*
2023
*
Die dialektische Entwicklung von Hegels Denken (1785-1806):
Entstehung und Bedeutung seines philosophischen Systems
*
(Hinweis: Dies ist eine regelmäßig überarbeitete und bis 2022
auf der Grundlage der allmählichen Veröffentlichung der Gesammelten Werke
aktualisierte Version meiner philosophischen Dissertation von 1983.
Die Aktualisierung ist noch nicht abgeschlossen.
Vor allem die Fußnoten sind unvollständig und teilweise
nicht korrekt angezeigt. Der Text wird derzeit für die Veröffentlichung
in gedruckter Form vorbereitet).
*
VORREDE
Über den Sinn des Studiums der Hegelschen Philosophie
Aus einigen unserer zuvor durchgeführten Forschungen (1) ging hervor, dass Hegels grundlegende Absicht sowohl in der Jugend- als auch in der Reifezeit darin bestand, der Menschheit eine wissenschaftliche Konzeption durch die Ausarbeitung seines eigenen philosophischen Systems zu vermitteln, das demonstriert wird und beweisbar, von Weisheit und verwirklicht damit das kantische Ideal, das der Meister von Königsberg in dem suggestiven Satz ausdrückt:
“Diese (2) bezieht alles auf Weisheit, aber durch den Weg der Wissenschaft, den einzigen, der, wenn er einmal gebahnt ist, niemals verwächst, und keine Verirrungen verstattet.”(3) |
Da „Philosophie“ ihrem Wesen nach grundsätzlich Weisheit ist und nicht bloße Erkenntnis als Selbstzweck, wie die Griechen ein für allemal lehrten, indem sie diesen erhabenen Begriff in eben diesem Begriff herauskristallisierten, folgern wir daraus, was das kantisch-hegelianische Unternehmen zu suchen hat Der Weg zu einer adäquaten wissenschaftlichen Fundierung der Weisheit ist nichts anderes als der Versuch, die Philosophie selbst in ihrem eigentlichen ursprünglichen Sinn wissenschaftlich zu begründen.
Dass diese sehr hohe Aufgabe nicht nur zur Zeit der beiden großen deutschen Denker große Bedeutung hatte, sondern immer noch eine aktuelle Aufgabe ist, sogar heute vielleicht sogar noch relevanter als damals, sollte jedem einleuchten, der unabhängig vom Grad seiner philosophischer Vorbereitung den ethisch-politischen Ereignissen der heutigen Welt (als Beispiel das ökologische Problem und Massentötungen,(4) die eindeutig durch einen völligen Mangel an Weisheit verursacht wurden) ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit schenken.(5)
Es wird dann zweifellos von großem geschichtsphilosophischem Nutzen sein, dieser Kantisch-Hegelschen Spur zu folgen und in Bezug auf den von Hegel unternommenen Versuch einer wissenschaftlichen Fundierung der Weisheit eine eingehende Recherche durchzuführen, um zu verstehen, wie der Stuttgarter Denker einem solchen Unterfangen gegenüberstanden, so schwierig für diejenigen, die dazu bereit sind, wie es notwendig ist, für diejenigen, die es brauchen und daher bereit sind, die Ergebnisse zu erhalten.
*
EINLEITUNG
Über die korrekte Methode zur Erforschung
eines philosophischen Systems der Vergangenheit,
mit besonderer Berücksichtigung des Hegelschen Systems
Bei der Interpretation der Hegelschen Philosophie stößt man, wie bei jedem anderen komplexen philosophischen System der Vergangenheit, leider auf Hindernisse. Da es sich hier um ein Thema handelt, das bereits ausführlich abgehandelt wurde, könnte man meinen, es gäbe bei seiner Interpretation nichts mehr, oder zumindest nichts Neues oder wirklich Entscheidendes, zu entdecken. Studiert man allerdings aufmerksam die kritische Literatur, so geht daraus hervor, dass der Quantität der Werke, die sich mit Hegel beschäftigen, keinesfalls auch die entsprechende Qualität der Resultate gegenübersteht.
Das liegt vor allem daran, dass die bisherigen Autoren die Analyse der Hegelschen Philosophie in verschiedene Bereiche einteilten, so z.B. der junge Hegel, Hegel in Jena, der reife Hegel und damit auch Hegel und die Logik, die Rechtsphilosophie, usw. Dadurch verloren sie sowohl die chronologische als auch die systematische Maßeinheit des ‚Phänomens Hegel‘ aus den Augen.
Als besonders negativ erweist sich die Trennung zwischen jungem und reifem Hegel. Das hat zur Folge, dass die Erforschung der Jugendjahre des Philosophen am Ende rein historischen Wert bekommt, da sie nicht zu einem besseren Verständnis seines späteren Systems führt. Auf der anderen Seite gelingt es den systematischen Interpretationen nicht, die authentische Bedeutung des Systems zu verstehen, weil sie nicht in der entwicklungsgeschichtlichen Rekonstruktion desselben wurzeln. Wie jedes philosophische System ist auch dieses nicht anderes als das Ergebnis eines langsamen Reifungsprozesses der intellektuellen Persönlichkeit des Autors.
Aufgrund dieser Zäsur, die jeder Autor, unabhängig davon ob er über den jungen oder reifen Hegel recherchiert, mehr oder weniger eindeutig an einer bestimmten Stelle in der Entwicklung des Hegelschen Denkens vornimmt und sich somit ausschließlich auf die Zeit davor (Jungendjahre) oder danach (gereiftes System) konzentriert, ist es den Interpreten bisher nicht gelungen, die objektive Bedeutung der Philosophie Hegels, also die Bedeutung die sie für ihn selbst hatte, d.h. ‚an-sich‘, zu erkennen. Sie erkannten nur die subjektive Bedeutung für den Interpreten selbst, also ‘für uns‘.
Gerade dieser Fehler in der Wahl der methodischen Grundlagen für eine Interpretation hat es mit sich gebracht, dass Hegel alles Mögliche in den Mund gelegt wurde und sein Denken von Progressiven und Konservativen, von Christen und Atheisten usw. verwendet wurde.
Der wahre Grund hierfür liegt aber weniger in der fehlenden Eindeutigkeit des Systems, auch wenn man natürlich zugeben muss, dass Hegel wegen der objektiv schwierigen Arbeitsbedingungen seiner Zeit seit seinem Aufenthalt im Tübinger Stift und noch mehr in Berlin dazu gezwungen wurde, seine Ideen in „getarnter“ Form(6) zum Ausdruck zu bringen. Vielmehr ist die Schuld beim unpassenden, hermeneutisch zweideutigen und subjektiven Prinzip zu suchen, das bis heute vom Großteil der Hegel-Interpreten angewandt wurde (abgesehen von einigen Ausnahmen wie z.B. Haering).
Die Frage, die es zu beantworten gilt, ist also zunächst hermeneutisch-methodischer Natur, oder anders gesagt: Wie interpretiert man die Hegelsche Philosophie oder generell gesprochen, ein philosophisches System der Vergangenheit, in angemessener Form, also objektiv und nicht subjektiv?
Das exakte methodische Prinzip für das objektive Verständnis einer Philosophie der Vergangenheit
Im Zusammenhang mit der Frage nach der Methode für die korrekte Interpretation der Hegelschen Philosophie muss zunächst einmal klargestellt werden, dass man hier nicht von einer spezifischen Fragestellung ausgehen sollte, die für die Interpretation des Hegelschen Systems gilt, sondern vielmehr für die generelle Interpretation einer Philosophie der Vergangenheit. Somit müssen zuerst einmal die allgemeinen Prinzipien für eine korrekte Interpretation einer Philosophie der Vergangenheit aufgestellt werden, die dann auf die Interpretation des Hegelschen Denkens angewandt werden.
Im Beitrag Nr. 10 von Weisheitslehre mit dem Titel Zur Begründung einer Theorie der ‘Globalinterpretation’ als des einzig gültigen Weges zur Aktualisierung einer Philosophie der Vergangenheit habe ich eine neue Theorie zur Interpretation eines philosophischen Systems der Vergangenheit ausgearbeitet. Im Einzelnen habe ich die Gründe für die Anwendung einer ‘Globalinterpretation’ erläutert, denn will man die jeweilige Philosophie der Vergangenheit nicht zweideutig und subjektiv, sondern treu und objektiv interpretieren, so ist diese Methode zu wählen. Eine solche Interpretationsmethode lässt sich in drei Hauptschritte unterteilen.
Im ersten Schritt muss man die ‘Entwicklung’ dieser Philosophie rekonstruieren, und zwar von der ersten Gedankenentfaltung im Autor bis hin zu dem Moment, in dem sie eindeutig geboren wurde und ihre definitive Form annahm. Durch diese Methode kann und muss man die allgemeine Bedeutung des jeweiligen philosophischen Systems verstehen, oder besser gesagt, den Grund, warum es der Philosoph schuf und schließlich den Zweck, den er damit verfolgen wollte.
Im zweiten Schritt ist es notwendig, das System selbst einer ‘immanenten Kritik’ zu unterziehen. Dadurch kann man verstehen, ob es dem Philosophen gelungen ist, diese Bedeutung in dem von ihm geschaffenen System zu realisieren. Es ist ohne weiteres vorstellbar, dass die allgemeine Bedeutung eines Systems der Vergangenheit akzeptabel ist, während jedoch dessen begriffliche Struktur völlig oder teilweise abzulehnen ist, entweder weil sie veraltet oder unglücklich ausgedrückt wird, oder zu viele Fehler im Wissen bzw. Widersprüche in der Logik aufweist. Die immanente Systemkritik stellt also einen Interpretationsansatz für ein philosophisches System dar, der ergänzend zur genetischen Analyse ist und diese auch voraussetzt.
Im dritten Schritt muss man auf der Grundlage der Ergebnisse aus der genetischen Analyse und der Systemkritik eine ‘Aktualisierung’ des philosophischen Systems der Vergangenheit durchführen. Wenn also die genetische Analyse gezeigt hat, dass die Bedeutung des Systems heute noch gültig ist, während die Systemkritik zu dem Ergebnis kommt, dass im ursprünglichen System Fehler vorhanden sind (oder dass die Struktur dieses Systems auf jeden Fall veraltet ist), so wäre es ohne weiteres zweckmäßig, das jeweilige System zu aktualisieren. Das bedeutet, dass die noch immer gültige Bedeutung der jeweiligen Philosophie in einer neuen Systemstruktur, frei von den Fehlern, Widersprüchen und veralteten Formen der ursprünglichen Systemstruktur, ausgedrückt wird.
Dieses triadische Vorgehen bildet die Grundlage für die Globalinterpretation einer Philosophie der Vergangenheit. Es ist nur mit Hilfe dieses langwierigen Prozesses möglich, ein philosophisches System wirklich in seinem ganzen Umfang zu verstehen.
Was jetzt spezifisch die Hegelsche Philosophie betrifft, so haben wir im Schlusskapitel von Weisheitslehre(7) die Grundlinien für ein Untersuchungskonzept ausgearbeitet, das dazu bestimmt ist, diese Philosophie nach den Prinzipien der Globalinterpretation zu aktualisieren.
Der erste Schritt in der Umsetzung eines solchen Programms ist natürlich die genetische Rekonstruktion der Entwicklung des Hegelschen Denkens und vor allem der Entstehung seines philosophischen Systems, um dadurch die authentische, ursprüngliche Bedeutung zu verstehen.
Die Tatsache, dass sich die Philosophie Hegels als ‘Weisheitslehre’ präsentiert, ist ein wichtiger Ausgangspunkt, der aber keinesfalls das genetische Verständnis seiner vollständigen Bedeutung liefert bzw. ersetzen kann. Deshalb muss man verstehen, woraus diese Weisheit besteht, wie sie in den Menschen gefördert werden kann, usw.
Genau damit beschäftigt sich vorliegende Studie, die darum als erster Teil des Programms zur Aktualisierung des Hegelschen Systems gesehen werden muss. Dies bringt auch die Überschrift zum Ausdruck: "Globalinterpretation der Philosophie Hegels: 1. Die Entwicklung und der Sinn des Systems". Der zweite und dritte Teil besteht aus der immanenten Systemkritik bzw. aus der Formulierung des neuen philosophischen Systems des absoluten Idealismus, das die allgemeine Bedeutung der Hegelschen Philosophie beibehält, diese aber durch Aktualisierung der Systemstruktur perfektioniert.
Gehen wir nun zu den einzelnen Hauptbegriffen über, die die Trägerstruktur für die gewählte Methode einer genetischen Analyse der Entwicklung der Hegelschen Philosophie darstellen.(8)
Der Begriff ‚Methode’
Die Suche nach einer geeigneten Methode gehört sicherlich zu den Hauptproblemen jeder Wissenschaft, ganz besonders von Wissenschaften wie Philosophie, Geschichte usw., da sie aufgrund des nicht quantitativen Wesens ihrer jeweiligen Forschungsgegenstände nicht von einer mathematischen Methode Gebrauch machen können.
Wörtlich übersetzt bedeutet das Wort ‘Methode’ Straße, Weg.(9) Eine geeignete Methode für sein jeweiliges Forschungsgebiet auszuwählen bedeutet daher zu verstehen, welcher Weg zurückzulegen ist, um zur Wahrheit in dem spezifischen Wissensgebiet zu gelangen, in dem man tätig ist.
Dieser extrem vereinfachte Begriff von Methode, der dieses Problem unabhängig von jeglicher objektiven Beziehung zur Realität behandelt, erweist sich jedoch als naiv, wenn man etwas aufmerksamer und genauer darüber nachdenkt. Denn die Methode, die der Forscher als Weg wählt, der ihn zur Wahrheit führen soll, kann nicht irgendeine beliebige Methode sein, sondern es muss die Methode, der Weg sein, den auch die objektive Realität während ihres Werdegangs genommen hat.
So kann z.B. ein Biologe bei der Erforschung der Evolution von höheren Lebewesen nur jene Methode, jenen Weg wählen, der auch von eben diesen Lebewesen während ihrer Entwicklung, ihrer Evolution gegangen wurde. Wählt der Forscher jedoch eine andere Methode, geht er einen anderen Weg, so wird er sozusagen aus der Bahn geworfen. Denn er wird nicht denselben Weg einschlagen wie einst sein Forschungsobjekt, also nicht den Weg, den er eigentlich rekonstruieren will.
Egal ob man das als Einschränkung oder Vorteil sieht, es kann deswegen bei der Erkenntnis eines beliebigen Aspektes der Realität oder derselben Realität in ihrer Ganzheit, nur eine Methode, nur einen Weg für das Denken geben: Jene Methode und jenen Weg, die die Realität bereits einmal in ihrem Werdegang zurückgelegt hat. Entscheidet sich ein Forscher nicht für diese Methode, sondern wählt frei eine andere, so wird er damit ein Werk aus dem Reich der ‘Science-Fiction’ schaffen und keine Wissenschaft, ein Produkt der Phantasie und nicht der Vernunft. Dies könnte zwar sogar von großem literarischen oder künstlerischen, aber nicht von wissenschaftlichem Wert sein. Denn er wird durch seine Forschungsarbeit keine Übereinstimmung mit der objektiven Realität erreichen, sondern sein Denken wird die Realität frei erfinden und produzieren, jedoch nicht so, wie sie wirklich ist, sondern so, wie er sie sich wünscht.
Nachdem wir nun diese wichtige Bemerkung über die wissenschaftliche Voraussetzung vorweggenommen haben, und zwar dass eine Forschungsmethode nicht subjektiv sondern objektiv sein soll, versuchen wir nun das Prinzip der ‘Objektivität’ einer wissenschaftlichen Methode genauer zu erläutern.
Der Begriff ‚Objektivität’
Unser heutiger Begriff von ‘Objektivität’ kann einfach nicht mehr dem für die vor-empiristische und vor-idealistische Philosophie typischen Objektivitätsbegriff entsprechen.
Die modernen Philosophen, darunter Anhänger des Rationalismus und vor allem Vertreter der zweiten Strömung, des Empirismus, erschütterten nämlich nach und nach das naive Vertrauen des Menschen der Antike und des Mittelalters in die Existenz einer objektiven Welt an und für sich, einer Welt, die unabhängig vom Subjekt, das sie ersinnt, besteht.
Die Philosophie des objektiven Idealismus (Schelling) und des absoluten Idealismus (Hegel) lieferte jedoch in weiterer Folge den Beweis für die Unteilbarkeit von objektiver Existenz und subjektivem Gedanken. Der subjektive, nahezu rein formaler Gedanke, sobald er aktiv ist, drückt gleichzeitig eine auf das Sein, die Realität und das Objekt bezogene Wahrheit aus.
Nach der Lektion der Philosophie des objektiven und absoluten Idealismus versteht man unter ‘Objektivität’ eine Realität, die nicht aufgrund ihrer Unabhängigkeit vom Denken objektiv ist, sondern weil sie von einem Denken begriffen wird, das sich an präzise Regeln der Logik hält. Somit phantasiert das Denken nicht von einer weitgehend subjektiven Welt, sondern drückt die objektive Wirklichkeit mit Hilfe von Begriffen aus. Dabei drückt das Denken natürlich nicht die materielle Struktur aus, die nur mit Hilfe der sinnlichen Wahrnehmung aufgenommen werden kann, sondern die rationale und begriffliche Struktur dieser objektiven Wirklichkeit.
