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November 2024 - Februar 2025
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ONLINE SEMINAR
EINFÜHRUNG IN DIE PHILOSOPHIE VON G.W.F. HEGEL
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geleitet
von
Marco de Angelis
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2. SITZUNG
(2.12.2024)
"Aktualität von Hegels dialektischem Grundsatz"
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(In der Farbe Grün sind die Teile mrkiert, die wir schon gelesen und kommentiert haben.)
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PHILOSOPHISCHE HINWEISE ZUM HAUPTZIEL DES SEMINARS
Wichtigste digitale Referenz
Die wichtigste Referenz für das Seminar ist zunächst die von mir geschaffene und geleitete philosophische Plattform www.philosophyforfuture.org, insbesondere die folgende Sektion:
Der Hauptzweck dieser Plattform besteht darin, eine philosophische Theorie der politischen Organisation der zukünftigen Menschheit darzulegen, die in der Lage ist, die für uns alle offensichtlichen Widersprüche zu überwinden, die seit mindestens zweihundertfünfzig Jahren vor allem wehrlosen Zivilisten, in erster Linie Kindern, Frauen und älteren Menschen, immenses Leid zufügen.
Obwohl sich in dieser Zeit eine aufklärerische, also vernunftbasierte Mentalität, also Philosophie und Wissenschaft, wenn man so will, durchzusetzen begann, sind die Ergebnisse, die wir vor Augen haben, nicht gerade erfreulich, was bedeutet, dass bei dieser Durchsetzung der menschlichen aufklärerischen Vernunft etwas schiefgelaufen ist.
Die philosophische Plattform www.philosophyforfuture.org, die auch, aber nicht nur, als Unterstützung der Bewegung ‚Fridays for Future‘ gedacht wurde, enthält eine Vision von Vernunft und Rationalität, die meiner Meinung nach das wissenschaftlich-philosophische Fundament einer neuen Welt bilden könnte, in der Aufklärung und Vernunft, Philosophie und Wissenschaft, ganz in den Dienst der gesamten Menschheit und insbesondere ihrer unterstützungsbedürftigen Elemente gestellt werden müssten.
Philosophie und Politik
Dieser politische Bezug der Philosophie sollte uns nicht überraschen. Philosophie ist nämlich nicht als einfache theoretische Spekulation über das Universum und seine Grundlagen entstanden, sondern auch und vielleicht vor allem als ethische Reflexion über die Prinzipien, die das Zusammenleben der Menschen auf dem Planeten Erde regeln sollen, um jedem ein möglichst lebenswertes Leben zu garantieren.
Für dieses ethische Ideal, das stets im Mittelpunkt einer ernsthaften philosophischen Auffassung steht, haben einige Philosophen sogar ihr Leben gegeben, wie Sokrates oder Giordano Bruno; andere haben ein schweres Leben unter Entbehrungen, Angst oder Verlust der geistigen Klarheit geführt (Descartes, Spinoza, Vico, Nietzsche); wieder andere wurden für ihre Ideen sogar zum Tode gefoltert oder direkt ermordet (Gramsci, Gentile).
Kurzum, die Philosophie ist nicht gerade eine angenehme Tätigkeit und Disziplin, wenn sie im tiefsten Sinne des Wortes ausgeübt wird, d.h. als Liebe zur Weisheit, also zur Sapientia, die dann in den Dienst der Menschheit gestellt wird. (1: Link zu diesen Begriffen hier).
Nur sehr wenigen Philosophen ist es gelungen, ein „fast“ normales Leben zu führen: Die Philosophen des britischen Empirismus zwischen 1600 und 1700, Leibniz, der aus einer wohlhabenden Familie stammte und auf jeden Fall in der diplomatischen Politik tätig war; Kant, der es schaffte, als Universitätsprofessor zu leben, während er gleichzeitig auf seine eigene Familie verzichtete und in fast völliger Isolation lebte; unser eigener Hegel, der es irgendwie schaffte, in seinem Leben, nachdem er verschiedene Berufe ausgeübt hatte, Universitätsprofessor zu werden, aber, wie wir sehen werden, ihn und die Menschheit nach ihm einen enormen Preis für dieses begrenzte Wohlbefinden seines Individuums und seiner Familie zahlen ließ.
