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1.1.2  ZWEITES STADIUM:  DAS VERSTÄNDNIS VON GESELLIGKEIT ALS MITTEL UND GLÜCK ALS ZIEL DES MENSCHLI

1.1.2 ZWEITES STADIUM: DAS VERSTÄNDNIS VON GESELLIGKEIT ALS MITTEL UND GLÜCK ALS ZIEL DES MENSCHLI


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Marco de Angelis
(Autor des Textes dieser Seite)

*
 

ZWEITES STADIUM

Das Verständnis von Geselligkeit als Mittel
und Glück als Ziel des menschlichen Lebens

Zeitraum: 24. August 1785 - 15./24. Februar 1786

Hauptquellen: Exzerpte, Tagebuch
 

*

 

Der nächste Schritt, den der junge Hegel in seiner Suche nach einer ausgeglichenen, aufgeklärten Lebensweise machte, war die Bestimmung des Hauptwerts dieser Moral. Er versuchte zu verstehen, was für das menschliche Leben entscheidend ist, welche Gründe im Leben des Menschen die  Hauptrolle spielen. Eine Antwort zu dieser wichtigen Frage hat er in den Tagen vom 15. bis 24.02.1786 gefunden. Seine Überlegungen schrieb er in den folgenden Einträgen seines Tagebuchs nieder:

 

- 15/16./18./24.02.1786:[1] in diesen Tagen bereitete sich Hegel für die ‘Übungen zur Beförderung der Eloquenz’ vor, die im Sommer stattfanden.[2] Als Gegenstand, worüber er sprechen wollte, wählte er selbstverständlich ein Thema, das sehr nahe an seinem moralischen Hauptinteresse lag, und zwar ‘der gesellige Umgang’. Dieser besteht seiner Meinung nach darin,

 

„daß man häufig zusammenkommt, sich gegenseitig bespricht, spazierengeht und Wege unternimmt, um an einem gewissen gemeinsamen Plan teilzunehmen; am vorzüglichsten ist ja das Vergnügen, sich über Dinge und Geschäfte zu beraten und dieselben durchzuführen“.[3]

 

Der Grund für die Wahl dieses Themas wird von ihm damit erklärt, dass es folgenden Anforderungen entspricht:

 

  • es gehört zu einem „Nachbarbereich des Studiums“;
  • es ist „nicht zu weit von unserem Lebensalter und unseren Sitten“ entfernt

und

  • schließlich handelt es sich um „keinen ganz geschichtlichen Stoff, bei dem kein Platz für die eigene Überlegung übrig bliebe“.[4]

In diesem Projekt sind Hegels moralisches Hauptinteresse und sein weiteres Interesse für den Stil des korrekten Schreibens und Redens wunderbar vereinigt. Das erste gibt den Inhalt, das zweite die Form für das Projekt seiner Rede, die als eine erste Zusammenfassung der Ergebnisse seiner bisherigen Überlegungen gelten kann.

 

Die Hauptidee dieses Projektes ist, daß der Umgang mit Menschen, „wenn er richtig und mit den rechten [Menschen] geschieht“,[5] sehr nützlich für den Menschen und die Bildung seines Geistes sein kann.

Hegel behandelt hier zwei Formen des geselligen Umgangs: den Umgang mit älteren Menschen:

 

Zunächst wollen wir sprechen über die Vorteile des Umgangs mit älteren Menschen“ (Nicolin, 1970, S. 101),[6]

 

und mit den Frauen:

 

Ich komme nun zum Umgang mit dem schwachen Geschlecht“ (Nicolin, 1970, S. 102).[7]
 

Besonders nützlich scheint ihm der Umgang mit älteren Menschen, da die Jugendlichen  dadurch Menschenkenntnis erhalten können.[8] Die Begleitung von älteren Männern hat er selbst gesucht, um von ihren Kenntnissen und insbesondere ihrer Menschenkenntnis zu profitieren, wie es durch verschiedene Tagebucheinträge belegt wird, in denen er über den kulturellen Inhalt seiner Gespräche auf Spaziergängen mit seinem Lehrer Cleß oder mit dem verstorbenen verehrten Lehrer Löffler berichtet (s. unter anderen insbesondere die Einträge vom 4.07./6.07./7.07. /15.07./21.07./22.07.1785).

