft Hegel in Jena ein. Am 14. September des Vorjahres hat er den Text 64 fertiggestellt und im Wintersemester 1801/02 hält er seine erste Vorlesung in Logik und Metaphysik an der Universität Jena. In dieses Jahr zwischen dem Winter 1800/01 und dem Winter 1801/02 ist daher auch die Erarbeitung des Begriffs zu legen, der das dritte Stadium des Umwandlungsprozesses der religiösen Vorstellung der universellen Liebe in den logisch-metaphysischen Begriff des Absoluten bildet. Dieser Begriff, wenn auch noch nicht in definitiver Formulierung, muss also auch die Grundlage für die oben erwähnte Vorlesung gebildet haben (vgl. Düsing 1988).
Hegel konnte diesen Begriff durch das sorgfältige Studium der damaligen idealistischen Philosophie ausarbeiten. Dieses Studium gab den Anstoß zur Schrift über die Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems, die Ende Juli 1801 veröffentlicht und in der ersten Hälfte desselben Jahres abgefasst wurde. Diese Arbeit beweist Hegels genaue Kenntnis der bis zu diesem Zeitpunkt veröffentlichten erkenntnistheoretischen Werke von Kant, Fichte, Schelling und Reinhold sowie von einigen weniger bedeutenden Autoren. Außerdem stellt sie die Hauptquelle für die Rekonstruktion seiner intellektuellen Fortschritte in diesem Stadium dar.(15)
Gemeinsam mit Schelling arbeitete Hegel damals an der Publikation des Kritischen Journals der Philosophie, und außerdem arbeiteten die beiden jungen Dozenten auch an der Universität Jena als Kollegen eng zusammen. Somit hatte Hegel also in den Diskussionen mit seinem alten Universitätskameraden die Möglichkeit, mit den aktuellen philosophischen Problemen sowie mit deren modernsten Lösung, also mit der Philosophie von Schelling selbst, in Berührung zu kommen. Hegel änderte tatsächlich nie seine ursprüngliche Meinung, in der Abhandlung von 1801 zum Ausdruck gebracht, dass Schelling mehr als Fichte, Reinhold, Jacobi usw. in der Lage gewesen war, eine exakte Lösung des Problems der Beziehung zwischen Vernunft und Welt anzubieten, das die Kantische Philosophie mit der Problematik des  ‚Ding an-sich‘ ungelöst gelassen hatte. Er erkannte jedoch sehr bald die Grenzen, die das philosophische System von Schelling noch einengten, und beseitigte sie durch sein eigenes philosophisches System.( 16)
Beim Umzug Hegels von Frankfurt nach Jena, also bei seinem Übergang von der Periode der Studien, die noch von Themen und Kategorien aus der Religion dominiert wurde, zu der Periode, die von Themen und Kategorien aus der reinen Philosophie beherrscht wurde, ist folgender Aspekt besonders relevant: Hegel hätte das philosophische Material seiner Zeit niemals auf solch persönliche und originelle Art und Weise überarbeiten können, wenn er in Jena nicht schon mit einer eigenen Welt- und Menschenauffassung angekommen wäre, die nun in philosophische Begriffe gefasst werden musste. Er wäre in den hitzigen akademischen Debatten, damals das verbreitete Mittel der intellektuellen Kommunikation, höchstens zum Verfechter von Schelling geworden.
So konnte der Philosoph aus Stuttgart hingegen, überzeugt von seiner ‘Weltanschauung’, die das Ergebnis kritischer Studien des Ursprungs des Christentums war, genau in diesen Jenaer Jahren die Frage nach einer neuen Welt- und Menschenauffassung auf originelle Art und Weise  interpretieren und diese mit seinem eigenen philosophischen System lösen.
Analysieren wir nun den logischen Fortschritt Hegels auf religiös-metaphysischer Ebene, um dann jenen auf ethisch-moralischer Ebene zu untersuchen, der ja vom ersten abhängig ist.