Die Philosophie ist, kurz gesagt, eine Tätigkeit, die im totalen Dienst an der Menschheit ausgeübt werden soll, für die man auch bereit sein muss, einen Preis zu zahlen, der sehr hoch sein kann, sogar bis zur Aufopferung des eigenen Lebens. Wer dazu nicht bereit ist, ist für diesen Beruf, der in Wahrheit eine „Mission“ ist, nicht geschaffen. Der Philosoph ist in der Tat der Missionar der Wahrheit, er ist es, der die Aufgabe hat, die Wahrheit auf dem Planeten Erde zu vertreten, koste es, was es wolle.
Philosophie und Revolution
Authentische Philosophie, nicht Philosophie, die wiederholt, was andere bereits gesagt haben, sondern Philosophie, die einen weiteren geistigen Fortschritt der Menschheit ermöglicht, ist immer „Revolution“ und als solche der Todfeind der etablierten Macht, die ihrem Wesen nach „Erhaltung-Konservation“ ist.
Natürlich soll die philosophische Revolution eine friedliche Revolution sein, niemals gewaltsam und niemals kriminell. Philosophen würden lieber selbst sterben, als den Tod anderer Menschen zu verursachen. Der Philosoph liebt in der Tat die Menschheit und würde niemals anderen Menschen Leid zufügen. Die konstituierte Macht aber denkt nicht so, sondern umgekehrt: Sie will keine Veränderung, sie will ihre machtbedingten Privilegien erhalten und betrachtet deshalb die wahren Philosophen, d.h. die Träger des Neuen, zwangsläufig als ihre gefährlichsten Feinde, die es zu isolieren, zu bekämpfen und notfalls zu töten gilt.
Weltkrieg oder Weltstaat?
Die philosophische Plattform www.philosophyforfuture.org beabsichtigt, ihren eigenen philosophischen und wissenschaftlichen Beitrag zum kommenden Fortschritt der Menschheit zu leisten. Dieser wird in gewisser Weise darin bestehen müssen, die politische Dimension der Organisation der Gesellschaft von der Ebene der Nation auf die der gesamten Menschheit auszudehnen. Unsere Gesellschaft ist heute eindeutig eine globale Gesellschaft, in der das, was in einer Ecke der Welt geschieht, innerhalb kürzester Zeit sogar verheerende Auswirkungen auf den Rest der Welt haben kann. Das haben wir zum Beispiel im Fall der Covid-19-Pandemie gesehen.
Leider betrifft dies nicht nur den gesundheitlichen, sondern auch und vor allem den militärischen Aspekt: Das letzte Jahrhundert hat deutlich gemacht, dass Krieg nicht mehr eine lokale, sondern eine globale Angelegenheit ist. Jeder lokale Konflikt spaltet heute die Welt und die Menschheit in zwei Hälften, eine gegen die andere. Seit 1945 lebt die Menschheit in der Angst vor einem dritten Weltkonflikt, den letztlich niemand will, weil niemand glaubt, ihn gewinnen zu können, der aber dennoch als Bedrohung bleibt.
Die Geschichte lehrt uns Philosophen, dass wir kein Vertrauen in Politiker haben dürfen, die oft völlig unvorbereitete Menschen sind, von denen keiner für diesen immens wichtigen Beruf studiert hat, um ein so wichtiges Amt zu erreichen. Sie sind also unberechenbare Menschen, die oft von privaten und wirtschaftlichen Interessen geleitet werden, ganz sicher nicht von dem Wunsch, der Menschheit Gutes zu tun.
Es ist daher legitim, dass ein normaler Bürger, der studieren und sich vorbereiten muss, um eine Qualifikation zu erlangen, die es ihm möglich macht, einen qualifizierten Beruf auszuüben, sich vor der Gerissenheit dieser Leute fürchtet, die oft, ohne studiert und sich qualifiziert zu haben, Positionen von solcher sozialen und wirtschaftlichen Macht erreicht haben. Niemand kann uns garantieren, dass diese Menschen, die nicht auf der Ebene einer Universitätskarriere von offiziell qualifiziertem Personal ausgewählt wurden, nicht einen Fehler machen und früher oder später das auslösen, was wir alle befürchten, nämlich einen Weltkonflikt.