 

Das ist ein weiteres Zeichen, dass die Betrachtungen, die er in seinem Tagebuch eingetragen hat, nicht nur einen objektiven Wert als langsame Schritte zu seinem Verständnis der Welt und der Menschen, sondern auch einen subjektiven Wert, als langsame Schritte zu seinem Verständnis von sich selbst und zu seiner Herausbildung eines Menschenideals haben, nach dem er sich wie nach einem Vorbild richten und nach dem er den eigenen Charakter bilden wollte.

 

In Bezug auf den Umgang mit den Frauen schreibt der begabte Schüler:

 

Wer nämlich unter den Menschen, die jetzt den Erdball bevölkern, glücklich zu sein wünscht - und das wird gewiß jeder von euch wollen und will es [schon jetzt], der muß, so möchte ich sagen, die Schlacken wegwerfen, und das kann nirgendwo besser und gründlicher geschehen als in Gesellschaft der Frauen. Sie haben nämlich das Monopol von Ruhm und Schande“.[9]

 

Beide Formen  des geselligen Umgangs können also  nach Hegel sehr nützlich für den kultivierten jungen Menschen sein, und das klingt wohl wie eine ethische Aufforderung zur Überwindung der Einsamkeit und zur Suche nach einem befriedigenden menschlichen Zusammensein.

 

Nachdem er geschrieben hatte, dass die Geselligkeit „[...] uns von der Natur auferlegt ist [...]“, schrieb Hegel darüber in dem Eintrag vom 18.02.1786:

 

„[...] mag auch von vielen, ja von den Erfahrensten die Einsamkeit gelobt werden, [...], so wirst du doch nur wenige anführen können, die sich immer dieser Absonderung von den Menschen erfreuen; denn so oft sie sich, von der geistigen Arbeit ziemlich erschöpft, erholen wollen, haben sie -[...]- die Gesellschaft von Menschen gesucht, freilich der richtigen und gleichgearteten. [...]. Die Einsamkeit hat ihre Zeit, ihr Maß und ihr Ziel, und auch die Gemeinsamkeit hat das ihre“.[10]

 

Es fällt schwer, dabei nicht an die Philosophie des objektiven Geistes und insbesondere an deren Sektion die Sittlichkeit zu denken, in der Hegel das Leben für die Familie, für die Gesellschaft (die gemeinsame Arbeit) und für den Staat, also das ‘gesellige’ Leben, als die vollständigste Form der Verwirklichung des menschlichen Geistes, seiner Freiheit und Glückseligkeit, bezeichnet.[11]

 

In den Paragraphen 478 ff., die noch zur Philosophie des subjektiven Geistes gehören, erklärt Hegel zuerst, wie die Glückseligkeit  in ihrer tiefsten Bedeutung die Freiheit sei (480), und dann, wie die Verwirklichung der Freiheit des Geistes, die das Wesen desselben ist, in dem objektiven Geist erfolgt (482). Dieser besteht in seiner höchsten Form in der Sittlichkeit,[12] die ihrerseits ihren Ausdruck in den zwischenmenschlichen Institutionen Familie und Staat findet. Diese sind auf der gegenseitigen Anerkennung des Selbstbewusstseins (‘das allgemeine Selbstbewusst-sein’) gegründet (§ 436).[13]

 

Es ist bemerkenswert, wie die Grundbegriffe dieses zentralen Teils von Hegels System an seine ersten Überlegungen des Tagebuchs wunderbar anknüpfen:

 

  • der Begriff der ‘Glückseligkeit’, die der reife Hegel als ‘Freiheit’ versteht;
  • der Begriff des ‘Charakters’ des Menschen, der von ihm in  enge Beziehung zu dem der Freiheit gestellt wird;[14]
  • schließlich der Begriff der ‘Geselligkeit’, der nicht ausdrücklich genannt wird, aber zweifellos mit dem Begriff des ‘allgemeinen Selbstbewusstseins’ und den darauf gegründeten intersubjektiven Institutionen des ethischen bzw. sittlichen Lebens des Menschen zusammenfällt:[15

    Das allgemeine Selbstbewußtsein ist das affirmative Wissen seiner selbst im anderen Selbst, [...]. Dies allgemeine    Widererscheinen des Selbstbewußtseins [...] ist die Form des Bewußtseins der Substanz jeder wesentlichen Geistigkeit, der Familie, des  Vaterlandes, des Staats, sowie aller Tugenden, der Liebe, der Freundschaft, Tapferkeit, der Ehre, des Ruhms.“
    (§ 436).