Das Denken, das korrekt und logisch vorgeht, drückt also in diesem Sinne das objektive Wesen der Wirklichkeit, deren innewohnende Vernunft und daher ihre logische Struktur aus.
Nachdem wir nun erläutert haben, in welchem Zusammenhang der Begriff ‘Objektivität’ verwendet wird, der in sich unauflöslich auch die ihn ersinnende Subjektivität einschließt, ist es nun an der Zeit zu verstehen, wie es möglich ist, dass das subjektive Denken des Menschen das objektive Wesen der Wirklichkeit wahrnehmen kann, und zwar in dem Moment, in dem das Denken treu der Vernunft und der Logik folgend die Neigung zur Phantasie und Phantasterei ablegt. Im Sinne eines korrekten wissenschaftlichen Diskurses gilt es in diesem Zusammenhang die grundlegende Frage zu beantworten, was man unter ‘Vernunft’ und ‘Vernünftigkeit’ versteht.
Der Begriff ‚Vernunft’
Der Begriff ‚Vernunft‘ gehört sicher zu den wichtigsten Begriffen der Philosophie. Die Besonderheit der Vernunft als Objekt der Philosophie besteht darin, dass sie gleichzeitig auch das Subjekt der Philosophie ist, nachdem man abgesehen von allen anderen, komplexeren Bedeutungen des Begriffs ‚Philosophie‘ zumindest eines sagen kann: Sie stellt die rationale Suche nach der Wahrheit dar. Deshalb stellt die Identität von Subjekt und Objekt, von erkennender Vernunft und zu erkennender Vernunft das essentielle Merkmal des philosophischen Diskurses dar.
Diese Identität von Subjekt und Objekt ist ein besonderes Merkmal der Logik, der philosophischen Wissenschaft zur Erforschung der Vernunft, denn in keiner anderen Wissenschaft stellt die Vernunft gleichzeitig den Forschungsgegenstand dar.
Werfen wir nun einen Blick auf die Konsequenzen, die sich aus dieser besonderen Situation in der Wissenschaft der Logik ergeben.
Da bei anderen Wissenschaften der Forschungsgegenstand unabhängig von der Vernunft ist (ein Objekt aus der Welt der Natur oder des Geistes)(10), können diese sich auf Daten und Fakten konzentrieren, die auf irgendeine Art und Weise interpretiert und rational verstanden werden müssen. Durch dieses Begreifen der Fakten kann eine allgemeine logische Ordnung aufgestellt werden, und zwar durch die Ausarbeitung von rationalen Gesetzen, die das Auftreten von bereits bekannten und analysierten Phänomenen erklären sowie künftige Phänomenen vorsehen können.
Die Logik hingegen verfügt nicht über externe Daten, die man nach rationalen Regeln interpretieren oder ordnen könnte. Oder genauer gesagt, gibt es in den Kategorien des Denkens auch Fakten und Daten, die man interpretieren oder ordnen könnte, aber es handelt sich hier um eine andere Art von Daten. Die Kategorien der Logik umfassen nämlich jene typischen Begriffe unseres Denkens, die nicht aus der äußerlichen Welt der Erfahrung stammen, sondern ein unerlässliches Instrument darstellen, durch das unser Denken lebt und denkt. Gerade weil eben diese Kategorien keine dem logischen Denken äußerlichen ‘Fakten’ sind, sondern vielmehr Strukturen desselben, können sie nicht beobachtet, registriert oder katalogisiert werden, so wie man es mit anderen Phänomenen aus der Welt der Natur oder des Geistes macht.
Eine solche Auflistung der Kategorien würde jedoch ihr inneres Leben, ihre wechselseitigen Beziehungen und daher die Eigendynamik der Vernunft nicht begreifen.(11) Um diese innere Eigendynamik zu verstehen, muss die Vernunft also eine geeignete Methode erfinden, die sich von jenen für andere Wissenschaften unterscheidet. Sie kann natürlich nicht darin bestehen, die Kategorien äußerlich miteinander zu verbinden, sondern muss auf der gegenseitigen ‘Ableitung’ der Kategorien beruhen. Die Methode muss also aus deren Darstellung und inneren Organisation bestehen, die sie sich spontan durch Selbsterkenntnis zuerkennen. Nur auf diesem Wege kann man die dynamische Funktion der Vernunft und ihre innewohnende Vitalität - die somit die Grundvitalität unseres Geistes in all seinen vielfältigen Funktionen darstellt - verstehen, genauso wie der Astronom die Vitalität des Universums und der Biologe die Vitalität des lebenden Körpers rekonstruiert.
Die für die Logik typische Identität von Subjekt und Objekt hat zur Folge, dass die einzige Methode, der einzige Weg für die Logik zur Erkenntnis der Vernunft - oder anders gesagt, über die die Vernunft verfügt, um sich selbst zu erkennen - in der Selbsterkenntnis, Selbstdarstellung und Selbstableitung besteht.
Hegel hat diese methodische Besonderheit der Logik sehr gut durch die Formulierung „ein auf sich selbst construirender Weg“ ausgedrückt:
„In diesem Wege hat sich das System der Begriffe überhaupt zu bilden, - und in unaufhaltsamem, reinem, von Aussen nichts hereinnehmendem Gange, sich zu vollenden.“
(GW 21, S. 38,14-16)
Deshalb wird der Forschungsgegenstand, dessen Phänomene die Logik interpretieren und ordnen muss, nicht bereits der Sensibilität aus der empirischen Beobachtung ausgesetzt, sondern muss sich selbst im gleichen Moment geben und präsentieren, in dem sich die Wissenschaft der Logik ausbildet.
Eigentlich braucht man keine völlig neue Logik, um eine derartige Logik zu konstruieren. Das wäre unnötig, da die philosophische Tradition schon eine nach dieser Methode konstruierte Logik bereit hält, und zwar handelt es sich um die Wissenschaft der Logik, aufgestellt von deutschen Denkern des späten 18. bzw. frühen 19. Jahrhunderts, insbesondere von Hegel. In seinem philosophischen System werden die Ergebnisse von Kant, Fichte und Schelling, um hier nur einige der wichtigsten Persönlichkeiten dieser großartigen Periode der Geschichte der Philosophie zu nennen, meisterhaft zusammengefasst und zu einem Abschluss gebracht.(12)
Natürlich kann man einige Teile der Hegelschen Logik noch verbessern(13), aber das Grundgerüst kann auch heute noch als gültig angesehen werden, vor allem was seine zentrale Idee der Selbstdarstellung des Denkens betrifft. Zumindest jedoch bleibt es bislang der einzige wirkliche Versuch, die Vernunft durch die Anerkennung der innewohnenden Vitalität zu begreifen.
Hegel hat einen großen Teil seines Lebens mit der Erstellung dieser neuen Logik, die auf der Identität von Subjekt und Objekt aufbaut, verbracht. Wir können heute dank seiner Arbeit, die sich natürlich wiederum auf die Resultate der damaligen Tradition der Logik - hier vor allem auf Kant - stützt, dort fortfahren, wo er wegen offensichtlicher zeitlicher Grenzen des menschlichen Lebens seine Arbeit unterbrechen musste. Die Geschichte der Philosophie ist so wie jede andere historisch dokumentierte Tätigkeit der Menschen ein gemeinsames, von Generationen geschaffenes Werk. Es dient dem - ebenfalls gemeinsamen - Wohl der Menschheit und jeder, der dieses gemeinsame Werk, und damit die Geschichte der Menschheit, verlassen will, ist ein Narr, ein Bösewicht oder ein Irrer.(14) In Wahrheit ist es unmöglich, in diese Welt einzutreten, da wir ja schon seit jeher, seit unserer Geburt, ein Teil dieser Geschichte sind, zumindest durch die Sprache als Träger von Kenntnissen und Werten, die uns von ihr wohl oder übel übermittelt wurden. (15)
Konzentrieren wir nun unsere Aufmerksamkeit auf die Hegelsche Logik und versuchen wir, deren Grundprinzipien zu verstehen, um die Prinzipien der Vitalität der Vernunft zu verstehen.
Die Grundprinzipien der Hegelschen Logik
Das wichtigste Merkmal der Vernunft ist laut Hegels Logik die Dialektik, ein sehr alter Begriff in der Philosophie. Ihre Geschichte ist eng mit der der Philosophie verbunden. Bei Hegel wurde dieser Begriff sicherlich am ausführlichsten behandelt. Der Philosoph aus Stuttgart versteht unter Dialektik die unaufhaltsame Bewegung des Denkens, bzw. der Vernunft. Dadurch entfaltet sich eine Kategorie nach der anderen, indem sie einige grundlegende Momente durchlaufen und einem genauen logischen Ablauf folgen. Es handelt sich um eine notwendige Bewegung, die am Ende das ideale Anfangsprinzip hervorbringt, oder besser gesagt die Erkenntnis vom Ablauf der Vernunft. Denn dieser Ablauf besteht eben genau aus der Dialektik und deren Gesetzen.
Die Dialektik umfasst drei grundlegende Momente: die Affirmation, die Negation (erste Negation) und die Negation der Negation (zweite Negation). Dieser Prozess wird vom Grundprinzip der dialektischen Aufhebung gesteuert (GW 21, S. 94-95).(16)
Dieses Prinzip besagt, dass der Übergang von einer niedereren Kategorie (vorhergehenden) in eine höhere (nachfolgende), insbesondere der Schritt von der Affirmation (1. Moment der dialektischen Triade) zur ersten Negation (zweiter Moment) und von dieser zur zweiten Negation (dritter Moment), nicht deren Verschwinden oder Verlust, sondern einen höheren Wert und eine höhere Bedeutung mit sich bringt, weil sie eben in der höchsten Kategorie aufbewahrt wird. Somit, um jetzt ein Beispiel Hegels aus den Anfängen der Logik wiederaufzunehmen, sind in der Kategorie des ‚Werdens‘ die beiden vorherigen Kategorien ‚Sein‘ und ‚Nichts‘ enthalten. Das Werden ist in der Tat nichts anderes als den Übergang vom Nichts zum Sein und umgekehrt (GW 21,69-70).
Die dialektische Aufhebung führt als Merkmal der Kategorienentwicklung zu einer Bedeutungsbereicherung und in Folge zu einer logisch reicheren Determination, d.h., ein eindeutig logischer Prozess führt von der niedrigeren Bestimmung (das Sein als unbestimmte Gesamtheit des Absoluten, das man erkennen will) zu einer höheren (die Idee, oder die absolute Vernunft als Gesamtheit der Kategorien). Dadurch begreift man, warum das Endergebnis der Wissenschaft der Logik, oder anders gesagt, die letzte Kategorie der notwendigen und dialektischen Entwicklung des reinen Denkens, nicht eine Kategorie unter vielen ist, sondern die Kategorie, die alle anderen in sich einschließt: die Idee bzw. die absolute Vernunft, das absolute Denken.
Das ist also die Grundstruktur der Vernunft, wie sie von Hegel in seiner dialektischen Logik rekonstruiert wird, die einzige Logik, welche die Vernunft von der exakten Seite her, der Einheit von Subjekt und Objekt, erforscht. Aus dem bisher Gesagten folgt also, dass nur die dialektische Methode die korrekte Methode für die wissenschaftliche Erkenntnis sein kann, da es sich um die einzige Methode handelt, der in der Lage ist, das Innenleben der Kategorien, also der Vernunft, zu rekonstruieren.
In diesem Zusammenhang scheint jedoch eine genauere Betrachtung der Hegelschen Logik und seiner gesamten Philosophie nötig, da Hegel in zahlreichen Stellen seiner Werke, vor allem in der Logik, präzisiert, dass die Dialektik keine Methode im herkömmlichen Sinn sei, d.h. ein auf den Inhalt bezogener äußerlicher Vorgang, denn
„Wie würde ich meynen können, daß nicht die Methode, die ich in diesem System der Logik befolgt, - oder vielmehr die diß System an ihm selbst befolgt, - noch vieler Vervollkommnung, vieler Durchbildung im einzelnen fähig sey, aber ich weiß zugleich, daß sie die einzige wahrhafte ist. Diß erhellt für sich schon daraus, dass sie von ihrem Gegenstande und Inhalte nichts unterschiedenes ist; - denn es ist der Inhalt in sich, die Dialektik, die er an ihm selbst hat, welche ihn fortbewegt.“
(GW 21, S. 38, 17-22).
Versuchen wir nun, den Sinn dieser Aussage Hegels zu ergründen.
Widerlegung des rein formalen Wertes von Logik und Dialektik als Methode: die Hegelsche Interpretation der Logik als Theologie
Will man verstehen, warum Hegel die Beschreibung der Dialektik als äußerliche Methode ablehnt, so muss man die Hauptfrage der methodischen Problematik betrachten, und zwar sein Anspruch, die in der wissenschaftlichen Forschung anzuwendende Methode müsse die gleiche sein, der gleiche Weg, den auch das Studienobjekt geht oder während seines Entstehens gegangen ist (also neben der logischen Korrektheit auch die Objektivität der Methode). Versuchen wir zunächst einmal zu verstehen, warum Hegel die Dialektik nicht als Methode im eigentlichen Sinn auffasst.
Der Hauptgrund, warum der schwäbische Philosoph die Dialektik als Methode ablehnt, ist seine Kritik der rein formalen und subjektiven Interpretation der Logik. Diese war die vorherrschende Auffassung von Logik bis zu Hegel. Ihre wichtigsten Vertreter sind Aristoteles und Kant gewesen (zu letzterem vgl. GW 21,35 ff.).(17) Hegel kritisiert sehr scharf deren Auffassung, dass die Logik ein bloßes Instrument (‘Organon’) des Denkens und der Wissenschaft sei, und sie selbst nicht in der Lage wäre, den Rag einer autonomen Wissenschaft für sich zu beanspruchen. Seiner Meinung nach ist also die Logik kein Mittel für einen Fremdzweck, sondern Selbstzweck, sie ist eine Wissenschaft, und zwar die höchste Wissenschaft.
Obwohl Hegel sie sehr schätzte und dies auch immer wieder in Lobreden zum Ausdruck brachte, so z.B. an Kant in der Wissenschaft der Logik (GW 21, 40) und durch die Verwendung der Worte Aristoteles über den ‚ersten unbewegten Beweger‘ als Abschluss des philosophischen Systems in der Enzyklopädie (E §577), kritisiert Hegel an diesen beiden herausragenden Philosophen, dass sie die Würde des Denkens nicht voll verstanden hätten.
Über das Denken behauptet Hegel, dass es sich nicht nur um ein nützliches Instrument zur Erkenntnis der objektiven und dem Menschen äußerlichen Welt, sondern um ein Wesen wie alle anderen handelt, ja vielmehr das absolute Wesen, das Urprinzip der antiken Philosophen, die Gottheit der mittelalterlichen Theologen.
Wie die Ergebnisse seines Systems der Philosophie zeigen, ist sowohl die Natur als auch die Welt des Geistes dialektisch strukturiert, nicht nur das subjektive Denken des Menschen. Dem ganzen Sein liegt also Dialektik, Logik, Denken zugrunde.
Von diesem höheren Standpunkt aus, den wir hier selbstverständlich nicht begründen, sondern nur erwähnen können, ist das Denken das Absolute, das Prinzip von jedem einzelnen Wesen und vom Ganzen und somit das höchste Wesen, die Ursache der Welt im philosophischen und nicht im historischen Sinn, im logischen und nicht chronologischen Sinne des Begriffs der Ursache (als formale und finale Ursache, causa sui).
Die Logik als Wissenschaft des Denkens wird somit zur Wissenschaft des Absoluten, sie ist gleichzeitig die neue Metaphysik und auch die neue Theologie.(18)
Wir wollen die Darstellung der Hegelschen Auffassung vom Denken als Wesen auf den Schlussteil dieser Arbeit verschieben und nun die Bedeutung zu verstehen versuchen, die diese Hegelschen Auffassung des Denkens für die Lösung der Problematik der Methode und deren Objektivität hat.
Begründung der Objektivität der dialektischen Methode
Da das Denken das objektive Wesen der Welt, der Natur und der Geschichte, sowie natürlich des subjektiven Geistes des Menschen ist, stellt daher die Logik kein einfaches Instrument zur Erkenntnis der Welt dar, sondern die höchste Erkenntnis an-sich. Wie Hegel meint, ist sie nicht nur Metaphysik, sondern auch Theologie, weil das menschliche Wesen, dessen eigenes Wesen das Denken bzw. das Wesen der Welt ist, in seinem rationalen Wesen das Absolute darstellt(19).
Aus diesem Grund hat Hegel jegliche Auffassung von Logik als bloßes Instrument immer strikt abgelehnt, als ob sie selbst nicht die Würde einer Wissenschaft in sich tragen würde. Sie ist dagegen die höchste Wissenschaft!