 

*
ERSTER MOMENT
(1801)

Umwandlung des religiösen Prinzips:
vom theologischen Begriff der Einheit der Gegensätze Mensch-Gott
zum logisch-metaphysichen Begriff des Absoluten

 

Zwischen 1797-1799 hat Hegel die christliche Vorstellung der universellen Liebe in den Begriff der Einheit der Gegensätze umgewandelt; 1799-1800 wird die Einheit der Gegensätze zur Einheit von Mensch und Gott bzw. von endlichem und unendlichem Leben. Durch das Studium der zeitgenössischen Philosophie, insbesondere der von Schelling, wird die Einheit von Mensch und Gott, von endlichem und unendlichem Leben, 1801 schließlich zur logisch-metaphysischen Identität von Subjekt und Objekt: zum Absoluten.(17)
Das Absolute ist die Identität von Subjekt und Objekt, von Denken und Sein, d.h. es stellt die Benennung dar, die Hegel dem Begriff der Einheit von endlichem und unendlichem Leben, Vernunft und Gott, entstanden in der Zeit 1799-1800, zuerkannte. Bereits im Systemfragment findet sich nämlich  neben dem kategorialen Paar Endlich-Unendlich auch das Paar Subjekt-Objekt.(18)
Was bisher noch in der mehrdeutigen und unreinen Form der Religion ausgedrückt war, wird nun in der eindeutigen und reinen Form des philosophischen Begriffs zum Ausdruck gebracht. Diese expressive Form ist jedoch nichts anderes als eine Umwandlung der ehemals religiösen Sprache in philosophische Begriffe und sicher nicht ein völlig neuer Gedanke in der Entwicklung des Hegelschen Denkens, wie es z.B. auch aus der folgenden Definition des Absoluten hervorgeht:

 

„Das Absolute selbst aber ist darum die Identität der Identität und der Nichtidentität [...]“ (Differenzschrift,  in GW 4, S. 64).

 

Diese Definition ruft uns einerseits sofort die Definition des Lebens als Verbindung und Nicht-Verbindung aus dem Text 63 ins Gedächtnis, andererseits kündigt sie unmissverständlich die dialektische Auffassung der Wissenschaft der Logik an.
Dieser Wechsel in der Sprache verbirgt aber auch eine Veränderung des logischen Inhalts, auch wenn es sich nicht um eine substantielle Veränderung des Hauptinhalts des Hegelschen Denkens handelt: Die subjektive und reflexive, also religiöse, Sichtweise wird zugunsten der objektiven und spekulativen, also logisch-metaphysischen, Sichtweise aufgegeben; damit wird das Objekt nicht mehr für-uns, sondern an-und für-sich erkannt:

„In der absoluten Identität ist Subjekt und Objekt auf einander bezogen, und damit vernichtet“ (Differenzschrift,  in GW 4, 63).

 