 

Die oben dargestellte Parallelität zwischen der Sittlichkeit als zentralem Teil im System Hegels und der Geselligkeit als einem der Grundbegriffe dieser frühen Jahre zeigt, wie die bisher den Tagebucheinträgen entnommenen Begriffe (der menschliche Charakter, die Glückseligkeit, die menschlichen Tugenden und Werte, die Geselligkeit usw.) ihre zentrale Rolle im geistigen Leben Hegels im Laufe der Zeit behalten haben, und bestätigt deshalb auch die Richtigkeit der bisher vorgenommenen Interpretation des moralischen Interesses Hegels als seines Hauptinteresses.

 

Es scheint deshalb nicht falsch, den Tagebucheinträgen vom Februar 1786 auf Grund ihrer Grundbegriffe  ‘Geselligkeit’ und ‘Glückseligkeit’ eine ähnlich zentrale Stelle in der frühen Gedankenentwicklung Hegels zuzuschreiben, wie sie die Begriffe ‘Sittlichkeit’ und ‘Freiheit’ im späteren System haben.

Dieser Schluss wird durch den logischen Zusammenhang zwischen den Grundbegriffen der Tagebucheinträge der Jahre 1785-1786 entscheidend gestützt. Dieser besteht darin, dass Hegel sein ursprüngliches Interesse für das Verständnis des Menschen und dessen Charakter nun auf die Begriffe der Geselligkeit und überhaupt der zwischenmenschlichen Beziehungen sowie der ‘Glückseligkeit’ richtete.

In dieser Beziehung ist der von ihm herstellte Zusammenhang zwischen Glückseligkeit und Geselligkeit sehr wichtig: aus den Tagebucheinträgen vom 18.02. und vom 24.02.1786 ist  zu schließen, dass für ihn die Geselligkeit eine Voraussetzung für die Glückseligkeit ist und dass durch die Einsamkeit keine Glückseligkeit zu erreichen ist.

 

Die Verbindung zwischen Geselligkeit und Glückseligkeit kann mit Sicherheit als Hegels damaliger Hauptgedanke in Bezug auf sein moralisches Hauptinteresse betrachtet werden.

Geselligkeit und Glückseligkeit werden deshalb für ihn bei der Suche nach einer für ihn selbst richtigen und aufgeklärten Lebensweise ab diesem Zeitpunkt richtungweisend.

Die Glückseligkeit ist das Ziel des moralischen Lebens des Menschen, die Geselligkeit der Weg, wodurch der Mensch zu jenem Ziel gelangen kann.

Beide zusammen sind der Sinn des moralischen Verhaltens bzw. des menschlichen Lebens.

 

Um diesen grundlegenden Gedanken zu erfassen, musste Hegel tief und systematisch überlegt haben, und durch dieses tiefe und systematische Nachdenken konnte er zum ersten Mal in seiner Gedankenentwicklung nicht nur die schon angegebenen hauptsächlich moralischen Begriffe, sondern noch mindestens zwei allgemeingültige Grundbegriffe erfassen, die dann sein künftiges Denken möglicherweise bis in die Entstehung und Bildung seines Systems hinein bestimmt haben.

Es handelt sich um folgende Begriffe:

 

- die ‘Nützlichkeit’ bzw. der ‘Nutzen’ sowie der ‘Vorteil’ der ‘Kenntnisse’ in dem Leben des Menschen) und darunter insbesondere der ‘Menschenkenntnisse’ (Eintrag vom 24.01.1786: „Hinzu kommt... Menschenkenntnis“);[16]

- die Natur als diejenige, die dem Menschen das Bedürfnis des geselligen Umgangs eingepflanzt hat (Eintrag vom 15.02.1786: „Zuerst will ich dann sprechen...“ und vom 18.02.1786: „Daß diese uns von der Natur...“).