Die grundlegende Frage, die ich dem philosophischen Gedanken, den ich vertrete, und der Plattform, auf der ich ihn zum Ausdruck bringe, fast als Motto voranstellen möchte, lautet daher wie folgt:
„Weltkrieg oder Weltstaat“?
Das ist in der Tat das entscheidende Dilemma unserer heutigen Gesellschaft: Im Moment steuert die Gesellschaft auf einen Weltkrieg zu, auch wenn die objektiven Bedingungen dafür glücklicherweise bisher nicht eingetreten sind; dennoch kann niemand die Tatsache leugnen, dass die Weltgesellschaft seit 1945 mit dem Feuer spielt und dass so viele lokale Konflikte in einen Weltkonflikt umzuschlagen drohten und noch drohen. Wir können diese Gefahr nur bannen, wenn wir begreifen, dass eine Weltgesellschaft ohne globale politische Organisation nicht überleben kann; früher oder später wird sie zusammenbrechen.
Unsere Hoffnung: supranationale politische Institutionen
Andererseits hat die Menschheit selbst, die in der ständigen Bedrohung eines weltweiten Konflikts lebt, in den letzten rund 100 Jahren supranationale Strukturen geschaffen, deren Aufgabe gerade darin besteht, eine friedliche Auseinandersetzung zwischen den Nationen zu ermöglichen und damit eine militärische Konfrontation zu vermeiden. Die UNO ist zweifellos die wichtigste dieser Institutionen, und obwohl es ihr derzeit an effektiver Macht mangelt, ist sie dennoch ein Ort, an dem Streitigkeiten beigelegt werden können, bevor sie mit Waffen ausgetragen werden, d.h. ein Ort der Mediation, der Vermittlung.
Es liegt auf der Hand, dass eines der Hauptziele der Menschheit in naher Zukunft darin bestehen muss, die UNO weiterzuentwickeln und ihr vor allem wirksame Befugnisse zu verleihen.
Eine weitere sehr wichtige Institution, die den beteiligten Nationen in den letzten 80 Jahren einen sehr langen Frieden gesichert hat, ist die Europäische Union. Staaten, die sich seit Jahrtausenden immer wieder bekriegt haben, haben seit Ende des Zweiten Weltkrieges beschlossen, einen Weg der gegenseitigen Annäherung zu beschreiten, mit dem Ziel, sich zu gegebener Zeit in einer politischen Föderation zu vereinen. Dies ist ein absolut avantgardistisches Modell, das für die ganze Welt eine Inspiration sein könnte.
Immanuel Kants Philosophie, die Grundlage supranationaler politischer Institutionen
An dieser Stelle stellt sich die berechtigte Frage: Was hat das alles mit Philosophie zu tun?
Nun, die Antwort ist, dass sowohl die UNO als auch die Europäische Union philosophische Produkte sind, denn sie basieren auf dem Gedankengut von Immanuel Kant, der bereits 1795 in seinem Buch "Zum ewigen Frieden" die grundlegenden konzeptionellen Umrisse eines supranationalen Staatenbundes dargelegt hat.
Erwähnenswert ist auch das "Manifest von Ventotene", das die grundlegenden theoretischen Elemente enthält, die zur Konstituierung der Europäischen Föderalistischen Bewegung und damit zur Geburt des europäischen politischen Einigungsprojekts führte. Es wurde von drei italienischen Intellektuellen, Arturo Spinelli, Eugenio Colorni und Ernesto Rossi, verfasst, die von Mussolini ins Exil auf die schöne Insel Ventotene gegenüber der römischen Küste geschickt wurden. (2: Link zu Informationen über das Manifest von Ventotene hier; Link zum Text hier).
Vor diesem bedeutenden Manifest hatten aber auch andere Intellektuelle philosophische Projekte für die Einigung der europäischen Nationen ausgearbeitet, insbesondere Charles Lemonnier, der 1872 in Frankreich einen eindeutig vom Kantianismus inspirierten Text mit dem vielsagenden Titel "Die Vereinigten Staaten von Europa" veröffentlichte. (3: Link zum Text hier).
Einige Jahre später, nach dem Ersten Weltkrieg, veröffentlichte ein österreichischer Intellektueller, Richard Coudenhove-Kalergi, um einen zweiten Weltkrieg zu verhindern, einen Text mit dem Titel "Paneuropa" und gründete auch eine politische Bewegung mit demselben Namen. (4: Link über Coudenhove-Kalergi hier; Link über Paneuropa-Bewegung hier; Link zum Text des Paneuropa-Buchs hier).