Bei der Logik, wie soeben klargestellt wurde, handelt es sich offensichtlich nicht um eine Methode im herkömmlichen Sinne des Terminus, und zwar aus folgendem Grund: Da die Realität selbst, sowohl die natürliche als auch die geistige, dialektisch strukturiert ist und nichts anderes als das absolute Denken darstellt, das sich langsam von materiellen, unbewussten und notwendigen zu geistigen, bewussten und freien Existenzformen stufenmäßig und dialektisch entwickelt, kann der Forscher sicher sein, das Wesen seines Forschungsobjektes zu erfassen, wenn es seinem Denken gelingt, das Objekt durch die Prinzipien der Dialektik zu erkennen. Denn nur so kann er die Art und Weise rekonstruieren, wie sich dieses Objekt im Laufe der Zeit langsam gebildet hat.
Wenn wir sichergehen wollen, einen beliebigen Aspekt der umgebenden Welt objektiv zu erkennen (in dem soeben erklärten Sinne von ‘Objektivität’), und zwar von den eher materiellen und weniger belebten Aspekten bis hin zur menschlichen Spiritualität, so müssen wir jenen Weg einschlagen, den auch die Realität selbst in ihrer Entwicklung genommen hat: die Dialektik.
Damit ist die Darstellung der Grundprinzipien der in diesem Werk angewandten Methode abgeschlossen.(20) Nun wollen wir untersuchen, wie die dialektische Methode in diesem speziellen Fall, bei der Rekonstruktion der Entwicklung des Hegelschen Denkens, angewandt wurde.
Das Bedürfnis nach einem historistischen Verständnis von Hegels philosophischen System als Hauptmotivation für die vorliegende Arbeit
Zunächst muss einmal erwähnt werden, dass das ursprüngliche Ziel dieser genetischen Abhandlung über Hegel nicht das frühe Denken des Philosophen, sondern das Verständnis seines ausgereiften Systems der Philosophie war. Nach der Lektüre von Hegels Hauptwerken wurde jedoch klar, dass der einzige Weg zu einem objektiven Verständnis ihrer echten Bedeutung nur darin bestehen konnte, deren Evolution anhand der Entwicklung im Denken des schwäbischen Philosophen zu rekonstruieren. Man hatte den Eindruck, dass sich in Hegels philosophischem System der Schlüssel für eine Antwort auf die Probleme unserer heutigen Zivilisation(21) verbirgt, es war jedoch nicht möglich, dessen wirkliche Bedeutung im System selbst zu finden.
Aus diesem Grund wurden die Jungendschriften des Philosophen erforscht, in der Hoffnung, dort eine Grundlage für das Verständnis der späteren Werke und vor allem deren Grundbegriffe - z.B. das Absolute, der Geist, die Sittlichkeit - zu finden.
Versuchen wir nun zu verstehen, aus welchem Grund für eine objektive und korrekte Interpretation von Hegels reifen Werken Hegels absolut notwendig ist, seine frühen Werke zu lesen und zu erforschen.
Auf den vorangegangenen Seiten haben wir einige der Grundprinzipien der Dialektik dargelegt. Darunter gibt es ein Prinzip, vielleicht das absolute Prinzip schlechthin, dessen Erläuterung auf dieses Kapitel absichtlich verschoben wurde. Es handelt sich um das historistische Prinzip, denn die dialektische Methode ist nämlich im Wesentlichen eine historistische Methode.
Der Historismus ist eine Art, das Leben zu betrachten, die auf der grundlegenden Annahme basiert, die Realität sei nicht statisch, sondern dynamisch bzw. Entwicklung, genauer gesagt Evolution im Bereich der Natur und Geschichte im Bereich des Geistes.
Man soll sich nicht darüber wundern, dass im Zusammenhang mit dem Historismus auch die Natur in Betracht gezogen wird. Auch wenn man bis heute über Historismus nur in Bezug auf die menschliche Geschichte gesprochen hat, so bedeutet das nicht, dass es richtig sei, die Natur aus einer historistischen Betrachtungsweise der Realität auszuschließen. Tatsächlich hat die Entwicklung der Naturwissenschaften deutlich gezeigt, dass auch die Natur eine Entwicklung hat, die natürlich andere Merkmale aufweist als die humane, aber doch auf ihre Art und Weise auch ‘Geschichte’ ist. Hier ist jedoch sicher nicht der richtige Ort, um dieser wichtigen Frage, die auf jeden Fall eine genauere Untersuchung verdienen würde, nachzugehen.
In dieser Realität, die offensichtlich ständig im Werden ist, hat jedes Lebewesen für sich einen Anfang, eine Entwicklung und ein Ende. Wenn man ein Wesen wirklich kennen lernen will, reicht es nicht aus, seine aktuelle Struktur zu untersuchen, sondern man muss die Entstehung von der Geburt an rekonstruieren, um daraufhin eventuell auch den zukünftigen Verlauf seiner Entwicklung vorhersehen zu können.
Denn auch wenn uns die Realität unveränderlich und stabil erscheint, so ist doch in Wirklichkeit jedes Ding dazu bestimmt, seine Funktion in der Welt zu erfüllen, um dann seinen Platz einem anderen Wesen zu überlassen.(22) Nach der Terminologie von Hegels Dialektik ist die Entstehung das Fundament oder die Essenz des Wesens, die Struktur ist dessen eigentliche Sein und schließlich der Begriff ist der zielgerichtete Gesamtverlauf bzw. seine in der Welt zu erfüllende Funktion.(23)
Will man also ein Seiendes kennen lernen, so ist es in Anbetracht seiner zeitlichen und historistischen Struktur notwendig, die Art und Weise seiner Entstehung zu rekonstruieren. Dadurch wird man einen Hinweis über sein Wesen erhalten, d.h. über den Grund dafür, dass seine spezifische Natur diese und keine andere ist.(24) Auf diese Weise ist es auch möglich, den Begriff des Seienden, also seine Funktion in der Welt, zu erkennen.
Vom Standpunkt dieser historistischen Auffassung aus gesehen, erscheint die Erforschung der Jugendschriften Hegels sogleich die einzige Methode, der einzige Weg, um zum Verständnis der authentischen Bedeutung seiner reifen Philosophie, und deshalb zu der Bedeutung, die Hegel selbst seinem System der Philosophie geben wollte, zu gelangen. Diese Bedeutung hat ihren Ursprung (ihr Fundament oder Grund) in der geistigen Problematik, welche die Seele Hegels in seinen Jugendjahren quälte, und ihren Zweck in dem Sinn, den seine ausgebildete Philosophie in der Welt innehat, also in ihrer Funktion, die sie in der Geschichte des Faches und der Menschheit erfüllen soll.
Zusammengefasst kann man sagen, dass die Methode dieser Studie bzw. der Weg, den diese Studie gegangen ist - was das gleiche bedeutet -, eine in den Historismus eingebettete dialektische Methode ist, und zwar in dem eben erläuterten Sinne. Es wurde also versucht, dieselben Phasen zu durchlaufen, die vom Hegelschen Denken in seinem Werdegang bis zur Geburt des reifen philosophischen Systems, am Ende der eigentlichen Entwicklung, durchlaufen wurden. Von einer dialektischen und historistischen Perspektive aus betrachtet, besteht somit eine begründete Hoffnung, die authentische Bedeutung von Hegels philosophischem System zu verstehen.
Über die Beziehung zwischen Philosophie und Philologie
Bevor wir eine Gesamtübersicht über die Phasen geben, in die sich die Entwicklung des Hegelschen Denkens unterteilt, und damit auch die Einteilung dieser Arbeit vorwegnehmen, sollte noch ein letzter Begriff geklärt werden, der für das exakte methodische Verständnis dieser Arbeit äußerst wichtig ist. Es handelt sich um die Beziehung zwischen Philosophie und Philologie.
Die Dialektik muss nämlich, will man wirklich die objektive Essenz des erforschten Objektes begreifen, von Mal zu Mal der Spezifität des untersuchten Objektes angepasst werden, auch wenn es sich bei ihr um eine universelle Methode handelt, die für alle drei Forschungsbereiche(25) Natur, Geist und natürlich Logik geeignet ist. So muss z.B. bei der Anwendung der dialektischen Methode für die Forschung im Bereich Naturwissenschaften diese Methode einerseits mit der mathematischen Methode in Einklang gebracht werden, da letztere die Basis für Studien in diesem Bereich darstellt, andererseits mit den Ergebnissen aus der experimentellen Forschung, die die Hauptdaten für eine Bearbeitung mit Hilfe der dialektischen Methode liefern. Was die Forschung im geistigen Bereich betrifft, dem auch diese Arbeit zuzurechnen ist, so muss die dialektische Methode auch in diesem Fall mit einigen Daten, z.B. historischen Dokumenten, in Einklang gebracht werden. Bei der vorliegenden Arbeit sind das die Werke Hegels in den Jugendjahren bis zur Entstehung des Systems. Im Fall der Wissenschaft der Logik hingegen kann die dialektische Methode frei ablaufen, ohne irgendwelche Daten berücksichtigen zu müssen, ist es doch sie selbst, die die Kategorien oder Daten durch die logische Ableitung aufstellt.
Versuchen wir nun zu verstehen, wie man die dialektische Methode auf die Werke der Jugendzeit eines Philosophen in ihren chronologischen Reihenfolge anwenden muss, und zwar bis zu dem Moment, in dem die definitive, wenn auch noch nicht in allen Details ausgereifte Version seiner Philosophie formuliert wird (bei Hegel also bis zur ersten definitiven, wenn auch noch nicht kompletten Version seines reifen philosophischen Systems, das er gegen Ende seines Aufenthaltes in Jena fertig stellte).
Die Grundlage für die vorliegende Interpretationsstudie bildet die intensive Vorarbeit von Philologen, die im Fall Hegels zunächst die Werke seiner Jungendjahre entdeckt bzw. wiederentdeckt und publiziert haben. Offensichtlich erahnten sie bereits deren Bedeutung für das exakte Verständnis des reifen Systems (es handelt sich hier z.B. um Beiträge von Rosenkranz, Thaulow, Dilthey, Nohl, Hoffmeister usw.).
In einem späteren Schritt haben andere Wissenschaftler die genaue Chronologie dieser Schriften rekonstruiert und dadurch eine geordnete Rekonstruktion des Wegs zum System in streng historisch-chronologischer Hinsicht ermöglicht (es handelt sich in erster Linie um die Anmerkungen unter anderen von Jäschke, Kimmerle, Nicolin und Schüler zur letzten Ausgabe der Jugendschriften in den ersten acht Bänden der Gesammelten Werke).(26)
Der Ausgangspunkt für die vorliegende Studie kann daher nur in der Lektüre und der vertieften Kenntnis dieser vorsystematischen Arbeiten Hegels liegen, und zwar in ihrer exakten chronologischen Abfolge und in allen anderen rein formalen, also philologischen Aspekten. Das gilt übrigens genauso für jede andere Interpretationsstudie über die Entwicklung des Hegelschen Denkens bzw. über jeden beliebigen Philosophen. Diese Daten bilden sozusagen das Rohmaterial, von dem die Interpretationsstudie auszugehen hat.
Durch die Interpretation dieser Schriften wechselt man dann von der philologischen zur philosophischen Ebene, von der Chronologie zur Logik. Zu diesem Zeitpunkt muss man, so wie es auch in der vorliegenden Arbeit geschah, die dialektische Methode einschalten. Es genügt in der Tat sicher nicht, einfach nur die Schriften, Fragmente und vorsystematischen Schriften eines Philosophen in eine präzise chronologische Reihenfolge zu bringen, um deren Bedeutung und den Sinn ihrer Entwicklung zu verstehen. In Wahrheit ist es notwendig, die immanente Entwicklung des philosophischen Denkens, im zuvor erklärten historistisch-dialektischen Sinn, zu erfassen, die der bloß philologischen Reihenfolge zugrunde liegt. Wie es Vico ein für allemal formuliert hat, muss man auch bei der Herausbildung einer philosophischen Theorie, so wie bei jedem anderen historischen Ereignis, den „Modus“ und die „Art“ ihrer „Entstehung“ erforschen, um ihre „Natur“, d.h. ihre authentische Bedeutung, ihre Essenz zu verstehen.
In der vorliegenden Arbeit wurde daher der gedankliche Inhalt jeder Schrift und jedes Fragmentes dialektisch nachvollzogen, und zwar von dem Moment an, in dem man in der Entwicklung Hegels erste Spuren persönlicher, origineller Überlegungen finden konnte(27), bis hin zu dem Moment, den man als die Geburtsstunde seines philosophischen Systems bezeichnen kann.(28)
Den Gedankeninhalt der verschiedenen Fragmente ‘dialektisch nachzuvollziehen’, bedeutet, die Entwicklung des Hegelschen Denkens nach dem Prinzip der ‘dialektischen Aufhebung’ zu durchlaufen, also die immanente Kontinuität zu rekonstruieren. Diese besteht darin, dass durch eine logische und konsequente Entwicklung das Anfangsideal realisiert wurde(29) (die einzelnen Etappen dieser Entwicklung bilden die „tempi“ und „guise“, also die „Zeiten“ und „Weise“ der „Entstehung“ der „Natur“, d.h. der Essenz, des reifen philosophischen Systems).
Der Beitrag dieser logisch-dialektischen und historistischen Interpretation der rohen Daten, die man aus der philologischen Forschung (mit Hilfe der Chronologie) bezieht, besteht also darin, die logischen Beziehungen zwischen den einzelnen Texten aufzuzeigen und damit die chronologischen Beziehungen mit dem entsprechenden philosophischen Inhalt zu füllen.
An dieser Stelle ist eine Erklärung dazu angebracht, worin der Unterschied zwischen logischen und chronologischen Beziehungen in der Abfolge der frühen Texte eines Philosophen, in diesem Fall bei Hegel, besteht.
Über die Beziehung zwischen logischer und chronologischer Entwicklung
Die Entwicklung des Hegelschen Denkens (und das gilt natürlich auch für jeden anderen Philosophen) lässt sich auf zwei Arten darstellen, nämlich durch logische und chronologische Beziehungen zwischen den vorsystematischen Schriften.
Nach chronologischen Beziehungen hat Hegel einen Text in einem bestimmten Moment seiner Entwicklung verfasst. Somit nimmt dieser Text den Platz nach oder vor einem anderen ein. Geht man allerdings logisch vor, so muss der begriffliche Inhalt, der mehr oder weniger deutlich in dem Text zum Ausdruck kommt, bestimmt werden. Dementsprechend soll die begriffliche Sequenz der verschiedenen Gedanken, die die Entwicklung des Hegelschen Denkens in diesem Zeitraum inhaltlich darstellen, rekonstruiert werden.
Allein indem man innerhalb der chronologischen Beziehungen die impliziten logischen Beziehungen herausholt und bestimmt, kann man die Entwicklung eines Philosophen kontinuierlich rekonstruieren. Nur so kann man in der Tat den Gedankeninhalt verstehen, der den verschiedenen, manchmal lückenhaften, unvollständigen und teilweise fragmentarisch vorhandenen Manifestationen immanent ist.(30)
Mit Hilfe der logisch-dialektischen Ableitung, basierend auf dem Rhythmus unserer Vernunft, unseres Logos(31), der wohl nichts anders als der Rhythmus von Hegels Logos selbst ist, können wir in unserem Denken die vorhandenen chronologischen Lücken auffüllen, indem wir die Entwicklung seines Denkens rekonstruieren und in uns nacherleben.
Dem muss noch ein weiterer Vorteil hinzugefügt werden, den wir in der Interpretation der chronologischen Beziehungen aus der Perspektive der logischen Beziehungen ziehen: In Hegels frühen Texten - wie auch bei jedem anderen Philosophen - finden wir noch nicht alle seine Gedanken explizit ausgedrückt, da sie nicht für andere Leser konzipiert waren und deshalb nicht gerade das Ergebnis maximaler Objektivierungsanstrengungen seines eigenen Denkens darstellen. Die genaue Erforschung dieser oft nur fragmentarisch überlieferten Schriften - schon allein deshalb ungeeignet, das gesamte Denken des Autors zur Schaffenszeit wiederzugeben -, enthüllt uns die Existenz von zwei Ebenen: die Ebene des expliziten und des impliziten Denkens.
Die explizite Ebene umfasst alle deutlich ausgedrückten Gedanken des Philosophen, die wir als Ausdruck der Problemstellungen und Schlussfolgerungen in den überlieferten Texten unmissverständlich nachlesen können.
Die implizite Ebene hingegen wird von Gedanken gebildet, die zwar aus logischen Gründen vorausgesetzt werden müssen, weil sie für die expliziten Überlegungen des Autors unentbehrlich sind, die aber trotzdem in keinem der überlieferten Texte ausdrücklich formuliert werden. Daher drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass diese Gedanken zwar zum Schaffenszeitpunkt der Texte die logische Struktur des Hegelschen Denkens bildeten, aber entweder in expliziter Form in nicht überlieferten Texten vorhanden waren, oder sie vom Autor deswegen nicht explizit ausgedrückt wurden, weil er sie an sich für völlig eindeutig hielt. Es gibt dann noch eine dritte Möglichkeit, und zwar dass der Autor diesen impliziten Gedanken mit Absicht keine äußerliche, schriftliche Form gegeben hat, um z.B. eine Zensur zu vermeiden (dies könnte während seiner Zeit im Tübinger Stift durchaus möglich gewesen sein).