Gott oder die Welt ist die Gesamtheit der natürlichen Individuen, seiner Teile; er ist der  Geist, der sich durch diese Teilen hindurch entwickelt, ihre unsichtbare Einheit, die aber sehr wohl existiert. Die menschliche Vernunft ist unter diesen Teilen derjenige, der die Fähigkeit besitzt, sich zu diesem Geist zu erheben und ihn zu begreifen, da sie aus derselben göttlichen Substanz besteht. Diese Substanz ist also die Einheit oder die Identität, in der sowohl  Gott-Natur (Welt) als auch der Mensch (Religion) enthalten sind. Sie entspricht der ‘absoluten Identität’ von Schelling.
Obwohl man behaupten könnte, in den Texten 63 und 64 sei mit dem Begriff des Lebens, wenn auch nur implizit, einen den Begriffen vom endlichen und unendlichen Leben übergeordneten Begriff bereits enthalten, behandelt Hegel diesen Begriff nicht gesondert und trennt ihn daher anscheinend nicht von seinen beiden Manifestationen (zumindest in den wenigen überlieferten Blättern des Gesamtmanuskripts). Der junge Denker scheint sich nämlich mehr auf die beiden Gegensätze und deren Einigungsprozess durch die Erhebung des Endlichen zum Unendlichen zu konzentrieren und seine Aufmerksamkeit weniger auf ihre ursprüngliche, der Spaltung vorausgehende Vereinigung zu richten, d.h. auf die Tatsache, dass beide Leben sind. Möglicherweise ist er zu dieser ursprünglichen Identität von Endlichem und Unendlichem erst seit der Jenaer Zeit gelangt, also erst seit er die Philosophie Schellings intensiv studiert hat, und nicht vorher, auch wenn notgedrungen ein leiser Zweifel zu dieser Schlussfolgerung bestehen bleiben muss, da das Manuskript aus dem Jahre 1799-1800 unvollständig ist.
Durch diese Auffassung von der absoluten Identität kann Hegel hingegen definitiv die Trennung beseitigen, die in den Texten 63 und 64 noch vorhanden ist, und zwar zwischen Vernunft und Welt, zwischen endlichem und unendlichem Leben, die jetzt nicht mehr zwei getrennte Wesen darstellen, sondern nur mehr zwei verschiedene Aspekte ein und derselben Substanz, die sich durch sie ausdrückt und ihre Existenz bewirkt. Diese Substanz ist das Absolute, also nicht Vernunft im subjektiven Sinn der menschlichen Vernunft, sondern im objektiven Sinn von ‘Gott’, im Sinne Spinozas ‚causa sui‘.
Dieses dritte Stadium im Vorgang des Herausarbeitens jenes Begriffs, der in der Vorstellung Jesu von der universellen Liebe implizit vorhanden ist, entspricht dem logischen Wert der absoluten Idee. Der ontologische und theologische Wert, in den vorigen Stadien bestimmt, sind im logischen Wert mit eingeschlossen. Dadurch ist dieser nicht mehr rein logisch-formal, sondern er bekommt einen logisch-substantiellen bzw. logisch-metaphysischen Wert, und zwar in dem von Hegel in der Einleitung zur Wissenschaft der Logik explizit erklärten Sinn.
Dieser Begriff des Absoluten wird später von Hegel als „absolute Idee“ bezeichnet. Er wird das religiöse, populäre  und rationale Prinzip seiner neuen ethisch-religiösen Lehre sein. Da dieses Prinzip rein metaphysisch und logisch ausgedrückt werden wird, wird die neue religiöse Lehre die Wissenschaft der Logik sein. Die ursprüngliche Formulierung des Begriffs der absoluten Idee findet man jedoch bereits 1801, und zwar als logischen Ausdruck des begrifflichen Inhaltes des theologischen Prinzips, das die ‚Weltanschauung‘ der Texte 63 und 64 von 1799-1800 zugrunde liegt.

 

*

ZWEITER MOMENT
(1802)

Umwandlung des ethischen Ideals:
vom Ideal des religiösen Lebens
zum  Ideal der absoluten Sittlichkeit

 