Leider blieben die Stimmen von Lemonnier und Coudenhove-Kalergi ungehört und die Menschheit musste zwei Weltkriege mit Millionen von Toten erleiden, bevor sie nach 1945 die Botschaft der europäischen Einigung akzeptierte, vor allem dank des Manifests von Ventotene. Hätten die Politiker früher auf die Stimme der Philosophie gehört, wären mehrere Millionen Menschen am Leben geblieben, anstatt zu sterben. Das ist die harte und rohe Realität, wenn die Politik nicht auf die Philosophie, d. h. auf die Weisheit, hört.
Auf der Insel Ventotene haben diese drei Intellektuellen die Idee der Überwindung des Nationalstaates zunächst in Europa, dann weltweit ausgearbeitet, und zwar, wie gesagt, auf der Grundlage von Kants Schrift "Zum ewigen Frieden". Eugenio Colorni war Philosophiedozent und Anhänger der Philosophie Kants. Seine Frau, die deutsche Ursula Hirschmann, die die Erlaubnis hatte, ihn zu besuchen, brachte diese Schrift auf Resten von Zigarettenschachtelpapier nach Rom, um sie inmitten des faschistischen Regimes und mitten im Krieg 1941 zu veröffentlichen. (5: Erste Informationen über Ursula Hirschmann hier).
Dank ihres Mutes begann diese Schrift im Geheimen zu zirkulieren und vermittelte denjenigen, die sie lasen, die kantischen Vorstellungen von einem philosophischen Frieden durch eine Föderation der Völker und Staaten. Genau das ist es, was wir heute in Europa haben und was es unserer Generation, die nach 1945 geboren wurde, ermöglicht hat, ohne Bomben auf dem Kopf in Frieden zu leben, was keineswegs selbstverständlich ist! Wenn es uns letztlich möglich war, so gut zu leben, dann verdanken wir das vor allem Kant und denjenigen, die sein Denken verbreitet und auf die aktuelle politische Situation in der Gesellschaft angewendet haben.
Als die Menschheit also in den Abgrund stürzte, in den die Politik der unvorbereiteten, unwissenden, gerissenen und kleinlichen Politiker sie geführt hatte, musste sie sich, um wieder aufzustehen, an das philosophische Denken wenden, das heißt an qualifizierte Menschen, an diejenigen, die ihr Leben dem ‚Studium‘ und der Bildung des Geistes widmen, das heißt an die Philosophen. Diese haben durch ständiges, ein Leben lang praktiziertes ‚Studium‘ gelernt zu denken, also auch die Grundlagen des Staates zu denken.
Wenn irgendjemand oder irgendetwas die Menschheit vor einem dritten und leider wohl entscheidenden Weltkonflikt bewahren kann, dann können es nur Philosophen und die Philosophie sein!
Mit dieser langen Vorbemerkung im Hinterkopf ist es schließlich legitim, die folgende Frage zu stellen: Warum beschäftigen wir uns in unserem Seminar mit dem Denken Hegels und nicht mit dem Kants, wenn doch letzteres die Grundlage der supranationalen Institutionen ist, die den Frieden in der Welt und in Europa garantieren könnten?
Hegel, der ‚Anwender‘ (‚Umsetzer‘, ‚Verwirklicher‘) des religionsphilosophischen Programms von Kant
Wie ich in einem Vortrag dargelegt habe, den ich hier in Hagen im Rahmen eines von Professor Hoffmann geleiteten Treffens mit einigen Doktoranden aus Südamerika gehalten habe, ist Hegel als derjenige zu sehen, der das philosophische Programm von Vater Kant, wie er damals von den jungen Universitätsstudenten genannt wurde, realisiert hat. (6: Link zum Text meines Vortrages hier).
Es gibt einen sehr schönen und bedeutsamen Satz, den Schelling in einem Brief an Hegel geschrieben hat, der den evangelischen Stift in Tübingen bereits verlassen hatte, da er fünf Jahre älter war als sein Freund.