Auf jeden Fall ermöglicht die Interpretation der chronologischen Beziehungen aus der Perspektive der logischen Beziehungen, die auf expliziter Ebene aus verschiedenen Gründen existierenden Lücken durch die Einfügung von impliziten Gedanken aufzufüllen, die von den expliziten Gedanken vorausgesetzt sind. Die impliziten Gedanken gehören dadurch mit vollem Recht zur philosophischen Problematik und den entsprechenden Schlussfolgerungen des jungen Denkers.
Mit Hilfe dieser doppelten, chronologisch-logischen Perspektive kann man somit am Ende des eingeschlagenen Weges zu einem dialektischen Verständnis der Entwicklung der Hegelschen Philosophie erfolgreich gelangen. Führt man die genetische Rekonstruktion bis zum Fundament, also bis zu ihrer „Entstehung nach bestimmten Zeiten und Weisen“, so haben wir die „Natur“, also die Essenz, seine authentische Bedeutung verstanden und damit das von Anfang an gesetzte Ziel erreicht.
Die Rekonstruktion der Entwicklung des Hegelschen Denkens als ‚immanente‘ Rekonstruktion
Aus dem bisher Gesagten ergibt sich eine letzte Konsequenz für die Methode. Die vorliegende Studie enthält eine ‘immanente’ Rekonstruktion der Entwicklung des Hegelschen Denkens, da sie auf einer logisch-dialektischen Rekonstruktion seiner gedanklichen Entwicklung basiert bzw. sie, anders gesagt, in unserem Denken aufgrund jener dialektischer Gesetzte nachvollzogen wird, die auch die Gesetze der Entwicklung des Hegelschen Denkens gewesen sind. Somit zieht diese Studie also nicht die historische Herkunft der diversen Begriffe vordergründig in Betracht, die das Innenleben des Hegelschen Denkens in der vorsystematischer Zeit bildeten, sondern nur ihre innere Entwicklung im Geist Hegels, ihre immanente Dialektik, die notwendigerweise zur Konzeption und Erarbeitung des reifen Systems geführt hat.
Dabei wird diese Studie Hegels Hinweisen aus der Logik folgen, z.B. der bereits erwähnten Definition von Immanenz:
“In diesem Wege hat sich das System der Begriffe überhaupt zu bilden, - und in unaufhaltsamen, reinem, von Aussen nichts hereinnehmendem Gange, sich zu vollenden.” (GW21, 38, 14-16) |
Auf diesem sich selbst construirenden Wege allein, behaupte ich, ist die Philosophie fähig, objective, demonstrirte Wissenschaft zu seyn. (GW21, 8, 19-21) |
Deshalb darf man in dieser Studie auch nicht nach dem Einfluss suchen, die Schiller, Rousseau, Hölderlin usw. auf den jungen Hegel ausgeübt haben, da solche Einflüsse nicht nach der dialektischen Logik ableitbar ist, sondern nur eine historische darstellen, die im Bezug auf die innere Entwicklung Hegels als ‚äußerlich‘ zu bezeichnen sind. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Erforschung der Quellen des Hegelschen Denkens unbedeutend ist. Ganz im Gegenteil! In der bereits erwähnten Arbeit Einfluß hat der Autor der vorliegenden Studie zum Beispiel die grundlegende Bedeutung analysiert, die Rousseau für die Ausbildung des Hegelschen Denkens gehabt hat. In derselben Arbeit wird die zentrale Rolle deutlich, die anderen Denker wie z.B. Zimmermann, Nicolai und Mendelssohn, Flatt in der Entwicklung seines Denkens spielten. Die Arbeiten von Jacques d’Hondt, um noch ein weiteres Beispiel zu nennen, warfen ein neues Licht auf den zum Teil freimaurerischen Ursprung der Studentenbewegung in Tübingen zur Zeit Hegels und Hölderlins. Die Quellenforschung ist also äußerst wichtig und stellt, ähnlich wie die Philologie bei Texten, einen Grundpfeiler in der entwicklungsgeschichtlichen Erforschung des Denkens eines Philosophen dar.
Will man jedoch die authentische Bedeutung einer Philosophie anhand ihrer Entwicklung verstehen, so muss man trotzdem die Quellenforschung und auch die philologische Arbeit einstellen, und sich anhand der Schriften des jeweiligen Autors auf die Rekonstruktion des Weges konzentrieren, den die Gedanken genommen haben, nachdem sie vom Philosophen entweder selbst erarbeitet wurden oder von außen, z.B. durch die Lektüre eines Buches, rezipiert wurden. Nur durch die Nachvollziehung dieses „sich selbst construierenden Weges“ kann man zum Verständnis der Entwicklung und der authentischen Bedeutung der Grundbegriffe gelangen, die das Gerüst seiner Philosophie darstellen. Die Tatsache, dass diese Begriffe dann ganz oder teilweise von dem einen oder anderen Denker rezipiert wurden, hat für das Verständnis der echten Bedeutung einer Philosophie keine zentrale Bedeutung. Eine solche ‚Rezeptionsforschung‘ hat dagegen eine ganz zentrale Bedeutung für die allgemeinere Geschichte einer besonderen Epoche. Für die Epoche von Kant bis Hegel ist z.B. die Forschung über die verschiedenen Einflüsse von Rousseau, Kant usw. auf den jungen Hegel besonders wichtig, da sie die Entwicklung der Gedanken von einem Denker zu dem anderen erforscht und rekonstruiert. Die Erforschung der Quellen des Hegelschen Denkens würde somit einen wesentlichen Bestandteil einer logisch-dialektischen Studie über die Entwicklung der deutschen Kultur und insbesondere Philosophie zwischen 1700 und 1800 ausmachen, weil in diesem Fall solche Quellen dem Studienobjekt immanent und nicht äußerlich wären. Der Entwicklung des Hegelschen Denkens hingegen ist die Quellenforschung äußerlich und nicht immanent.
In der vorliegenden Arbeit werden natürlich einige der wichtigsten und vor allem dokumentierbaren Einflüsse erwähnt werden, die andere Denker auf den jungen Hegel ausübten. Sie gehören jedoch nicht zur tragenden Struktur der Arbeit, also zu der logisch-dialektischen Sequenz, sondern fungieren als äußere Ausstattung und haben die Aufgabe, eine Verbindung zwischen der immanenten Entwicklung des Hegelschen Denkens und der Kultur seiner Zeit herzustellen.
Werfen wir nun einen Blick auf die vorgezogene Einteilung der immanenten Entwicklung des Hegelschen Denkens.
Vorgezogene Einteilung der Entwicklung des Hegelschen Denkens
In Übereinstimmung mit den Grundprinzipien der Dialektik gliedert sich die Entwicklung des Hegelschen Denkens in drei Hauptperioden.
Die erste Periode geht, chronologisch betrachtet, von 1785 bis 1794. Ihr logischer Inhalt wird von der Formulierung des Hegelschen Grundideals gebildet, d.h. vom Ziel, der Menschheit eine neue ethisch-religiöse Theorie zur Verfügung zu stellen. Diese neue Theorie soll durch Vernunft gerechtfertigt werden und den Menschen befähigen, glücklich und in Einklang mit der Natur und sich selbst zu leben. Dieses Ideal leitete die innere Entwicklung seines Denkens und war zugleich das Grundideal und der authentische Lebenssinn von Hegel als Philosophen. Vom dialektischen Standpunkt aus entspricht diese Periode dem Moment der Affirmation, weil sie das noch nicht realisierte Prinzip seiner Philosophie enthält, eben Hegels philosophisches Projekt (das Ideal).
Im ersten Teil von Einfluß ist die logisch-dialektische Entwicklung des Hegelschen Denkens während dieser Zeitspanne bereits nach den eben erörterten methodischen dialektischen Prinzipien rekonstruiert. Im ersten Teil der vorliegenden Arbeit wird das Ideal der Begründung einer neuen ethisch-religiösen Theorie behandelt, das das Ergebnis dieser ersten Periode der Entwicklung des Philosophen darstellt, und zwar nicht in genetischer, sondern in systematischer Hinsicht. Es wird den Versuch unternommen, die philosophische Auffassung zu erläutern, die Hegels Projekt zugrunde liegt. Es handelt sich um die in Einfluß schon behandelte, aber nicht systematisch untersuchte natürliche Mensch- und Naturauffassung (Einfluß, S. 178-186). Die dialektische Entwicklung, die dazu geführt hat, wird vorausgesetzt, da sie eben im Einfluß rekonstruiert wurde.
Auch die Abhandlung der dritten Periode in der Entwicklung des Hegelschen Denkens, die aus dem reifen philosophischen System besteht sowie aus dessen Verbreitung durch Veröffentlichungen der Hauptwerke ab 1807 und akademischen Unterricht (Vorlesungen), wird sich tatsächlich mehr mit der systematischen Untersuchung der ethisch-religiösen Bedeutung des Systems als mit der genetischen Analyse der Entwicklung von Hegels Denken von 1807 an befassen.(32) Deshalb wird sich die systematische Abhandlung des frühen Ideals als ausschlaggebend erweisen, um den tiefen Sinn des reifen Systems. Dadurch wird klar werden, dass das System nichts anderes darstellt als die weiterentwickelte und perfektionierte Form des frühen Ideals, und somit dessen Verwirklichung. Auf der Grundlage von diesem Verständnis der tiefen und echten Bedeutung von Hegels reifer Philosophie wird es auch möglich sein, zwischen Begriffen, die die unentbehrliche, objektive Struktur des Systems und somit die Verwirklichung des philosophischen Ideals seines Lebens bilden, und weiteren Begriffen, die dagegen von dem Philosophen auf Grund von äußerlichen Zwängen hier und dort eingeführt werden mussten, scharf zu unterscheiden.
Von den verschiedenen Entwicklungsphasen dieser ersten Periode von 1785 bis 1792 werden daher nur die Grundbegriffe erwähnt werden, um dadurch eine kontinuierliche chronologische Rekonstruktion gewährleisten zu können.
Die eigentliche genetische Studie, die hier durchgeführt wird, wird deshalb die Jahre 1793-1806 betreffen. In dieser Zeit vollendet Hegel den Prozess der Realisierung des philosophischen Ideals durch die langsame, aber stufenweise und fortlaufende Ausarbeitung seines philosophischen Systems. Diese Jahre stellen die zweite Periode der dialektischen Entwicklung des Hegelschen Denkens dar. Den logischen Inhalt davon bilden die Forschungen Hegels über die ethisch-religiöse Lehre Jesus (1795-96), die Umwandlung ihrer wichtigsten religiösen Vorstellungen in philosophische Begriffe (1797-1802) und schließlich die Aufstellung des philosophischen Systems mit Hilfe der dialektischen Ausarbeitung dieser Begriffe (1802/03-06).
1795 versteht Hegel, dass Jesus schon eine Versöhnung des Menschen mit der Natur und sich selbst realisiert hatte, dass aber in den nachfolgenden Jahren mit der Begründung des historischen und offiziellen Christentums diese Versöhnung aus verschiedenen Gründen gegangen ist. Das positive Christentum hat eher die Worte als den ursprünglichen Geist der Botschaft Jesu weiterentwickeltet. Hegel kommt zum Schluss, dass es sich somit um eine Lehre handelt, die den Menschen nicht mit der Natur und sich selbst versöhnt, vor allem weil sie nicht auf der Vernunft beruht (1796).
Der junge Denker ist der Ansicht, dass die Ursache dafür in der Ausdrucksform der Lehre Jesu zu finden ist, weil sie sich auf Vorstellungen und nicht auf Begriffe stützt. Deshalb überträgt Hegel in den folgenden Jahren (von 1797 bis 1802) die Vorstellungen der Botschaft Jesu in begriffliche Form, also in der Form der Vernunft. Das Ergebnis dieser Umwandlung der Hauptvorstellungen der christlichen Religion in die entsprechenden philosophischen Begriffe besteht in der ersten Formulierung der beiden Grundbegriffe der Hegelschen Philosophie, und zwar des Absoluten 1801 und der absoluten Sittlichkeit 1802.
Hegel nimmt die tragende Struktur, bestehend aus diesen beiden Begriffen als Grundlage, um in den unmittelbar darauffolgenden Jahren (1803-06) das philosophische System als Verbindung dieser beiden Begriffe zu erarbeiten. Dieses System wird in den Jahren 1804-06 in den Manuskripten über Logik/Metaphysik/, Naturphilosophie und Philosophie des Geistes zum ersten Mal umfassend formuliert, auch wenn die Details noch nicht definitiv sind.
Vom Standpunkt der Dialektik aus gesehen entspricht diese zweite Periode der ersten Negation, weil sie den Prozess der Realisierung des Ideals, also der Affirmation, beinhaltet. In dieser zweiten Periode vergleicht Hegel sein Ideal mit der existierenden religionsphilosophischen Wirklichkeit, also auf der Seite der Religion mit der Geschichte des Christentums und der damaligen offiziellen christlichen Lehre, und auf der Seite der Philosophie mit den Systemen von Kant, Fichte, Schelling usw. Somit kann er den Vorgang der Umwandlung der christlichen Darstellungen in philosophische Begriffe mit Erfolg zu Ende führen.
Die dritte Periode der Entwicklung des Hegelschen Denkens umfasst schließlich sein philosophisches System, das in den Jahren von 1806-1831 mit der Veröffentlichung seiner Hauptwerke das Licht sah. Die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften enthält, wie bekannt, Hegels System, wovon dann die Logik (das Absolute) und die Rechtsphilosophie (die absolute Sittlichkeit) einzeln veröffentlicht wurden, da sie die zwei Hauptteile des Systems bilden. Weitere Veröffentlichungen sowie die Vorlesungen runden den Corpus von Hegels reifer Philosophie ab.
Die Enzyklopädie wurde von Hegel selbst drei Mal veröffentlicht (1817, 1827 und 1830), die Modifikationen betrafen aber immer nur die Organisation und Ordnung einzelner Kapitel und nicht seine tiefe Bedeutung. Deshalb wird auch diese Periode, gleich wie die erste, hier nicht anhand einer chronologisch-dialektischen Entwicklung rekonstruiert, sondern nur durch eine logische und systematische Analyse präsentiert. Denn Hegels Entwicklung stellt zu dieser Zeit keine immanent-dialektische Entwicklung dar, die übrigens mit der Fertigstellung seines Systems 1806 an ihrem Höhepunkt angelangt ist. Das bedeutet natürlich nicht, dass Hegel nach diesem Jahr in philosophischer Hinsicht nicht mehr gereift sei, sondern nur, dass die Geburt der Grundbegriffe seines Systems und somit auch dessen Grundbedeutung bereits stattgefunden hatte und im Jahr 1806 definitiv abgeschlossen war. Das ist auch daran zu erkennen, dass diese Begriffe bis zum Ende von Hegels Leben praktisch gleich bleiben. In den Jahren nach 1806 veränderte der Philosoph in seinem System nur die innere Organisation einiger Abschnitte bzw. fügte zur Vertiefung der einzelnen Teile neue Abschnitte hinzu, aber die Grundstruktur seines philosophischen Systems wurde nie mehr in Frage gestellt.
Somit ist also in Hegels reifem System das frühe Ideal realisiert. Anders gesagt, ist das philosophische System Hegels eine ethisch-religiöse Theorie, die eine Versöhnung des Menschen mit der Natur und somit ein glückliches, erfülltes Leben ermöglicht.
Nach der Dialektik betrachtet, bildet diese Periode die zweite Negation, d.h. eine durch das Moment der Auseinandersetzung mit der Realität (zweite Periode) bereicherte Rückkehr zur Affirmation (erste Periode). Es handelt sich daher um die vollendete Verwirklichung des Ideals.
Kurz zusammengefasst gliedert sich die Entwicklung Hegels also in drei Hauptperioden:
Ideal (Affirmation; 1785-1793): Erarbeitung des Ideals der Begründung einer neuen ethisch-religiösen Theorie zur Versöhnung des Menschen mit der Natur;
Realisierungsprozess des Ideals (erste Negation; 1793-1806): Realisierungsprozess des Ideals durch die Erforschung der ethisch-religiösen Geschichte der Menschheit und den Vergleich mit den damaligen philosophischen Haupttheorien;
Realisiertes Ideal (zweite Negation; 1806-1831): Definitive Ausarbeitung des philosophischen Systems als Realisierung des Ideals und Rückkehr zur Affirmation, bereichert durch den Prozess der Realisierung.