Kommen wir nun zur Hegelschen Umwandlung der ethischen Vorstellung des Anbruchs des Reichs Gottes in den entsprechenden Begriff. Sie entspricht natürlich dem dritten Stadium der Umwandlung des religiös-metaphysischen Prinzips, also dem Begriff des Absoluten, da sie ja von diesem Begriff begründet und daher erst möglich gemacht wird.
Das religiös-metaphysische Prinzip dieses Stadiums ist der Begriff des Absoluten, d.h. die Identität von Vernunft (oder Subjekt) und Welt (Objekt). Das entsprechende ethische Ideal ist der Begriff der absoluten Sittlichkeit als Einheit von individuellem und universellem Geist im praktischen Handeln. Wir wollen nun genau untersuchen, was das bedeutet und welche logische Beziehung zwischen diesen beiden Begriffen existiert.
Hegel hat schon 1800 in seinem ersten ausformulierten System, noch eine Mischform von Religion und Philosophie, die Beziehung bestimmt, die zwischen dem religiösen Prinzip der Wiedereinfügung der Vernunft in die Welt und dem ethischen Ideal der Wiedereinfügung des Geistes in die Materie besteht. Das religiöse Leben, das ethische Ideal, ist vom Grad der Erhebung des Menschen zu Gott abhängig, bzw. in der Tat vom religiösen Prinzip, in dem sich diese Erhebung ausdrückt. Dieser Erhebung lässt sich nämlich in verschiedene Grade einteilen; sie muss unbedingt stattfinden, weil der Mensch, das endliche Leben, von Gott, dem unendlichen Leben, abhängig ist, wobei der Grad dieses Geschehens jedoch zufällig ist. Der Grad der Erhebung des Endlichen zum Unendlichen, die die Menschheit durch den Schelling-Hegelschen Begriff der absoluten Identität erlangt hat, ist die höchste Stufe des reinen Begriffs. Tatsächlich bleibt auf dieser Ebene weder etwas vom Subjekt (‚Mensch - endliches Leben‘), noch vom Objekt (‚Gott - unendliches Leben‘) erhalten, da die beiden eine perfekte Einheit bilden: Die absolute Vernunft, die sich selbst erkennt, und indem sie sich selbst erkennt, erkennt sie auch das Absolute, also Gott. Hegel zeigt sich schon 1802 in seiner Schrift Glauben und Wissen voll dieser Tatsache bewusst:

 

„Der reine Begriff  aber, oder die Unendlichkeit, als der Abgrund des Nichts, worinn alles Seyn versinkt, muß den unendlichen Schmerz, der vorher nur in der Bildung geschichtlich und als das Gefühl war, worauf die Religion der neuen Zeit beruht, das Gefühl: Gott selbst ist todt, dasjenige, was gleichsam nur empirisch ausgesprochen war, mit Pascals Ausdrücken: la nature est telle qu’elle marque partout un Dieu perdu et dans l’homme et hors de l’homme, rein als Moment, aber auch nicht als mehr denn als Moment, der höchsten Idee bezeichnen, und so dem, was etwa auch entweder moralische Vorschrift einer Aufopferung des empirischen Wesens oder der Begriff formeller Abstraction war, eine philosophische Existenz geben, und also der Philosophie die Idee der absoluten Freyheit, und damit das absolute Leiden oder den speculativen Charfreytag, der sonst historisch war, und ihn selbst, in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wiederherstellen, aus welcher Härte allein, weil das Heitre, Ungründlichere und Einzelnere der dogmatischen Philosophien, so wie der Naturreligionen verschwinden muß, die höchste Totalität in ihrem ganzen Ernst und aus ihrem tiefsten Grunde, zugleich allumfassend, und in die heiterste Freyheit ihrer Gestalt auferstehen kann, und muß“  (GW 4, S. 414).

 