Schelling an Hegel (am heil. Dreikönigsabend 1795):
„Ich lebe und webe gegenwärtig in der Philosophie. Die Philosophie ist noch nicht am Ende. Kant hat die Resultate gegeben; die Prämissen fehlen noch. Und wer kann Resultate verstehen ohne Prämissen?“ (7: In: "Briefe von und an Hegel", Bd. I, 1785-1812, Hamburg 1952, S. 14)
Mit diesem Satz meinte Schelling, dass Kant im Grunde alles durchdacht habe, und hier bezog sich Schelling sicher mehr auf den Kant der späteren Werke, insbesondere der Religionsphilosophie, als auf den Kant der drei Kritiken. Gerade Kants 1793 erschienene Schrift "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" hatte in der Tat einen enormen Einfluss auf die jungen Tübinger Theologiestudenten. (8: Quelle: I. Kant: "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" (1793); Link zur ersten Information hier; Link zum Text hier). Denn wir dürfen nicht vergessen, dass Schelling und Hegel nicht Philosophie, sondern Theologie studierten; sie bereiteten sich darauf vor, evangelische Pfarrer zu werden.
In seinen letzten Werken, die genau in den Jahren geschrieben wurden, in denen Schelling, Hegel und Hölderlin in Tübingen studierten oder kurz danach, hatte Kant in seiner Schrift von 1795 auf politischer und in seiner Schrift von 1793 auf religiöser Ebene sehr präzise Hinweise darauf gegeben, wie die Welt der Zukunft aussehen sollte. In dieser Schrift von 1793, die den größten Einfluss auf Hegel, Schelling und Hölderlin ausübte, wie die philologischen und historischen Studien der letzten Jahrzehnte im Rahmen der Hegel-Forschung hinreichend belegen, legte Kant den Grundgedanken einer Vernunftreligion dar, d.h. die Vision, nach der die Menschheit dazu tendiert, die mit Aberglauben und Dogmen am engsten verbundenen Elemente aus den Religionen allmählich zu entfernen. Am Ende dieses Prozesses, so Kant, wird es in der Welt nur eine einzige reine universelle Religion geben, die eine unsichtbare Kirche hervorbringen wird, die von all jenen gebildet wird, die das Gute wollen. Dies ist die Vernunftreligion, zu der die Menschheit nach Kant tendiert. (9: Kants Buch von 1793 und seinen Einfluss auf die jungen Studenten des Tübinger Stifts habe ich in einem jetzt online veröffentlichten Aufsatz eingehend untersucht (Link hier).
Der junge Hegel hat, wie wir im Seminar des letzten Semesters gesehen haben, die Verwirklichung eines solchen kantischen religiös-rationalen Ideals zum intellektuellen Ziel seines Lebens gemacht, d.h. er hat sich die philosophische Aufgabe gestellt, ein solches Ideal zu verwirklichen, d.h. derjenige zu sein, der eine solche Vernunftreligion begründen würde. Dies ist in den letzten Texten der Tübinger Jahre (Text 25 und 26) hinreichend dokumentiert, über die uns unsere ‚Mitphilosophin‘ (‚confilosofa‘ auf Italienisch) und Kollegin Sarina Fehst später berichten wird.
Deshalb ist es ein schwerer philosophiegeschichtlicher Irrtum, Hegel gegen Kant auszuspielen, denn es ist vielmehr aus Hegels jugendlichen Texten philologisch eindeutig belegt, dass er Kants Gedankengut in seinem eigenen Geistesleben aufgegriffen und zur Geltung gebracht hat, wie auch die folgenden Passagen aus Briefen Hegels an seinen Freund Schelling aus jenen Jahren zeigen.
Hegel an Schelling (Ende Januar 1795)
„Seit einiger Zeit habe ich das Studium der Kantischen Philosophie wieder hervorgenommen, um s[eine] wichtige[n] Resultate auf manche uns noch gang und gäbe Idee anwenden zu lernen oder diese nach jenen zu bearbeiten.“ (10: ebd., S. 15)
Am 16. April 1795 präzisiert er dann sehr deutlich, worin diese „Anwendung“ besteht:
„Vom Kantischen System und dessen höchster Vollendung erwarte ich eine Revolution in Deutschland, die von Prinzipien ausgehen wird, die vorhanden sind und nur nötig haben, allgemein bearbeitet auf alles bisherige Wissen angewendet zu werden.“ (11: ebd., S. 23)
Genau das tut Hegel ab Passage 99.29 des Textes 16 (in GW1): Er wendet die Ergebnisse, zu denen Kant gekommen war, auf seine eigene Auffassung von Volksreligion an. Diese ’Anwendung’ ist zugleich eine ’Vollendung’, weil Hegel damit das verwirklicht, was Kant aus offensichtlichen Altersgründen im Kapitel IV des dritten Teils unterlassen hatte, nämlich den Übergang vom theoretischen Verständnis der Vernunftreligion zur praktischen Entscheidung über ihre Begründung zu vollziehen.