Das ist die dialektische Grundstruktur der Entwicklung des Hegelschen Denkens. Was nun die innere Unterteilung der einzelnen Perioden betrifft, so ist hier festzuhalten, das sich jede Periode in Phasen gliedert, die Phasen wiederum in Stadien und diese in Stufen.(33) Es sind also mehrere Ebenen der Untersuchung zu beachten, und zwar wie folgt:
Erste Ebene: Periode
Zweite Ebene: Phase
Dritte Ebene: Stadium
Vierte Ebene: Stufe
Fünfte Ebene: Moment
In diesem Zusammenhang ist noch zu erwähnen, dass unter ‚Moment‘ nicht eine chronologische Dimension, sondern einen Aspekt bzw. eine Seite des begrifflichen Inhaltes(34) innerhalb einer chronologischen Dimension (Phase, Stadium oder Stufe) gemeint ist.
Nachdem wir die Einteilung dieser Arbeit und damit auch die Entwicklung des Hegelschen Denkens vorweggenommen haben, können wir nun ohne weiteres an dessen lebendige dialektische Rekonstruktion herangehen. Beginnen wir mit einigen Bemerkungen über den noch sehr jungen Hegel in Stuttgart.
*
ERSTER ZYKLUS
VON HEGELS DENKEN UND LEBEN
(Affirmation)
Die Entstehung des philosophischen Systems als Umsetzung
des Jugendideals der Stiftung einer neuen
natürlichen und rationalen Volksreligion
zur Wiedereingliederung des Menschen in die Natur
Zeitlicher Rahmen: 1785-1806
Hauptquellen: Texte der Stuttgarter, Tübinger, Berner,
Frankfurter und Jenaer Zeit
Dieser erste Zyklus entspricht der Ausarbeitung des vollständigen Systems mit all seinen grundlegenden Teilen, die jedoch noch nicht im Detail entwickelt sind. Es handelt sich um das in den Jahren 1803-06 konzipierte Jenaer System, das alle Teile des späteren Hegelschen philosophischen Systems enthält und daher voll und ganz als Hegels erstes wirkliches philosophisches System betrachtet werden muss. Hiermit geht die Anfangsphase zum Abschluss. Tatsächlich ist 1806 der größte Teil der Arbeit getan, so sehr, dass Hegel in seinem ersten authentischen Werk, der Phänomenologie des Geistes, nichts weiter tun wird, als der Welt zu verkünden, dass die Wahrheit auf wissenschaftliche Weise entdeckt wurde, was für ihn genau der Weg des Systems ist. Die Phänomenologie wird von ihm in der Tat als eine Einführung in das System konzipiert werden. Sie setzt das System voraus und schließt also gleichzeitig die Jugendzeit ab und eröffnet die Zeit der Reife.
*
1.0
ERSTE PERIODE
(Affirmation)
Die Entstehung des Ideals der Gründung einer
neuen natürlichen und rationalen Volksreligion
für die Aufklärung des einfachen Mannes
Zeitrahmen: 1785 - 1794
Hauptquellen: Tagebuch, Exzerpte, Schulaufgaben,
Predigten, Texte aus Tübinger und Berner Zeit
*
Einleitende Bemerkungen: Umrisse der immanenten Entwicklung des Hegelschen Denkens bis 1794
Die erste Periode der Entwicklung des Hegelschen Denkens reicht von 1785 bis 1794 und teilt sich in drei Phasen:(35)
Affimation: Die erste Phase geht vom 22. April 1785 bis zum 7. Januar 1787 und beinhaltet die Formulierung seiner ursprünglichen Absicht, zu verstehen, wie man die Aufklärung des gemeinen Menschen (Mannes) verwirklichen könnte.
Erste Negation: Die zweite Phase, vom 7. Januar 1787 bis zum Herbst/Winter 1792/93, besteht aus der Ausarbeitung einer natürlichen Auffassung der Welt und des Menschen und wird später als Grundlage für die Formulierung des ethisch-religiösen Ideals der dritten und letzten Phase dienen.(36)
Zweite Negation: Die dritte Phase, von 1792/93 bis 1794, besteht schließlich aus der Formulierung des Ideals der Begründung einer rationalen und natürlichen Volksreligion, die fähig sei, im Menschen eine natürliche Moralität zu fördern.(37) Hegel verstand in der Tat, dass nur durch die Förderung einer natürlichen Moralität im menschlichen Wesen als Resultat einer neuen Vernunftreligion, die Aufklärung des gemeinen Menschen, also des Volkes, stattfinden könnte.
Periodisierung
Was die Periodisierung dieser Phase anbelangt, so ist folgendes klarzustellen: In Einfluß wurde diese Periodisierung auf die Jahre 1787-1788 beschränkt, während die dritte Phase mit den Jahren 1792/93 beginnen sollte, was die Lücke zwischen den beiden Phasen mit der Zeit der sogenannten "dunklen Jahre" (1789-1792) der Hegelschen Gedankenentwicklung korrespondiert.(38) Diese Jahre wurden in Einfluß besonders eingehend analysiert (siehe den gesamten Abschnitt B in Teil I). In der Fußnote 23 auf S. 190 von Einfluß wird jedoch deutlich gemacht, daß der Denkinhalt dieser Jahre, nämlich die Formulierung des Hegelschen Naturbegriffs von Welt und Mensch, aus genetisch-dialektischer Sicht der dritten Stufe der zweiten Phase entspricht. Es ist kein Zufall, dass diese Phase in der Formulierung der zweiten Phase in Einfluß fehlt. Die dritte Phase schließlich, von 1792/93 bis 1794, hat die Formulierung des Ideals der Gründung einer rationalen Volksreligion zum Inhalt, die in der Lage ist, eine natürliche Moralität im Menschen zu fördern. Nur auf diese Weise, d.h. durch die Förderung einer natürlichen Moralität im Menschen mittels einer neuen Religion, kann nach Ansicht des jungen Hegel die Aufklärung des gemeinen Menschen erfolgen.(39)
Damit ist die Dialektik dieser ersten Periode abgeschlossen, und das jugendliche Ideal als zweite Negation oder Negation der Negation enthält in sich sowohl das Moment der Affirmation, d.h. das ursprüngliche Ziel, zu verstehen, wie die Erleuchtung des einfachen Menschen verwirklicht werden kann, als auch das der ersten Negation, d.h. das Verständnis des Begriffs des menschlichen Wesens und der ihm entsprechenden Moral. Es ist nun gut, den spezifischen Inhalt jeder dieser Phasen zumindest in groben Zügen zu spezifizieren.
*
1.1
ERSTE PHASE
(Affirmation)
Die Entstehung der Grundfrage nach einer
’Aufklärung des gemeinen Mannes’
Zeitlicher Rahmen: 22. April 1785 - 7. Januar 1787)
Hauptquelle: Tagebuch
*
Die erste Phase der Entwicklung im Denken Hegels, in der sich ein selbständiges Durchdenken zeitgenössischen Gedankengutes erkennen lässt, umfasst die Zeitspanne von 22. April 1785 bis 7. Januar 1787. Diese zeitliche Umgrenzung bezieht sich auf die immanente Entwicklung von Hegels Gedanken und ist unabhängig von den äußeren Lebensbedingungen, wie etwa seinem Wohnort Stuttgart.
Diese Phase ist durch das Auftauchen der Grundproblematik des gesamten, auch späteren Hegelschen Denkens geprägt. In erster Linie entstand Hegels Hauptinteresse für die Moral sowie für das Verständnis der Gründe und der Ziele des menschlichen Verhaltens. Am Ende der Phase entwarf Hegels die Fragestellung nach einer ’Aufklärung des gemeinen Mannes’, die dann seiner weiteren Gedankenentwicklung bis zur Erarbeitung des Systems zugrunde lag. Zur Formulierung dieser Fragestellung gelangte Hegel nicht von einem Tag auf den anderen, sondern im Zuge eines langsamen Reifungsprozesses, der in drei Stadien ablief. Zum ersten Mal tauchte diese Fragestellung auf den letzten Seiten seines Tagebuchs, das er gegen Ende des Jahres 1786 verfasste. Das reife philosophische System ist als die Lösung dieser grundlegenden Fragestellung zu sehen.
Philologische Situation der Quellen und Datierung
Die Texte aus diesen sehr frühen Jahren der dialektischen Entwicklung des Denkens des jungen Philosophen sind glücklicherweise in einer Weise überliefert, die, wenn auch nicht vollständig, so doch für die Ausarbeitung einer lückenlosen Rekonstruktion der Phase ausreicht. Auch ihre Datierung ist sicher und zuverlässig, da diese Texte fast alle von Hegel selbst datiert wurden.
Die chronologischen Grenzen dieser Phase sind folgende:
- Terminus a quo ist der 22.April 1785, da an diesem Tage Hegel die erste von ihm erhaltene Schrift abgefasst hat;(40)
-Terminus ad quem ist der 7. Januar 1787, der Tag, an dem er das Tagebuch anscheinend abgeschlossen hat. Da die Fortschritte, die Hegel in dieser ersten Phase macht, vorwiegend durch das Tagebuch belegt sind, ist es sinnvoll, das Ende dieser Phase mit dem Ende des Tagebuchs zusammenfallen zu lassen. Dadurch wird die Parallelität zwischen erhaltenem schriftlichem Material und darin innewohnendem Gedankengang am besten berücksichtigt. Der richtige Zeitpunkt der chronologischen Abgrenzung dieser Phase lässt sich leider nicht genauer bestimmen, da die Schrift, die den Hauptgedanken des letzten Stadiums enthält und die deshalb den ’Höhepunkt’ von Hegels geistiger Entwicklung in dieser Phase bildet, ohne Datum ist (s. S. 42). Sowohl aus formellen wie auch aus inhaltlichen Gründen ist sie aber in der Zeit zwischen 23. Dezember 1786 und 7. Januar 1787 anzusetzen, und deshalb scheint die Wahl dieses letzten Datums hinreichend begründet zu sein.
Die immanente Entwicklung dieser Phase weist eine Unterteilung in drei Stadien auf.
Im ersten Stadium, das sich von den Anfängen seiner geistigen Entwicklung (22. April 1785 nach den uns vorliegenden Unterlagen) bis zum 24. August desselben Jahres (40a) erstreckt, wird das grundlegende philosophische Interesse des jungen Denkers skizziert. Es betrifft eindeutig die Moral, das heißt die Lebensweise der Menschen und die Prinzipien, die sie regeln. Lektüre des Tagebuchs, in dem Hegel seine Gedanken auf dieser Stufe seiner geistigen Entwicklung notiert,(41) zeigt zweifellos die aufklärerische Prägung seines Denkens der letzten Jahre. Er hält inne, um über die Lebensweise seiner Mitbürger nachzudenken, und kritisiert, dass die meisten von ihnen, auch die Gelehrten, immer noch abergläubisch seien. Dieser Haltung setzt Hegel eine rationale und ausgewogene, zeitgemäße entgegen.
Im zweiten Stadium – vom 24. August 1785 bis zum 15./24. Februar 1786 – hält der junge Student des Stuttgarter Gymnasiums vor allem inne, um über den Sinn des Lebens nachzudenken, also über den Grundwert der Moral. Er reflektiert daher Themen, die dem Leben des einfachen Mannes sehr nahe stehen, wie z.B. Glück und Geselligkeit,(42) wie mehrere Schriften - sowohl Tagebuchseiten als auch Auszüge - dokumentieren, die zu dieser Stufe gehören und sich direkt oder indirekt mit diesen Konzepten befassen.(43) Durch diese Überlegungen kommt er zu dem Schluss, dass der Sinn des Lebens für den einfachen Menschen im Glück liegt und dass die Geselligkeit, also die Beziehung zu anderen Menschen, der Hauptweg ist, der zur Erreichung dieses Ziels führen kann.
Das dritte und letzte Stadium dieser Phase als Negation der Negation ist gekennzeichnet durch die Verschmelzung bzw. Synthese der beiden Grundbegriffe der vorangegangenen Stufen, nämlich des Aufklärungsbegriffs als Bejahung und des Glücksbegriffs als erste Verneinung. Diese Synthese hat die Form einer Frage, das heißt der Frage nach der Aufklärung des einfachen Mannes. In der Tat, wenn die Aufklärung oder, was dasselbe ist, die Rationalität die richtige und ausgewogene Lebenseinstellung ist und wenn andererseits das Glück das in ihr zu erreichende oberste Ziel ist, stellt sich Hegel die Frage nach dem Wie Diese beiden Faktoren können in Einklang gebracht werden und sind daher beide unverzichtbar. Das Problem ist nicht so sehr der gelehrte Mensch.
Diese Frage kann am deutlichsten wie folgt formuliert werden: Wie ist es möglich, den einfachen Menschen aufzuklären und sicherzustellen, dass er durch seine eigene rationale Einstellung glücklich wird? Mit der Formulierung dieser Frage endet die Entwicklung des Hegelschen Denkens in dieser ersten Phase.
Hegel fühlte sich jedoch noch nicht in der Lage, dieses Problem direkt anzusprechen. Tatsächlich behauptet er auf einer grundlegenden Seite seines Tagebuchs, dass die Vertiefung und Lösung dieser selbst für Gelehrte schwierigen Frage ihm dann noch schwerer fällt, da er die Geschichte noch nicht von einem philosophischen Standpunkt aus und in der Tiefe studiert hat.(44)
Aus diesem Grund entwickelt der junge Denker von diesem Moment an diese Argumentation nicht in Bezug auf den einfachen Menschen, sondern auf den Gelehrten, d.h. er konzentriert sich auf die Aufklärung durch die Wissenschaften und die Künste. Auf dieser Grundlage fühlte er sich sicherer, nicht nur aus den von ihm selbst angeführten Gründen, sondern auch, weil ihm noch die nötige praktische Erfahrung fehlte, um das Leben des einfachen Menschen zu verstehen. Andererseits hatte er bereits genügend Studienerfahrung gesammelt, sodass er das Gefühl hatte, die Frage auf dieser Ebene näher an seinem täglichen Handeln und seiner eigenen Persönlichkeit angehen zu können.
*
1.1.1
ERSTES STADIUM
(Affirmation)
Hegels Haupt- und Urinteresse
für die Moralität eines Volkes
Zeitlicher Rahmen: 22. April 1785 - 24. August 1785
Hauptquelle: Exzerpte
*
In diesem ersten Stadium, das von den dokumentierten Anfängen seiner intellektuellen Entwicklung (22. April 1785) bis zum 24. August des gleichen Jahres reicht, zeichnet sich das grundlegende philosophische Interesse des jungen Denkers ab. Die Überlegungen, die Hegel in den ersten Seiten seines Tagebuchs anstellt und die auch die ersten schriftlichen Belege seiner geistigen Entwicklung sind, die wir besitzen, zeigen, dass er sich hauptsächlich für die Lebensweise der in seiner Umgebung lebenden Menschen und ihre Prinzipien interessierte.
Von den anderen beiden, durch das Tagebuch belegten Interessen des jungen Hegel, dem Interesse für Sprachen und insbesondere für die griechische und lateinische Sprache und dem Interesse für die ‘pragmatische Geschichte’, kann weder das eine noch das andere als sein ‘Hauptinteresse’ (45) betrachtet werden: das erste, weil es mehr die Form als den Inhalt von Hegels ursprünglichem, geistigem Interesse betrifft und erst mit der Herausbildung des Begriffs der Natürlichkeit der Sprache der Alten in den Aufsätzen der Jahre 1787-1788 einen ersten, eigentlich philosophischen Status erhält; das zweite, weil es dem moralischen Hauptinteresse für die Lebensweise der Menschen untergeordnet ist, da das Studium der Geschichte für Hegel kein Selbstzweck war, sondern dem Verständnis des Lebens der Menschen diente, was sich unter anderem aus dem Tagebucheintrag vom 01.07.1785 und insbesondere aus der sehr wichtigen Textpartie über die Aufklärung schließen läßt (s. das dritte Stadium dieser Phase).
Deshalb scheint es mir begründet zu sein, Hegels ursprüngliches Hauptinteresse als ‘moralisch’ zu bezeichnen. Darunter ist alles zu verstehen, was sich auf das geistige Leben des Menschen, auf dessen Denkweise und auf die bei den einzelnen Individuen mehr oder weniger bewusst daraus resultierende Lebensweise bezieht. In dem Exzerpt Philosophie. Allgemeine Übersicht vom 09.-10.08.1787, befindet sich eine Definition der praktischen Philosophie, die als begriffliche Umgrenzung dieser moralischen Grundeinstellung Hegels dienen kann:(46)
„II. Die practische Philosophie begreift überhaupt Alles, was sich auf die äussere und innere Glückseligkeit des Menschen bezieht. [...] Die moralische Theorie des Menschen setzt alle die allgemeinen Grundsätze fest, welche in allen Theilen der practischen Weltweisheit aus der moralischen Betrachtung des Menschen müssen vorausgesetzt werden; das allgemeine Gesetz der Natur und die allgemeine Verbindlichkeit der Menschen dazu; die wahren Begriffe von Tugend und Laster, von Glückseligkeit und Unglückseligkeit, von natürlichen Belohnungen und Strafen, von Schuld und Unschuld.“ (GW 3, S. 117)
Diese Definition ist sehr geeignet, Hegels damalige moralische Weltanschauung auszudrücken, da in ihr viele Begriffe (Glückseligkeit und Unglückseligkeit, Tugend und Laster usw.) vorhanden sind, die in den moralischen Überlegungen des jungen Hegel, insbesondere in diesen ersten Jahren, oft vorkommen. Die Begriffe ‘praktische Philosophie’, ‘moralische Theorie’ bzw. ‘Betrachtung des Menschen’, ‘moralische Weltanschauung’, ‘praktische Weltweisheit’ usw. geben genau die Denkeinstellung Hegels in den Stuttgarter Jahren wieder. Diese wird aber die Grundlage auch seines späteren Philosophierens bleiben.