In Übereinstimmung mit dem Bewusstsein, im Begriff der absoluten Identität den Begriff der absoluten Einheit zwischen Mensch und Gott formuliert zu haben, entwickelt sich in Hegel auch das Bewusstsein, dass das menschliche Handeln bzw. der Sinn, den der Mensch seiner Existenz gibt, und - auf sozialer Ebene - die intersubjektive Lebensform, die ein Volk sich gibt, Manifestationen des Absoluten selbst sind. 
Das religiös-metaphysische Prinzip des Absoluten führt daher zu diesem Ergebnis: Der Mensch, die reine Vernunft, ist die absolute Identität von Subjekt und Objekt, Mensch und Gott. Daraus leitet sich folgendes Moralideal ab: Das Handeln des Menschen ist vom Grad der Erhebung des Menschen zu Gott abhängig und da diese Stufe in  der Schelling-Hegelschen Philosophie der Stufe der völligen Identität der beiden entspricht, ist das menschliche Handeln folglich das Handeln Gottes selbst.
Menschliches und göttliches Handeln treffen also in dem Moment zusammen, in dem es dem empirischen Menschen gelingt, sich durch die wahre philosophische zur Erkenntnis von Gott, von dem Absoluten, zu erheben. Dies ist die Grundbedeutung des ethischen Ideals der absoluten Sittlichkeit, die von Hegel in mündlicher Form zum ersten Mal in den Vorlesungen zum Naturrecht dargelegt wurde, die er mit einigen Unterbrechungen ab dem Wintersemester 1802 hielt,  und in schriftlicher Form 1802/03 in der Abhandlung Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts zum Ausdruck brachte. 
Das Ideal der absoluten Sittlichkeit ist also der definitive, begriffliche Ausdruck der Vorstellung des Anbruchs des Reich Gottes, mit dem Jesus den Menschen auf ethischer Ebene von Geist und Materie wieder in die Natur eingefügt hatte. Durch dieses Ideal möchte Hegel nämlich seine Überzeugung ausdrücken, das die intersubjektive, vom Menschen auf der Erde konstruierte Welt, also die Welt des Geistes, nicht das zufällige Ergebnis des willkürlichen Wirkens von zufälligen Menschen ist, sondern die Manifestation der Gottheit, des Absoluten selbst. Das Volk, das nach Hegel schon seit diesen Jahren nicht nur die einfache mathematische Summe von einzelnen Individuen, sondern ihre organische Einheit ist, die in dem Begriff der Sittlichkeit ausgedrückt wird,(19) ist der höchste Ausdruck dieses Absoluten. 
Das ist der Grundgedanke des bisher Gesagten und das wichtigste Ergebnis der immanenten Entwicklung des Hegelschen Denkens bis 1802/03: Das ethische Ideal, das sich der Mensch setzen soll, also der Sinn, den der Mensch seiner eigenen Existenz verleihen soll, darf nicht willkürlich und ohne jegliche Grundlage sein, d.h. nur auf der rein empirischen Subjektivität basieren, sondern muss in der Sittlichkeit des Volkes verankert sein, die als solches die Manifestation des Absoluten darstellt und daher die Sittlichkeit des Absoluten, die absolute Sittlichkeit, ausdrückt. 
Da aber die absolute Sittlichkeit den Sinn der Welt darstellt, also ihre Entwicklungsrichtung, und das Volk die höchste Lebensform und Form der Selbstdarstellung des Absoluten ist, fällt der Sinn der menschlichen Existenz in der Welt mit dem Sinn der Welt zusammen, und zwar in dem Moment, in dem sich das Individuum durch die Religion und die Philosophie von der eigenen empirischen zur absoluten Subjektivität erhebt. 
Wir werden noch auf die genaue philosophische Bedeutung der von Hegel durchgeführten,  jedoch bereits in der Originalbotschaft Jesu vorhandenen Vereinigung von Religion und Moral, Gott und Mensch, Absoluten und Sittlichkeit, Sinn der Welt und Sinn der menschlichen Existenz in der Welt, zu sprechen kommen, und zwar im Zuge der Zusammenfassung der Bedeutung des philosophischen Systems von Hegel als Folge seiner Entwicklung.
Fürs erste begnügen wir uns damit, die Entstehung der beiden Grundbegriffe des philosophischen Systems von Hegel dargestellt zu haben, und zwar des logisch-metaphysischen Begriffes des Absoluten und des moralisch-ethischen Begriffes der absoluten Sittlichkeit, beide gewonnen durch die Umwandlung der jeweiligen Hauptvorstellungen des ursprünglichen Christentums in die entsprechenden philosophischen Begriffe.
Mit der Formulierung des Ideals der absoluten Sittlichkeit 1802/03 endet das dritte und letzte Stadium der zweiten Phase der immanenten Entwicklung des Hegelschen Denkens.

 

ENDNOTEN

1) Siehe GW 2, Editorischer Bericht, S. 631-632.