Historisch-philosophische Schlussfolgerung
Meine geschichtsphilosophische Schlussfolgerung an dieser Stelle lautet wie folgt: Wenn wir heute den Weg des Weltstaates, d.h. den einer Föderation von Nationalstaaten, einschlagen wollen, um einen weiteren Weltkrieg ein für alle Mal zu verhindern, denn es ist klar, dass ein Krieg zwischen den Staaten derselben Föderation nicht stattfinden kann, da sie alle einer höheren politischen Einheit angehören, die in der Lage ist, sie zu vereinen, zu regeln und zu leiten, müssen wir die supranationalen Institutionen, die den Frieden garantieren, d.h. die UNO und die Europäische Union, von einem hegelianischen und nicht mehr nur von einem kantischen Standpunkt aus neu überdenken. Der Grund ist ganz einfach: Kant war sicherlich derjenige, der im letzten Jahrzehnt seines Lebens sowohl die Entwicklung der Geschichte, den Begriff des Staates und schließlich den der wahren Weltreligion gründlich verstanden hat. Allerdings hatte er nur den abstrakten Begriff einer solchen evolutionären Auffassung der Menschheit hin zu einem Zustand der geistigen Vereinigung verstanden, aber er hatte nicht mehr die Zeit, da er nun weit in seinen Siebzigern war, die eigentliche detaillierte Theorie einer solchen titanischen historisch-philosophisch-religiösen Vision auszuarbeiten. Hier aber kommt die historische Dialektik ins Spiel, die Hegel in der Einleitung zu den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie meisterhaft erläutert hat. (12: Link zur Quelle hier)
Die Philosophie ist eine echte Wissenschaft, also gibt es eine Kontinuität zwischen echten Philosophen: Der junge Philosoph lernt vom älteren Philosophen und bringt, da er mehr Lebenszeit zur Verfügung hat, die Wissenschaft einen Schritt weiter, was der ältere Philosoph nicht mehr tun kann, nicht weil er unfähig ist, sondern weil ihm leider bald das wesentliche Element fehlt: Zeit und Leben.
In der Geschichte der Philosophie gibt es also eine absolute Kontinuität zwischen dem vorhergehenden (älteren) Philosophen und dem nachfolgenden (jungen). Zwischen ihnen gibt es eine „Übergabe“, die oft philologisch rekonstruiert werden kann, wenn die Jugendschriften des letzteren erhalten geblieben sind. Das ist immer dann der Fall, wenn wir nur die großen Denker nehmen, die die philosophische Disziplin gerade weitergebracht haben. Andererseits gilt auch in den wissenschaftlichen Disziplinen das Prinzip der Kontinuität nur für die Wissenschaftler, die die Disziplin vorangebracht haben, keineswegs für alle, die sich für die Wissenschaft interessiert haben.
Das Grundprinzip der Hegelschen Philosophie, also der neuen Vernunftreligion der Menschheit: die Revolution der Anerkennung des Anderen
Das bedeutet vor allem, im Sinne der Dialektik denken zu lernen: Hegels Dialektik kommt immer zur Synthese, sie bleibt nie beim Gegensatz, bei der Opposition stehen. Dialektisch zu sein, dialektisch zu denken, bedeutet, die Opposition zu überwinden und den Modus der Versöhnung zu finden. Es bedeutet, zu verstehen, dass die Wahrheit nie auf nur einer Seite steht, sondern sich gerne in mehrere Teile aufteilt. Es bedeutet, unseren Gesprächspartner immer anzuerkennen und den Teil der Wahrheit, der Vernunft zu verstehen, den er in sich trägt.
Dies ist die große Lehre von Hegels "Wissenschaft der Logik"! Die anderen Teile des Systems sind nichts anderes als die Anwendung dieses universellen Prinzips auf die verschiedenen Bereiche der Philosophie und damit des Lebens.