Es scheint mir deshalb richtig, das Wort ‘Moral’ mit seinen abgeleiteten Wörtern ‘moralisch’, ‘Moralität’ usw. für diese ersten Schritte im Denken Hegels als ganz einfache und allgemeine Bezeichnung der Dimension des menschlichen Verhaltens bzw. Handelns zu benutzen; komplexere Bedeutungen des Wortes, wie z.B. der berühmte Unterschied zwischen ‘Moralität’ und ‘Sittlichkeit’ aus Hegels späterem philosophischen System, sind hier nicht relevant. Auf diesem Wege kann man unmittelbar auf dem Niveau des Denkens des jungen Hegel bleiben, das im Grunde genommen insbesondere in der Stuttgarter Zeit keinen tieferen und differenzierteren Begriff der Moral als diesen besaß.
Da dieses moralische Interesse nicht nur den Anfang, sondern auch die spätere Entwicklung Hegels prägte, wie in der vorliegenden Studie in Bezug auf die Zeit von 1785 bis 1794 gezeigt wird, ist es nicht nur als ursprüngliches Interesse, sondern auch als Hauptinteresse seines Philosophierens zumindest bis zum Anfang der Berner Jahre zu betrachten.
Eine Kennzeichnung von Hegels Hauptinteresse als ‘moralisch’ ist schon von Peperzak (1960) vorgeschlagen worden. Er trifft ins Richtige, wenn er die philosophische Haupteinstellung des jungen Hegel als ‘la vision moral du monde’ bezeichnet. Hegel war wirklich auf der Suche nach einer neuen Moral, und deswegen ist diese Interpretation im Grunde genommen richtig. Sie ist jedoch aus zwei Gründen einseitig:
- erstens, weil Peperzak mit dieser Bezeichnung die dualistische Weltanschauung … la Kant meint, die Hegel dann in der Phänomenologie ausführlich behandelt hat (S. XIV-XV). Hegels Texten liegt aber eine einheitliche, monistische Moralauffassung zugrunde;
- zweitens, weil sie sich den religiösen bzw. politischen Interpretationen entgegenstellt (S. XIII), ohne sie in sich aufzunehmen bzw., mit der Sprache der Wissenschaft der Logik, aufzuheben und dadurch zu einem vollständigen Bild des jungen Hegel zu kommen.
Die Tagebucheinträge, in denen Hegel am deutlichsten sein Hauptinteresse ausgedrückt hat, sind folgende:
- 01.07.1785:(47) dieser Eintrag zeigt sehr deutlich, wie Hegel sich für die Geschichte interessierte, weil er dadurch das Leben der Menschen glaubte besser verstehen zu können:
„Eine pragmatische Geschichte ist glaub ich, wenn man nicht bloß Facta erzählt, sondern auch den Carakter eines berümten Mannes, einer ganzen Nation, ihre Sitten, Gebräuche, Religion [...]“.
- 08.07.1785:(48) Hegel denkt über den Charakter der Geschlechter nach und führt einige Verse von Horaz zum Verständnis des Charakters des weiblichen Geschlechts (aber auch zum Teil des männlichen Geschlechts) an (49) Die wörtliche Wiederholung des Begriffs ‘Charakter’ sowie entsprechende Umschreibungen in diesen zwei Einträgen) scheinen sehr interessant zu sein, da sie zeigen, dass Hegels Aufmerksamkeit sehr gezielt auf das Verständnis des Charakters des Menschen gerichtet war.(50)
- 9/10/11.07.1785:(51) in diesen Einträgen übt Hegel Kritik am Aberglauben seiner Mitbürger. Anlaß ist der Volksglaube an „das sogenannte Muthes Heer“ gewesen.(52) Der Eintrag vom 09.07.1785 ist besonders wichtig, da Hegel hier zum ersten Mal im Rahmen seiner Überlegungen über den menschlichen Charakter die Begriffe ‚Aberglaube’ und ‚Aufklärung’ benutzt. Sehr deutlich kann man diesem Eintrag entnehmen, dass Hegel die Welt zur damaligen Zeit von einem überzeugt aufklärerischen Standpunkt aus betrachtete und infolgedessen kritisch gegenüber jeder Äußerung von Aberglauben war. Insbesondere kritisiert er, dass es unter den Leuten, die meinten, ‚das Muthes Heer’ gesehen zu haben,
„[...] sogar Leute, von denen man mehr Aufklärung erwartet, und die in öffentlichen Ämtern stehen“
gab.(53) Diese Bemerkung zeigt, dass Hegels Kritik der Denk- bzw. der Lebensweise der Menschen seiner Umgebung gegen diejenigen gerichtet war, die nicht mit den aufgeklärten Zeiten Schritt hielten (GW 1, S. 9,9: „O tempora! O mores! geschehen Anno 1785. O! O!“).(54) Seine Kritik war also nicht gegen eine bestimmte Schicht der Gesellschaft gerichtet, war also nicht klassengebunden, wenngleich es selbstverständlich ist, dass er für besonders skandalös hielt, dass die oberste, regierende Schicht noch abergläubisch war und nichts von der neuen, aufklärerischen Weltanschauung aufgenommen hatte.
- 30.07.1785:(55) sogar eine alte Ausgabe von Cicero ist für Hegel Anlass, über die Gefühle und die Einsichten der Menschen nachzudenken, die mit dieser Ausgabe in irgendeiner Form beschäftigt waren und von der Nachwelt vergessen worden sind. Auch in diesen anscheinend wenig bedeutenden Betrachtungen zeigt sich Hegels Sensibilität für das innere Leben des Menschen und für die menschlichen Schicksale.(56)
- 22/23/24.08.1785:(57) in diesen Tagen beginnt Hegel eine Untersuchung über das Thema:
„Was denn eigentlich die schlimmste Geistesverwirrung sei, die über die Menschen -einzelne wie Gemeinschaften-, über Städte und Felder, über Staaten und Reiche das meiste Unheil gebracht hat“.(58)
Dass es sich um das Vorhaben eines richtigen, wenngleich selbstverständlich noch naiven Programms handelt, ergibt sich aus der Ausdrucksweise Hegels in dem folgenden Satz desselben Eintrags:
„Wir wollen also sehen, was Ruhmsucht, Goldgier, Hochmut, Neid, Verzweiflung, Haß, Zorn und Rachgier angerichtet haben“.
Dass Hegel sich hier hauptsächlich mit dem Verständnis der menschlichen Seele bzw. des menschlichen Charakters beschäftigt, scheint mir unbezweifelbar. Somit wird die in dieser Arbeit bisher verfolgte Interpretation, dass Hegels ursprüngliches Interesse dem Verständnis des moralischen Lebens des Menschen galt, weiter unterstützt. Interessant ist es hier insbesondere, dass er dieses ‚Programm’ sowohl in Bezug auf den einzelnen Menschen, also moralisch, als auch in Bezug auf die ‘Gemeinschaften’, also gesellschaftlich bzw. politisch, versteht.
Es zeigt sich, wie für Hegel schon in diesem ersten Stadium seiner Geistesentwicklung der moralische und der gesellschaftlich-politische Gesichtspunkt eine Einheit bilden, die ihren Kern in dem Verständnis des Menschen und seines Charakters hat.
- 22./23.12.1785:(59) nach einer langen Krankheit nimmt Hegel die Durchführung seines Programms am 22.12.1785 wieder auf:
„Schon lange bevor ich von der schweren Krankheit befallen wurde, habe ich nach dem Maß meiner Begabung zu erklären begonnen, was an Bösem und Gutem aus den Leidenschaften der Seele folgt“.(60)
Am 22.12. schrieb er, dass er „wie es im Hinblick auf die Ehre [...] steht“ schon dargelegt habe, und den Eintrag vom 23.12. beginnt er dann mit den Worten: „Wir wollen nun fortgehen zu der Gier nach Gold und Reichtum“. Dies bestätigt, dass es sich dabei um die Fortsetzung der am 22.08.85 begonnenen, ethisch-gesellschaftlich gerichteten Überlegungen handelt. Der ähnliche Anfang des Eintrags vom 11.02.1786: „Wir wollen zu diesem unserem alten Unternehmen zur Verbesserung des Stils, das für einen längeren Zeitraum unterbrochen war, zurückkehren [...]“ ist zweifelsohne ein weiterer Beweis der Kontinuität in der geistigen Entwicklung Hegels wenigstens in Bezug auf seine gründlichen Interessen für die Moral, für die Altsprachen und für die pragmatische Geschichte. Hegel ging also sehr systematisch in der Verfolgung seines Hauptinteresses für das Verständnis der menschlichen Seele vor.
Auf der Basis der oben aufgeführten Tagebucheinträge ist es jetzt möglich, Hegels ursprüngliches, moralisches Hauptinteresse genauer zu bezeichnen.
In erster Linie war Hegels Nachdenken auf das Verständnis des menschlichen Charakters, der menschlichen Seele konzentriert. Er wollte verstehen, welche Gründe es sind, die den Menschen in der einen oder anderen Weise zum Handeln bewegen. Ein gutes Beispiel dafür sind seine Überlegungen zu Glaube und Aberglaube und zu der Frage, wieso diese geistigen Lebenseinstellungen auch Menschen, die vernünftig sein sollten, oft zu unvernünftigen Gedanken und Handlungen bestimmen. Hegels moralisches Interesse für den Menschen hatte also in erster Linie eine psychologische Komponente, d.h. es zielte auf das Verständnis des menschlichen Geistes.
In zweiter Linie wollte er einen aufgeklärten Begriff des Menschen erarbeiten, der als Vorbild für seine Selbsterziehung gelten konnte. Es ist sehr beeindruckend, wie Hegel sich im Tagebuch mit der eigenen Seele beschäftigt und bei der Lektüre von griechischen und lateinischen Klassikern, bei Gesprächen mit seinen Lehrern und bei der Beobachtung der Lebensweise der anderen Menschen immer auf der Suche nach dem richtigen Lebensweg für sich selber ist. Sein moralisches Interesse war also gleichzeitig ein pädagogisches Interesse, wobei diesbezüglich zu präzisieren ist, dass er in diesen früheren Jahren vor allem sich selbst zu einer ausgeglichenen Moralität erziehen wollte. Er war also sein eigener Schüler.
In dritter Linie waren Hegels Überlegungen auch gesellschaftlich-politisch gerichtet.(61) Die Suche nach einer eigenen ausgeglichenen, aufgeklärten Moral verband sich mit seiner Kritik der Gegenwart, die seiner Ansicht nach über keine richtige moralische Theorie verfügte. Hegels Vorhaben, für sich eine solche Moral herauszufinden, war also mit dem Gedanken verbunden, dass diese neue Moral auch für andere Menschen, also für die Gesellschaft Gültigkeit haben müsse. Das moralisch-pädagogische Interesse hatte also gleichzeitig eine sozial-politische Geltung.
Das Verständnis der menschlichen Seele, die Selbsterziehung zu einem aufgeklärten, ausgeglichenen, moralischen Verhalten, die Umwandlung dieses moralischen Verhaltens in ein gesellschaftlich-politisches Ideal sind also die drei Hauptmerkmale von Hegels ursprünglichem Hauptinteresse.
Unter diesen drei Dimensionen gibt es präzise, logische Verhältnisse: die psychologische Dimension ist die Voraussetzung für die anderen Dimensionen, weil es ohne Kenntnis der menschlichen Seele nicht möglich ist, eine moralische Theorie zu erarbeiten; die moralisch-pädagogische Dimension ist ihrerseits die Voraussetzung für die sozial-politische Dimension, weil man kein ‘Volkserzieher’ sein kann, wenn man nicht fähig ist, sich selbst moralisch zu erziehen.
Die moralisch-pädagogische Dimension scheint also die zentrale Stelle in Hegels Hauptinteresse zu besetzen und deswegen die wichtigste Rolle als sein Hauptziel zu spielen. Auf sie bezogen, scheinen die psychologische Dimension ihre notwendige Voraussetzung und die sozial-politische Dimension ihre logische Folge zu sein. Hegels Hauptziel und Hauptinteresse waren schließlich weder bloß psychologisch noch rein sozial-politisch, sondern hauptsächlich moralisch-pädagogisch: er wollte für sich selbst eine ausgeglichene, aufgeklärte Lebensweise herausbilden, und das konnte er nur durch Selbsterziehung erreichen, da er von seiner Umwelt kein für ihn passendes moralisches Vorbild bekommen konnte.
*
1.1.2
ZWEITES STADIUM
(1. Negation)
Das Verständnis von Geselligkeit als Mittel
und der Glückseligkeit als Ziel des menschlichen Lebens
Zeitraum: 24. August 1785 - 15./24. Februar 1786
Hauptquellen: Exzerpte, Tagebuch
Der nächste Schritt, den der junge Hegel in seiner Suche nach einer ausgeglichenen, aufgeklärten Lebensweise machte, war die Bestimmung des Hauptwerts dieser Moral. Er versuchte zu verstehen, was für das menschliche Leben entscheidend ist, welche Gründe im Leben des Menschen die Hauptrolle spielen. Eine Antwort zu dieser wichtigen Frage hat er in den Tagen vom 15. bis 24.02.1786 gefunden. Seine Überlegungen schrieb er in den folgenden Einträgen seines Tagebuchs nieder:
- 15/16./18./24.02.1786:(62) in diesen Tagen bereitete sich Hegel für die ‘Übungen zur Beförderung der Eloquenz’ vor, die im Sommer stattfanden.(63) Als Gegenstand, worüber er sprechen wollte, wählte er selbstverständlich ein Thema, das sehr nahe an seinem moralischen Hauptinteresse lag, und zwar ‘der gesellige Umgang’. Dieser besteht seiner Meinung nach darin,
„daß man häufig zusammenkommt, sich gegenseitig bespricht, spazierengeht und Wege unternimmt, um an einem gewissen gemeinsamen Plan teilzunehmen; am vorzüglichsten ist ja das Vergnügen, sich über Dinge und Geschäfte zu beraten und dieselben durchzuführen“.(64)
Der Grund für die Wahl dieses Themas wird von ihm damit erklärt, dass es folgenden Anforderungen entspricht:
und
In diesem Projekt sind Hegels moralisches Hauptinteresse und sein weiteres Interesse für den Stil des korrekten Schreibens und Redens wunderbar vereinigt. Das erste gibt den Inhalt, das zweite die Form für das Projekt seiner Rede, die als eine erste Zusammenfassung der Ergebnisse seiner bisherigen Überlegungen gelten kann.
Die Hauptidee dieses Projektes ist, daß der Umgang mit Menschen, „wenn er richtig und mit den rechten [Menschen] geschieht“,(69) sehr nützlich für den Menschen und die Bildung seines Geistes sein kann.
Hegel behandelt hier zwei Formen des geselligen Umgangs: den Umgang mit älteren Menschen:
„Zunächst wollen wir sprechen über die Vorteile des Umgangs mit älteren Menschen“ (Nicolin, 1970, S. 101),(66)
und mit den Frauen:
„Ich komme nun zum Umgang mit dem schwachen Geschlecht“ (Nicolin, 1970, S. 102).(67)
Besonders nützlich scheint ihm der Umgang mit älteren Menschen, da die Jugendlichen dadurch Menschenkenntnis erhalten können.(68) Die Begleitung von älteren Männern hat er selbst gesucht, um von ihren Kenntnissen und insbesondere ihrer Menschenkenntnis zu profitieren, wie es durch verschiedene Tagebucheinträge belegt wird, in denen er über den kulturellen Inhalt seiner Gespräche auf Spaziergängen mit seinem Lehrer Cleß oder mit dem verstorbenen verehrten Lehrer Löffler berichtet (s. unter anderen insbesondere die Einträge vom 4.07./6.07./7.07. /15.07./21.07./22.07.1785).
Das ist ein weiteres Zeichen, dass die Betrachtungen, die er in seinem Tagebuch eingetragen hat, nicht nur einen objektiven Wert als langsame Schritte zu seinem Verständnis der Welt und der Menschen, sondern auch einen subjektiven Wert, als langsame Schritte zu seinem Verständnis von sich selbst und zu seiner Herausbildung eines Menschenideals haben, nach dem er sich wie nach einem Vorbild richten und nach dem er den eigenen Charakter bilden wollte.