 

Das erste Auftauchen dieser allgemeingültigen  Begriffe sowie der sich um das Begriffspaar Geselligkeit-Glückseligkeit gruppierenden moralischen Begriffe, die dann auch in der späteren Entwicklung Hegels eine entscheidende Rolle gespielt haben, ist als ein weiterer Beweis der Kontinuität seiner geistigen Entwicklung sowie der Bedeutung dieser Monate am Anfang des Jahres 1786 für die Bildung seiner entstehenden Moralauffassung anzusehen.


[1]) GW 1, S. 22 ff.

[2]) Siehe hierzu die Anmerkung der Redaktion bei 22,2 in GW 1, S. 542.

[3]) Der deutsche Text findet sich in Nicolin, 1970, S. 101; das lateinische Original in GW 1, S. 22-23.

[4]) Die Zitate stammen aus der Anmerkung vom 15.02.1991 (Nicolin, 1970, S. 100; der lateinische Text ist in GW 1, S. 22).

[5]) Nicolin, 1970, S. 100; GW 1, S. 22

[6]) Nicolin, 1970, S. 101: Zunächst wollen wir sprechen über die Vorteile des Umgangs mit älteren Menschen sprechen [...]“.

[7]) Nicolin, 1970, S. 102: „Ich komme nun zu dem Umgang mit dem schwa­chen Geschlecht.

[8]) Nicolin, 1970, S. 102: „Zuerst also und vornehmlich ergibt sich ein über­reicher Vor­teil aus dem Umgang mit äl­teren Men­schen, weil sie sich viele Kennt­nisse von vielen Dingen erwarben. Hinzu kommt vor al­lem eine Kenntnis, die kei­nem sonst zuteil wird [...]: das ist die Menschenkennt­nis.“

[9]) Nicolin, 1970, pS. 102-103; GW 1, S. 24. Die diesbezüglichen Anmerkungen zu 24,4-6 und 24,13-14 auf Seite 542 zeigen sehr deutlich, wie diese Gedanken Hegels durch das Buch Theophron von Campe entscheidend beeinflusst wurden.

[10]) Nicolin, 1970, S. 101; Die Anmerkung vom 23.11.12 in GW 1 gibt genaue Angaben über die diesbezügliche Quelle dieses Gedanken Hegels, nämlich die Rezension von ‚Über die Einsamkeit‘ von J.G. Zimmermann in ‚Allgemeine Deutsche Bibliothek‘ (vgl. Ripalda, 1990, S. 117).  

[11]) Siehe insbesondere folgende Paragraphen der ‚Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse‘ (1830): §§ 478-490 über das Glück; §§ 481-482: §§ über den freien Geist; §§ 513 ff.: über die Sittlichkeit.

[12]) Siehe § 513: "Die Sittlichkeit ist die Vollendung des objektiven Geistes".

[13]) Siehe die Anmerkung zu § 436 zur allgemeinen Selbstbewusstsein.

[14]) § 482, Anmerkung: „Es ist dies Wollen der Freiheit nicht mehr ein Trieb, der sei­ne Befriedigung fordert, son­dern der Cha­rakter, - das zum trieblosen Sein gewordene Be­wußt­sein.“

[15]) Das Wiederkehren der Be­griffe der Ehre, des Ruhms und an­derer Ei­gentüm­lich­keiten des menschlichen Cha­rakters in die­sem Para­graphen ist auch als Verbindung zum Stuttgarter Hegel sehr interessant und bedeutsam.

[16]) Siehe die schon erwähnten Einträge im Tagebuch vom 18. und 24. Februar 1786.

 

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Video

Lesson 10

1.2 SECOND STEP: The understanding of sociability as a means and happiness as a goal of human life (24 August 1785 - 24 February 1786): The importance of dealing with older people

Lesson 11

1.2 SECOND STEP: The understanding of sociability as a means and happiness as a goal of human life (24 August 1785 - 24 February 1786): The importance of meeting women

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