Der Krieg hingegen bleibt immer in der Opposition stecken, es gelingt ihm nie, eine Synthese zu erreichen, sondern er tendiert zur gegenseitigen Vernichtung der Gegensätze. Krieg ist analytisch, nicht synthetisch; Krieg trennt, statt zu vereinen. Einer der beiden Gegensätze muss verschwinden, und der Gewinner wird „die Synthese“ sein. In der Vergangenheit, als es noch keine Atomwaffen gab, hat das auch funktioniert, auch wenn es eine Spur von unermesslichem Schmerz hinterlassen hat, aber das ist nicht mehr der Fall, ein echter Krieg, also mit den heutigen Waffen, würde keinen Sieger, also keine Synthese haben.
Die Menschheit soll daher lernen, synthetisch und dialektisch zu denken und das analytische und trennende Denken aufzugeben. Sie soll die Synthese und die Versöhnung suchen und die Opposition nicht durch die Vernichtung, sondern durch die gegenseitige Anerkennung überwinden, wie Hegel in seiner "Philosophie des Geistes" so gut gelehrt hat, insbesondere in §436 der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (Ausgabe 1830), der sich mit dem Begriff des „anerkennenden Selbstbewusstseins“ beschäftigt. (13: Link zum Text hier).
Die Anerkennung der Menschlichkeit des Anderen, selbst bei Unterschieden in den Mentalitäten, Traditionen, politischen Systemen usw., das ist die wirkliche Revolution, die wir heute brauchen, die einzige Revolution, die uns helfen kann, aus der Pattsituation herauszukommen, in der wir uns seit 1945 befinden und die jetzt jedes Jahr Kriege mit Zehntausenden von Toten hervorbringt, vor allem unter der Zivilbevölkerung, den jungen Menschen und den Schwachen.
Im Grunde genommen brauchen wir die Revolution der Anerkennung des Anderen!
Dem nunmehr permanenten Krieg kann die Philosophie ein „Ende“ setzen, wenn wir die große ethische Lektion der Hegelschen Dialektik lernen, und vor allem, wenn wir sie den Politikern beibringen, denen, die unser Leben leider organisieren.
Dialektische Philosophie und die UNO
Dies könnte, ja sollte das pädagogische Programm in allen Schulen der Welt werden, das von der UNO organisiert werden sollte. Wenn die UNO keine militärische Macht hat, so könnte sie doch in kultureller Hinsicht Macht haben. Die UNO muss die Zügel der zukünftigen Entwicklung der Menschheit in die Hand nehmen, indem sie vor allem mit weltweiten Schulprogrammen eingreift, um die jungen Erdenbürger dazu zu erziehen, dialektisch zu denken, d.h. sich trotz ihrer jeweiligen historischen Unterschiede in ihrer gemeinsamen Menschlichkeit anzuerkennen und sich nicht gegenseitig zu bekämpfen.
Was machen wir in Europa zum Beispiel mit dem Erasmus-Programm? Wir geben jungen Menschen die Möglichkeit, einen Studienaufenthalt in anderen EU-Ländern zu verbringen, um andere Mentalitäten, andere Völker, andere Lebensweisen kennen zu lernen. Das führt dazu, dass sich viele junge Menschen aus Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien usw. mittlerweile als „Europäer“ fühlen, weil sie andere europäische Nationen und Völker kennen und schätzen gelernt haben und diese nun nicht mehr als „fremd“, sondern als „ähnlich“ und „interessant“ empfinden.
Sich ‚Kennen‘ ist nämlich immer die Voraussetzung für das sich ‚Anerkennen‘, aber wenn junge Russen, Amerikaner, Chinesen usw. keinen Kontakt zueinander haben, wenn sie sich nicht kennen, wie können sie sich dann jemals anerkennen?
Die weltweite philosophisch-pädagogische Revolution
Dies ist die eigentliche Revolution, die wir als Menschheit anstreben sollten, eine weltweite philosophisch-pädagogische Revolution. Durch das Internet und andere technologische Innovationen sowie die heutige Leichtigkeit des globalen Reisens ist dies nun möglich. Man muss es nur wollen!