2) Die zitierte Stelle findet man im Text 55 Der Tugend ist nicht nur Positivität von GW 2,  von Hegel zwischen Ende 1798 und Anfang 1799 verfasst (vgl. die Chronologie von Schüler, Nummer 83 und 89) sowie GW 2, S. 647. Zu dieser Thematik sind folgende Texte besonders wichtig:
- „Positiv wird ein Glauben genannt...“ (Schüler-Chronologie Nr. 67; W 1, S. 239 ff.) 
- „... so wie sie mehrere Gattungen... “ (Schüler Nr. 68; W 1, S. 243 ff.) 
– „... welchem Zwecke denn alles Übrige dient... “ (Schüler Nr. 69; W 1, S. 244 ff.). 
Alle diese Fragmente wurden laut Schülers Chronologie zwischen Sommer und Herbst 1797, also im ersten Jahr seines Aufenthalts in der f
ranzösisch-französischen Stadt, von Hegel angefertigt.
3) „Enzyklopädie“ (1830), §§ 488-502
4) Siehe z.B. i §§ 518-522 der „Enzyklopädie“ von 1830.
5)
6) „Grundkonzept zum Geist des Christentums“ in W 1, S. 297 ff.; zur Chronologie vgl. Schüler, Heft 80.
7) W 1, S. 305-307
8) Siehe die bereits zitierten Absätze plus §§ 529-532.
9) Dies spielt darauf an, dass dieser Aspekt des Denkens des Stuttgarter Philosophen zweifellos zu den am häufigsten behandelten, in seiner authentischen Bedeutung jedoch auch zu den am wenigsten verstandenen gehört.

10) Man kann zwischen diesen beiden Aspekten des Hegelschen Denkens keine klare Trennung vornehmen, da die religiösen Reflexionen vor 1800 viele philosophische Elemente enthalten, während jene nach diesem Datum noch viele typisch religiöse Elemente aufweisen. Dies wird vom Fragment Vom göttlichen Dreieck aus dem Jahre 1804 und den Berliner Vorlesungen über die Beweise der Existenz Gottes eindeutig bewiesen.

11) Was die Frage der Wichtigkeit dieses Schrittes für die Entwicklung des Hegelschen Denkens betrifft vgl. Kapitel 7 meiner Arbeit Weisheitslehre, 139 ff.

12) Zum Hegelschen Pantheismus siehe das erste Kapitel von Weisheitslehre.

13) Siehe GW 2, Editorischer Bericht, S. 653-654.

14) Der vollständige Satz im Text 63 lautet: „[…] ich müßte mich so ausdrükken, das Leben sey die Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung [...]“  (zur Wissenschaft der Logik vgl. die Kapitel Das Leben und Die absolute Idee in der Lehre vom Begriff).

15) Weitere wichtige Quellen sind die von Hegel publizierten Abhandlungen für die Zeitschrift  Kritisches Journal der Philosophie, sowie die anderen Schriften verschiedener Natur (vgl. die Hegelschen Quellen in der Bibliographie).

16 ) Über die - natürlich dialektische - Aufhebung der Philosophie von Schelling durch das  philosophische System Hegels vgl. V 9, S. 187-188.
 17) Die folgende Abhandlung des Begriffs des Absoluten basiert auf Überlegungen, die Hegel in seiner zitierten Differenzschrift durchführte, insbesondere im Kapitel Vergleich zwischen dem Prinzip der Schellingschen und Fichteschen Philosophie.
 18) Siehe z.B. den Text 64, (GW 2,  S. 345, 11-15),  wo es um Objektivität und Subjektivität explizit geht. Sie stellt übrigens einen entscheidenden Beweis dafür dar, dass der ursprüngliche dialektische Kern des zukünftigen philosophischen Systems von Hegel noch vor den Jahren in Jena entstanden ist, genauer gesagt zwischen 1797 und 1800.
 19) Über den Begriff der als Grundmerkmal des Begriffs des Volkes s. die fragliche Schrift S. 92-93 (GW 4, 467-468).

 

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