In Bezug auf den Umgang mit den Frauen schreibt der begabte Schüler:
„Wer nämlich unter den Menschen, die jetzt den Erdball bevölkern, glücklich zu sein wünscht - und das wird gewiß jeder von euch wollen und will es [schon jetzt], der muß, so möchte ich sagen, die Schlacken wegwerfen, und das kann nirgendwo besser und gründlicher geschehen als in Gesellschaft der Frauen. Sie haben nämlich das Monopol von Ruhm und Schande“.(69)
Beide Formen des geselligen Umgangs können also nach Hegel sehr nützlich für den kultivierten jungen Menschen sein, und das klingt wohl wie eine ethische Aufforderung zur Überwindung der Einsamkeit und zur Suche nach einem befriedigenden menschlichen Zusammensein.
Nachdem er geschrieben hatte, dass die Geselligkeit „[...] uns von der Natur auferlegt ist [...]“, schrieb Hegel darüber in dem Eintrag vom 18.02.1786:
„[...] mag auch von vielen, ja von den Erfahrensten die Einsamkeit gelobt werden, [...], so wirst du doch nur wenige anführen können, die sich immer dieser Absonderung von den Menschen erfreuen; denn so oft sie sich, von der geistigen Arbeit ziemlich erschöpft, erholen wollen, haben sie -[...]- die Gesellschaft von Menschen gesucht, freilich der richtigen und gleichgearteten. [...]. Die Einsamkeit hat ihre Zeit, ihr Maß und ihr Ziel, und auch die Gemeinsamkeit hat das ihre“(70)
Es fällt schwer, dabei nicht an die Philosophie des objektiven Geistes und insbesondere an deren Sektion die Sittlichkeit zu denken, in der Hegel das Leben für die Familie, für die Gesellschaft (die gemeinsame Arbeit) und für den Staat, also das ‘gesellige’ Leben, als die vollständigste Form der Verwirklichung des menschlichen Geistes, seiner Freiheit und Glückseligkeit, bezeichnet.(71)
In den Paragraphen 478 ff., die noch zur Philosophie des subjektiven Geistes gehören, erklärt Hegel zuerst, wie die Glückseligkeit in ihrer tiefsten Bedeutung die Freiheit sei (§480), und dann, wie die Verwirklichung der Freiheit des Geistes, die das Wesen desselben ist, in dem objektiven Geist erfolgt (§482). Dieser besteht in seiner höchsten Form in der Sittlichkeit,(72) die ihrerseits ihren Ausdruck in den zwischenmenschlichen Institutionen Familie und Staat findet. Diese sind auf der gegenseitigen Anerkennung des Selbstbewusstseins (‘das allgemeine Selbstbewusstsein’) gegründet (§ 436).(73)
Es ist bemerkenswert, wie die Grundbegriffe dieses zentralen Teils von Hegels System an seine ersten Überlegungen des Tagebuchs wunderbar anknüpfen:
Die oben dargestellte Parallelität zwischen der Sittlichkeit als zentralem Teil im System Hegels und der Geselligkeit als einem der Grundbegriffe dieser frühen Jahre zeigt, wie die bisher den Tagebucheinträgen entnommenen Begriffe (der menschliche Charakter, die Glückseligkeit, die menschlichen Tugenden und Werte, die Geselligkeit usw.) ihre zentrale Rolle im geistigen Leben Hegels im Laufe der Zeit behalten haben, und bestätigt deshalb auch die Richtigkeit der bisher vorgenommenen Interpretation des moralischen Interesses Hegels als seines Hauptinteresses.
Es scheint deshalb nicht falsch, den Tagebucheinträgen vom Februar 1786 auf Grund ihrer Grundbegriffe ‘Geselligkeit’ und ‘Glückseligkeit’ eine ähnlich zentrale Stelle in der frühen Gedankenentwicklung Hegels zuzuschreiben, wie sie die Begriffe ‘Sittlichkeit’ und ‘Freiheit’ im späteren System haben.
Dieser Schluss wird durch den logischen Zusammenhang zwischen den Grundbegriffen der Tagebucheinträge der Jahre 1785-1786 entscheidend gestützt. Dieser besteht darin, dass Hegel sein ursprüngliches Interesse für das Verständnis des Menschen und dessen Charakter nun auf die Begriffe der Geselligkeit und überhaupt der zwischenmenschlichen Beziehungen sowie der ‘Glückseligkeit’ richtete.
In dieser Beziehung ist der von ihm herstellte Zusammenhang zwischen Glückseligkeit und Geselligkeit sehr wichtig: aus den Tagebucheinträgen vom 18.02. und vom 24.02.1786 ist zu schließen, dass für ihn die Geselligkeit eine Voraussetzung für die Glückseligkeit ist und dass durch die Einsamkeit keine Glückseligkeit zu erreichen ist.
Die Verbindung zwischen Geselligkeit und Glückseligkeit kann mit Sicherheit als Hegels damaliger Hauptgedanke in Bezug auf sein moralisches Hauptinteresse betrachtet werden.
Geselligkeit und Glückseligkeit werden deshalb für ihn bei der Suche nach einer für ihn selbst richtigen und aufgeklärten Lebensweise ab diesem Zeitpunkt richtungweisend.
Die Glückseligkeit ist das Ziel des moralischen Lebens des Menschen, die Geselligkeit der Weg, wodurch der Mensch zu jenem Ziel gelangen kann.
Beide zusammen sind der Sinn des moralischen Verhaltens bzw. des menschlichen Lebens.
Um diesen grundlegenden Gedanken zu erfassen, musste Hegel tief und systematisch überlegt haben, und durch dieses tiefe und systematische Nachdenken konnte er zum ersten Mal in seiner Gedankenentwicklung nicht nur die schon angegebenen hauptsächlich moralischen Begriffe, sondern noch mindestens zwei allgemeingültige Grundbegriffe erfassen, die dann sein künftiges Denken möglicherweise bis in die Entstehung und Bildung seines Systems hinein bestimmt haben.
Es handelt sich um folgende Begriffe:
- die ‘Nützlichkeit’ bzw. der ‘Nutzen’ sowie der ‘Vorteil’ der ‘Kenntnisse’ in dem Leben des Menschen) und darunter insbesondere der ‘Menschenkenntnisse’ (Eintrag vom 24.01.1786: „Hinzu kommt... Menschenkenntnis“);(76)
- die Natur als diejenige, die dem Menschen das Bedürfnis des geselligen Umgangs eingepflanzt hat (Eintrag vom 15.02.1786: „Zuerst will ich dann sprechen...“ und vom 18.02.1786: „Daß diese uns von der Natur...“).
Das erste Auftauchen dieser allgemeingültigen Begriffe sowie der sich um das Begriffspaar Geselligkeit-Glückseligkeit gruppierenden moralischen Begriffe, die dann auch in der späteren Entwicklung Hegels eine entscheidende Rolle gespielt haben, ist als ein weiterer Beweis der Kontinuität seiner geistigen Entwicklung sowie der Bedeutung dieser Monate am Anfang des Jahres 1786 für die Bildung seiner entstehenden Moralauffassung anzusehen.
*
1.1.3
DRITTES STADIUM
Entstehung der Grundfrage nach einer
’Aufklärung des gemeinen Mannes’
(24. Februar 1786 - 7. Januar 1787)
Hauptquelle: Tagebuch, Aufsätze
Im Februar 1786 stellt sich Hegels allmählich herangebildetes moralisches Lebensideal auf folgende Weise dar: was seinen Inhalt anbelangt, spielt der Begriff der Glückseligkeit, als Hauptziel des Lebens des Menschen, zusammen mit dem Begriff der Geselligkeit, als dessen unentbehrliche Voraussetzung, die Hauptrolle; was die Form betrifft, spielt der Begriff der Aufklärung die Hauptrolle, da das moralische Lebensideal unbedingt die Vernünftigkeit zur Voraussetzung haben muss. Diese zwei Begriffe, die Glückseligkeit und die Aufklärung bzw. Vernünftigkeit, bilden deshalb die Grundstruktur für Hegels entstehendes, moralisches Lebensideal.
Ein weiterer Schritt in Hegels Gedankenentwicklung ist hauptsächlich durch zwei Einträge belegt, die leider in einer sehr lückenhaften Form erhalten sind. Es handelt sich um den Eintrag vom 22. März 1786 und den Eintrag ohne Anfang und deshalb auch ohne Datum, der sich in GW 1 auf S. 30 von 30,1 bis 30,19 befindet.(77) Der erste Eintrag ist abgebrochen, und wir haben von ihm nur den Anfang;(78) von dem zweiten Eintrag fehlen uns Anfang und Ende,(79) und wir haben deshalb nur eine Textpartie.
Was den Inhalt anbelangt, betreffen diese zwei Einträge verschiedene Begriffe, und zwar betrifft der erste den Begriff der Glückseligkeit und der zweite den Begriff der Aufklärung. Was die Zeit der Abfassung der Textpartie angeht, lässt sich folgendes vermuten: da sich Hegel gegen Ende des Eintrags über die Gelehrsamkeit der Ägypter äußert (GW 1, S. 30,13-19) und er am 23.Dezember 1786 genau über dieses Thema ein Exzerpt niedergeschrieben hat,(80) scheint die Textpartie im Anschluss an dieses Exzerpt, also in der Zeit um den bzw. nach dem 23.12.1786 bis Anfang 1787, als Hegel mit dem Niederschreiben seiner Gedanken in diesem ersten Tagebuch aufhörte, geschrieben worden zu sein.(81) Somit würde diese Textpartie die Begrenzung zwischen dem zweiten und dem dritten Stadium dieser ersten Phase der Jugendentwicklung Hegels bilden, da Hegel sich in der Zeit von März bis Oktober 1786 noch hauptsächlich mit dem Begriff der Glückseligkeit beschäftigte, wie mehrere Exzerpte aus diesen Monaten bezeugen,(82) während er ab Ende des Jahres 1786 seine Überlegungen über die Aufklärung und diesbezügliche Exzerpte in Angriff nahm (s. darüber die nächste Phase seiner Entwicklung). Von diesem inhaltlichen Standpunkt aus gehört also die Textpartie völlig berechtigt zum dritten Stadium dieser ersten Phase, während der Eintrag über den Begriff der Glückseligkeit und die diesbezüglichen Exzerpte eigentlich noch zum zweiten Stadium dieser Phase gehören.
Was die Form betrifft, zeigen beide Einträge eine deutliche Ähnlichkeit, da beide eine Begriffsdefinition enthalten. (83) Auf Grund dieser Ähnlichkeit und der Tatsache, dass die zwei Einträge wegen der fehlenden ZwischenBögen unmittelbar nacheinander überliefert worden sind, wird hier der Eintrag vom 22. März innerhalb des dritten Stadiums und in enger Beziehung zur Textpartie ohne Datum dargestellt, wenngleich es uns scheint, dass er zusammen mit den anderen, aus diesen Monaten stammenden Exzerpten über den Begriff der Glückseligkeit noch zum zweiten Stadium gehört. Das wird aber keine schwerwiegenden Folgen für die Richtigkeit der Rekonstruktion der gesamten Entwicklung dieser Phase haben, da die Schilderung der Reihenfolge in der gedanklichen Entwicklung Hegels dadurch nicht beeinträchtigt wird.
Im ersten Teil des Eintrags vom 22. März 1786 denkt Hegel über den Begriff der Glückseligkeit nach. Dazu schreibt er:
"Alle Menschen haben die Absicht, sich glücklich zu machen". (GW 1, S. 29,23)
Er wiederholt hiermit seinen Gedanken, dass die Glückseligkeit Hauptziel des menschlichen Lebens sei, wie er schon in dem Eintrag vom 24.02.1786 festgestellt hatte. Als er dann mit der Festsetzung des Begriffes der Glückseligkeit beginnt, was sie also eigentlich sei, bricht der Text ab ("Doch zuerst muss ich den Begriff von Glückseeligkeit festsezen, ich verstehe nämlich darunter einen..."). (GW 1, S. 29,27-28).
Die Textpartie ohne Datum beginnt mit der Darstellung des Begriffes der Aufklärung:
"...hier zu Papier bringe, muss ich vorher vorausschiken, was ich unter Aufklärung verstehe". (GW 1, S. 30,1-2).
In den nächsten Zeilen, die wir besitzen, stellt Hegel seinen Begriff der Aufklärung dar. Er unterteilt die Aufklärung in ‚Aufklärung durch Wissenschaften und Künste’ und ‚Aufklärung des gemeinen Mannes’ (GW 1, S. 30, 2-19). Die Aufklärung durch Wissenschaften und Künste bezieht sich ausschließlich auf den Stand der Gelehrten,(84) während die Aufklärung des ‚gemeinen Mannes’(85) das ganze Volk betrifft. "Einen Entwurf von einer Aufklärung des gemeinen Mannes zu machen" (GW 1, S. 30,4-5), hielt Hegel für eine äußerst schwere Aufgabe, sogar für gelehrte Leute GW 1, S.30,3-5). Für ihn selbst war sie "noch viel schwerer", da er "die Geschichte noch nicht philosophisch und gründlich" studiert hatte (GW 1, S. 30,6-7). Er wollte deshalb hier nur die Aufklärung durch die Wissenschaften und Künste behandeln.(86)
Es sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass auch hier einige Gedanken enthalten sind, die unwichtig zu sein scheinen, aber auf beeindruckende Weise mit Hegels späterer Auffassung übereinstimmen. Zuerst, in Bezug auf die ‚Aufklärung des gemeinen Mannes’, heißt es:
"Sonst glaub ich auch, diese Aufklärung des gemeinen Mannes habe sich immer nach der Religion seiner Zeit gerichtet." (GW 1, S. 30,7-8).
Dieser Satz erinnert an die Philosophie der Geschichte, in der z.B. folgendes zu lesen ist:
"Die Religion ist der Ort, wo ein Volk sich die Definition dessen gibt, was es für das Wahre hält." (SA, Bd.12, S. 134).
Daraus geht deutlich hervor, dass auch für den reifen Hegel die Aufklärung des Volkes, also des ‚gemeinen Mannes’, durch die Religion erfolgt.(87)
In Bezug auf die Aufklärung durch die Wissenschaften und die Künste schrieb der damalige Schüler:
"In Ansehung dieser bin ich also der Meinung sie haben zuerst im Orient und Süden geblüht und seyen dann von da aus immer mehr nach Westen gewandert“. (GW 1, S. 30, 11-13).
Auch in diesem Fall kommt sofort eine Stelle aus Hegels Philosophie der Geschichte in Erinnerung, die wie eine Zusammenfassung von Hegels Auffassung der Geschichte klingt:
„Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang.“
(SA, Bd.12, S. 134).
Wenn man die beeindruckende Übereinstimmung dieser Gedanken des jungen mit denen des reifen Hegel zu den anderen, bereits belegten Gedanken hinzunimmt, kommt die Kontinuität der geistigen Entwicklung Hegels sehr deutlich hervor, und man ist verlockt und wahrscheinlich auch berechtigt zu sagen, dass diese Entwicklung nicht darin bestand, neue Wahrheiten zu erfinden, sondern eher darin, die Grundgedanken seiner Jugend zu entfalten und die hier enthaltenen Wahrheiten ausführlicher und ‘wissenschaftlich’ (nach dem späteren Begriff von der ‘Wissenschaft der Logik’, also ‘dialektisch’ zu begründen).(88)
Es ist sehr wichtig zu verstehen, wie Hegel zu dem Gedanken kam, einen „Entwurf der Aufklärung des gemeinen Mannes zu machen“. Es ist wahrscheinlich, dass in dem fehlenden Teil des Eintrags davon die Rede war. Nach dem Abbruch fängt der Eintrag mit den Worten: „...hier zu Papier bringe, muss ich vorher vorausschiken, was ich unter Aufklärung verstehe“ wieder an (GW 1, S. 30,1-2).
Was wollte Hegel „zu Papier bringen“? Es muss sich um etwas handeln, das dem Begriff und wahrscheinlich auch dem Wortlaut nach das Wort ‘Aufklärung’ enthält, sonst würde Hegel hier nicht schreiben, dass er vorher vorausschicken müsse, was er unter Aufklärung verstehe. Es wird sich also wohl um irgendeine Form der Aufklärung handeln, die Hegel „zu Papier bringen“ wollte.
Zusammenfassend lässt es sich feststellen: Es fehlen uns also einerseits die Festsetzung des Begriffes Glückseligkeit’ in dem fehlenden Teil des Eintrags vom 22. März 1786, was aus dem letzten Satz vor dem Abbrechen („Doch zuerst muss ich den Begriff von Glückseligkeit festsezen...“) zu entnehmen ist, und andererseits die Darstellung des Begriffs von irgendeiner Form von Aufklärung im ersten Teil der Textpartie ohne Datum, wie aus dem Wiederanfang des Textes nach dem Abbruch zu schließen ist.(89)
Auf Grund der bisher durchgeführten Rekonstruktion der Entwicklung, die Hegels moralisches Interesse betrifft, ist es trotzdem möglich, sich ein Bild davon zu machen, um welchen Gegenstand das Denken Hegels kreiste zwischen dem ersten, den Begriff der Glückseligkeit behandelnden Eintrag vom 22. März 1786 und der zweiten, den Begriff der Aufklärung behandelnden Textpartie ohne Datum (die wahrscheinlich um den Dezember 1786 entstand), und zu versuchen, die Lücke in der Überlieferung der Manuskripte durch die logische Reihenfolge der Gedanken auszufüllen.