Das ist auch die Revolution, von der Hegel, Schelling und Hölderlin in Tübingen geträumt haben, zusammen mit vielen anderen jungen Menschen im idealistischen und romantischen Deutschland jener wunderschönen Zeit.
Es gibt eine sehr beeindruckende Schrift, von der wir nicht genau wissen, wem sie zuzuschreiben ist, denn sie ist das Ergebnis eines späteren Treffens, 1797, also einige Jahre nach ihrem Studium in Tübingen, bei dem sich die drei Freunde in Frankfurt wieder trafen und Hegel, wie es seine Gewohnheit war, den folgenden Text niederschrieb, vielleicht von einem von ihnen diktiert oder gemeinsam verfasst, wir werden es nie erfahren, obwohl alles auf Schelling als Autor hindeutet. Lesen wir den abschließenden Teil.
Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus
„Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die, soviel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist - wir müßen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden.
Ehe wir die Ideen ästhetisch, d. h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse und umgekehrt, ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen. So müssen endlich aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden, um das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns. Nimmer der verachtende Blik, nimmer das blinde Zittern des Volks vor seinen Weisen und Priestern. Dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen. Keine Kraft wird mehr unterdrückt werden, dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister! - Ein höherer Geist, vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte gröste Werk der Menschheit seyn." (GW 2, S. 615-617)
(14: Die kritische Ausgabe des Originaltextes ist von Christoph Jamme und Helmut Schneider veröffentlicht worden: "Hegels ‚ältestes Systemprogramm‘ des deutschen Idealismus", Frankfurt a. Main 1984; Infolink hier).
Und weiter: Wie kann man diese schönen Worte Hölderlins in einem Brief an seinen Bruder Karl in diesem Bezug nicht erwähnen?
„Meine Liebe ist das Menschengeschlecht, freilich nicht das verdorbene, knechtische, träge, wie wir es nur zu oft finden, auch in der eingeschränktesten Erfahrung. Aber ich liebe die große, schöne Anlage auch in verdorbenen Menschen. Ich liebe das Geschlecht der kommenden Jahrhunderte. Denn dies ist meine seligste Hoffnung, der Glaube, der mich stark erhält und tätig, unsere Enkel werden besser sein als wir, die Freiheit muß einmal kommen, und die Tugend wird besser gedeihen in der Freiheit heiligem erwärmenden Lichte als unter der eiskalten Zone des Despotismus. Wir leben in einer Zeitperiode, wo alles hinarbeitet auf bessere Tage. Diese Keime der Aufklärung, diese stillen Wünsche und Bestrebungen einzelner zur Bildung des Menschengeschlechts werden sich ausbreiten und verstärken und herrliche Früchte tragen. Sieh! lieber Karl! dies ist’s, woran nun mein Herz hängt. Dies ist das heilige Ziel meiner Wünsche und meiner Tätigkeit - dies, daß ich in unserm Zeitalter die Keime wecke, die in einem künftigen reifen werden.“
(15: Tübingen, September 1793; in: Stuttgarter Ausgabe (StA), VI/1, p. 92).
Die deutsche Kultur jener wunderbaren Zeit, nicht nur die Philosophie, sondern auch die Literatur, allen voran natürlich Hölderlin, aber denken wir auch an Goethe und Schiller, Herder und Lessing, muss für uns wie ein Leuchtturm sein, der uns den richtigen Weg zeigt, um das Ziel zu erreichen, das nur das friedliche Zusammenleben der gesamten Menschheit auf dem Planeten Erde sein kann, unter menschenwürdigen Bedingungen für jeden Menschen, völlig unabhängig vom zufälligen Ort seiner Geburt.
Dies ist die enorme Kraft, die uns aus der Botschaft jener großen Intellektuellen erwächst, und je kritischer und düsterer die Zeiten werden, desto mehr müssen wir wieder aus diesen Quellen der unendlichen Weisheit und ‚Sapientia‘ trinken.
Ziel unseres Seminars
Das Hauptziel unseres Seminars wird es daher sein, zu lernen, was es wirklich bedeutet, dialektisch zu denken, d.h. niemals bei der Analyse und der Opposition stehen zu bleiben, sondern immer nach Synthese und Vereinigung zu streben.
Diese ist die authentische Lehre Hegels, die heute aktueller und lebendiger ist denn je!
Marco de Angelis
(21-25. November 2024)
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