In der Zeit von März bis Dezember 1786 scheint Hegel vorwiegend damit befasst gewesen zu sein, sein moralisches Lebensideal zu definieren, und zwar durch den Begriff der Aufklärung als seiner vernünftigen Form und den Begriff der Glückseligkeit als seines inhaltlichen Zieles. Aus der Textpartie ohne Datum geht hervor, dass er das Bedürfnis hatte, „einen Entwurf einer Aufklärung des gemeinen Mannes zu machen“, sonst wäre er gar nicht zu der Erkenntnis gekommen, dass er dazu mangels eines gründlichen und philosophischen Studiums der Geschichte noch nicht genügend vorbereitet war.(90) „Einen Entwurf einer Aufklärung des gemeinen Mannes zu machen“, konnte für den jungen Hegel nur bedeuten, die Forderung nach Aufklärung auch für den gemeinen Mann, also für das Volk, geltend zu machen, und die Aufklärung folglich mit dem Hauptziel des Lebens des ‘gemeinen Mannes’, d.h. also mit der Glückseligkeit in Verbindung zu bringen. Hegel verzichtete aber darauf, nicht weil er das nicht wollte oder für nicht bedeutend hielt, sondern weil er sich dazu noch nicht in ausreichender Weise vorbereitet wusste. Da er die Geschichte noch nicht gründlich und philosophisch studiert hatte, beschloss er also, seine Untersuchungen über die Verbindung zwischen Aufklärung und Glückseligkeit zuerst auf dem Gebiet der Gelehrten zu führen, d.h. die Aufklärung als ‘Aufklärung durch die Wissenschaften und die Künste’ in Verbindung zu dem Begriff der Glückseligkeit zu setzen.
Hegel begann also nicht sofort mit dem Entwurf von einer ‘Aufklärung des gemeinen Mannes’, weil er vorher die Geschichte gründlich und philosophisch studieren wollte. Sein letztes Ziel war aber, einen solchen Entwurf zu machen.(91)
Man kann also sagen, dass die Entstehung der Frage nach einer ‘Aufklärung des gemeinen Mannes’ sehr wahrscheinlich den Hauptinhalt der Textpartie ohne Datum bildete. Das Problem bestand hauptsächlich in der Verbindung des Begriffs der Glückseligkeit mit dem der Aufklärung, wie Hegel sie in den entsprechenden Einträgen definiert hatte. In dieser Verbindung wurden von ihm die zwei Voraussetzungen seines in dieser Zeit entstehenden moralischen Ideals vereinigt: die Glückseligkeit als Hauptziel und Inhalt des menschlichen Lebens, die in sich die Geselligkeit einschließt, und die Aufklärung als die Form des menschlichen Verhaltens, die zu jenem Ziel führen soll und die für sich allein, ohne diesen Inhalt, leer wäre. Hierin sind also die Hauptgedanken dieser ersten Phase der Geistesentwicklung Hegels, die Forderung nach Vernünftigkeit des moralischen Verhaltens und nach Glückseligkeit des menschlichen Lebens, zusammengefasst.
Die Stellung der Frage nach einer ‘Aufklärung des gemeinen Mannes’ kann man deshalb als logischen Schluss dieser Phase betrachten. Wenngleich sie von Hegel nicht sofort gelöst wurde, bildete sie doch den Hintergrund seiner weiteren Gedankenentwicklung. Diese ging über den notwendigen Umweg der Untersuchung der ‘Aufklärung durch die Wissenschaften und die Künste’ weiter.
*
1.2.0
ZWEITE PHASE
Die Rezeption der Kategorie der Natürlichkeit e
die Entwicklung einer monistischen und naturalistischen Konzeption
der Welt und des Menschen
Zeitraum: 7. Januar 1787 - 10. Januar 1792
Hauptquellen: Exzerpte, Aufsätze
Grundidee der zweiten Phase der ersten Periode
In den unmittelbar folgenden Monaten versucht Hegel offensichtlich, seinen Mangel an Menschenkenntnis sowie vor allem an einem gründlichen und philosophischen Studium der Geschichte zu beheben, um dann seine Frage nach der ’Aufklärung des gemeinen Mannes’ auf dieser festen Grundlage lösen zu können.
Die zweite Phase dieser ersten Periode in der Entwicklung des Hegelschen Denkens wird also von der Problematik der Frage nach der Aufklärung des gelehrten Menschen durch die Wissenschaften und die Künste beherrscht, doch die andere, weitaus komplexere und dem Hegelschen Grundinteresse innewohnende Frage nach der Aufklärung des gemeinen Menschen wird auf dem Grund bleiben und bereit sein, zu gegebener Zeit aufzutauchen.
Die Aufklärung des gelehrten Menschen erkundet der junge Philosoph vor allem durch die Lektüre der kulturellen Zeitschriften seiner Zeit, aus denen er die Artikel, die ihn am meisten interessierten, transkribierte oder zusammenfasste. Glücklicherweise sind viele dieser Extrakte erhalten geblieben. Sie erlauben es, die Entwicklung seines Denkens vom Januar 1787, dem Monat, in dem die Tagebuchaufzeichnungen eingestellt wurden, bis zum September 1788 zu rekonstruieren, dem Monat, in dem Hegel den letzten überlieferten Auszug aus den Aufzeichnungen dieser Zeit schrieb.(101)
Während die intellektuellen Fortschritte in der ersten Phase von dem jungen Mann im Tagebuch festgehalten wurden und somit durch die Lektüre dieser Quelle rekonstruiert werden können, wurden die Fortschritte in dieser zweiten Phase von ihm durch Auszüge aus den von ihm gelesenen Werken sozusagen schriftlich "festgehalten".
Der Grund dafür, d.h. für die unterschiedliche schriftliche Form, in der Hegel seinen geistigen Fortschritt von Zeit zu Zeit festhielt, liegt nicht in zufälligen oder psychologischen Gründen, wie etwa der Reifung und dem späteren Verzicht auf den Gebrauch eines Tagebuchs, sondern in der immanenten Dialektik der Entwicklung seines eigenen Denkens.
Die introspektive Form des Tagebuchs war für Hegel in Ordnung, solange er seine eigenen Reflexionen über seine Umgebung sammeln und sein eigenes Urteil über diesen Bereich seiner alltäglichen Erfahrung bilden und ausdrücken musste. Gerade dieses beobachtende und zugleich wertende Vorgehen veranlasste Hegel in den Jahren 1786-1787, sich ein eigenes Urteil über die Gesellschaft der Zeit zu bilden (natürlich nach seinem eigenen, begrenzten geographischen Horizont) und in der Lehre von der Aufklärung des gemeinen Mannes die Lösung für das zu sehen, was ihm als das größte Problem der Zeit erschien, nämlich das Fortbestehen des populären Aberglaubens trotz der stattgefundenen Aufklärung.
Mit dieser Schlussfolgerung und der weiteren Überlegung, zunächst die Modalitäten der Aufklärung des gelehrten Menschen zu untersuchen und dann zum Verständnis der Modalitäten der Aufklärung des einfachen Menschen überzugehen, wurde eine neue Phase in der Entwicklung des Hegelschen Denkens eingeleitet. Sie besteht nicht, wie die erste, darin, die Welt der Gegenwart zu beobachten und zu beurteilen und sich so ein moralisches Ideal zu bilden, sondern darin, die Welt der Vergangenheit zu studieren und durch sie die grundlegenden Funktionsweisen der menschlichen Gesellschaft zu verstehen. Nur so konnte Hegel tatsächlich die grundlegenden Merkmale der Aufklärung des gelehrten Menschen durch die Wissenschaften und Künste verstehen. Die Jahre 1787-1788 sind also von eingehenden Lektüren zu verschiedenen Aspekten der menschlichen Gesellschaft, insbesondere der Vergangenheit geprägt.(102)
Betrachten wir nun die einzelnen Stufen seines geistigen Fortschritts.
Einteilung der zweiten Phase
Diese Phase teilt sich in drei Stadien:(103)
Philologische Situation der Quellen und ihre Datierung
Leider, wie wir sehen werden, fiel die Hand der Zensur schwer auf diese sehr wichtige Periode in der Entwicklung des jungen Philosophen, der in seinen ersten Universitätsjahren intellektuell an den zeitgenössischen revolutionären Ereignissen in Frankreich teilnahm und sich sogar mit der Stiftsgemeinschaft französischer Studenten (aus Colmar und Montbéliard) anfreundete. Wir wissen, dass Hegel zusammen mit Hölderlin und Schelling offen auf der Seite der revolutionären Kräfte stand, und wir können uns gut vorstellen, welchen Tenor seine Schriften und Lesarten der Zeit hatten. Leider ist davon fast nichts mehr übrig. Die Schriften aus den Jahren von 1789 bis 1792, den frühen Universitätsjahren, den prägendsten, in denen er zweifellos so viele eigene Aufsätze und ausführliche Auszüge aus den vielen Lesungen, die er zweifellos gemacht hat, geschrieben hat, sind verloren gegangen oder, vielleicht besser gesagt, zerstört worden. Dank verschiedener Zeitzeugenberichte und spezifischer Studien, die in jüngster Zeit durchgeführt wurden, ist es heute jedoch möglich, ein Bild des intellektuellen Fortschritts zu rekonstruieren, den Hegel selbst in diesen Jahren machte, die von den Kritikern zu Recht als "obskur" bezeichnet wurden, eben weil es fast keine Primärquellen gab. Nichtsdestotrotz scheinen diese Jahre für ihn von großer Bedeutung gewesen zu sein.(105) So ergibt sich ein sehr interessantes Bild, das aus der Geburt von Hegels monistischer und naturalistischer Konzeption besteht, die in den folgenden Jahren die Grundlage seines Denkens bleiben sollte.
Dank der in Einfluß durchgeführten Untersuchungen kann man jedenfalls zu dem Schluss kommen, dass Hegel in den Jahren 1789-1792 durchaus Rousseaus Emile gelesen hat und von ihm entscheidend beeinflusst wurde. Diese Lektüre muss es ihm ermöglicht haben, den Übergang vom Verständnis der Aufklärung des gelehrten Menschen zum Verständnis der Aufklärung des einfachen Menschen zu vollziehen. In der Tat wird das Rousseau’sche pädagogisch-moralische Modell des natürlichen Menschen von diesem Moment an auch zum Hegel’schen pädagogisch-moralischen Modell.
Den einfachen Menschen aufzuklären bedeutet für Hegel, von dieser Stufe seiner geistigen Entwicklung ausgehend, ihn so zu erziehen, dass er sich natürlich verhält, d.h. gemäß jener Harmonie zwischen Innen und Außen, zwischen dem Ganzen und den Teilen, die die Entwicklung eines jeden natürlichen Organismus auf metaphysischer Ebene und auf der historisch-kulturellen Ebene der antiken, insbesondere der griechischen, Zivilisation im Gegensatz zur modernen Zivilisation kennzeichnet.
Mit der Anwendung der Kategorie der Natürlichkeit auf das Problem der Aufklärung des einfachen Menschen schließt sich also der dialektische Kreis dieser zweiten Phase und öffnet sich gleichzeitig der der dritten. In der Tat stellt sich für Hegel an dieser Stelle die Frage, wie ein solches natürliches Verhalten beim einfachen Menschen gefördert werden kann.
Die Antwort auf diese Frage markiert zugleich die dialektische Rückkehr zur ersten Phase, d.h. zum Moment der Affirmation, die mit der Formulierung der Frage nach der Aufklärung des einfachen Menschen gerade abgeschlossen war.(106)
Vom Herbst 1792 an sind glücklicherweise seine Schriften überliefert, die sich - wie es der Zufall will - ab diesem Zeitpunkt mit religiösen Themen befassen. Wir werden jedoch sehen, dass den philosophisch-religiösen Überlegungen der Jahre 1792-1794 eine monistische und naturalistische Philosophie zugrunde liegt, die das Ergebnis der Rezeption des Denkens von Rousseau ist und in den "dunklen Jahren" unmittelbar vor dem Herbst 1792 entwickelt wurde.
Glücklicherweise sind uns ab Herbst 1792 seine Schriften wieder überliefert worden, und sie beziehen sich nicht zufällig fast ausschließlich auf religiöse Themen.
DIGITALE BIBLIOGRAFIE
José María Ripalda: Gedichte und Politk beim frühen Hegel
Marco de Angelis: Die Rolle des Einflusses von J.-J. Rousseau auf die Herausbildung von Hegels Jugendideal. Ein Versuch, die ’Dunkle Jahre’ (1789-1792) sein Jugendentwicklung zu erhellen (1995)
Marco de Angelis ( Rezensionzu ’Einfluß’)
*
1.2.1
ERSTES STADIUM
Die Rezeption der Kategorie ’Natürlichkeit’
als Grundlage einer ausgeglichenen Aufklärung
sowie derer Anwendung auf das Gebiet der Wissenschaften und Künste
Zeitlicher Rahmen: 7. Januar 1787 - 16. August 1787
Hauptquelle: Exzerpte
Der Eintrag vom 22. März 1786 und die Textpartie ohne Datum sind die letzten erhaltenen Tagebucheinträge, in denen sich eine Entwicklung in Hegels Gedanken bemerken lässt. Die weiteren Einträge, die wir besitzen, bis zum letzten vom 7. Januar 1787 enthalten keine weitere Spur eines Fortschritts in Hegels geistiger Entwicklung, sondern lediglich bloße Informationen über seine damaligen Studien. Diese betrafen hauptsächlich die griechischen sowie lateinischen klassischen Autoren und die Trigonometrie. Mit dem Eintrag von 7. Januar 1787 schloss Hegel das Tagebuch anscheinend ab.
Wenn man die chronologische Folge der Manuskripte aus dieser Zeit durchschaut, zeigt sich deutlich, dass er sich ab dem 22. März 1786 zunehmend mit Lektüren und Exzerpten beschäftigt hat, wie er selber in den letzten Tagebucheinträgen berichtet. Das heißt sicherlich nicht, dass er aufgehört hat, seine freien Gedanken niederzuschreiben sowie Aufsätze zu verfassen, wie er am 1. Januar 1787 berichtet:
„Einige Zeit wende ich auch auf die Ausarbeitung kleiner Aufsätze und Niederschreibung meiner Gedanken“.
Es scheint aber, dass die Arbeit am Exzerpieren allmählich immer mehr zunimmt und im Jahr 1787 Hegels Haupttätigkeit wird.
Man kann also sagen, dass die drei Haupttätigkeiten in Hegels frher Bildungsphase, das Niederschreiben von freien Gedanken im Tagebuch, das Lesen und Exzerpieren und das Verfassen von Aufsätzen, immer gleichzeitig von ihm betrieben wurden, allerdings, dem Stadium seiner Gedankenentwicklung entsprechend, mit wechselndem Gewicht, und insbesondere wurden von ihm neue Schritte in seiner Gedankenentwicklung durch die jeweilige Haupttätigkeit vollzogen. In dieser zweiten Phase seiner geistigen Entwicklung, in dem er sich überwiegend mit der Untersuchung der Aufklärung durch die Wissenschaften und die Künste beschäftigte, scheint er sich insbesondere dem Exzerpieren gewidmet zu haben. In den Exzerpten sind deshalb auch seine gedanklichen Fortschritte zu suchen.
Es gibt auch einen Grund dafür, warum Hegel seine gedanklichen Fortschritte in der zweiten Phase seiner Entwicklung durch Exzerpieren verwirklichen konnte. Er war jetzt im wesentlichen nicht mehr mit der Beobachtung der um ihn lebenden Menschen oder mit seinen subjektiven, psychologisch-moralisch-pädagogischen Überlegungen beschäftigt, sondern eher mit dem objektiven Studium der Wissenschaften und der Künste auf der Suche nach dem richtigen Begriff der Aufklärung. Es ist klar, dass er das nur durch diesbezügliche Lektüre tun konnte. Die Exzerpte betreffen genau diese Lektüre und sind deshalb das Zeugnis für Hegels Weg auf dieser Suche.
Es ist in der Tat sehr interessant, in der chronologischen Folge der Exzerpte zu beobachten, wie diese bis zum Oktober 1786 hauptsächlich noch Hegels psychologisch-moralisch-pädagogisch gerichteten Überlegungen über den Begriff der Glückseligkeit zuzuordnen sind (s. S. 43, Fußnote 40), während er ab Dezember 1786 mit dem Exzerpt „Von der Gelehrsamkeit der Ägypter“ anscheinend zu den mehr theoretisch-objektiven Überlegungen über die Aufklärung durch die Wissenschaften und die Künste übergeht.(107)
Wie schon oben dargelegt, ist die Zeit zwischen Oktober und Dezember 1786 der Zeitraum gewesen, in dem Hegels Überlegungen über den Begriff der Glückseligkeit, die ihren Ausgangspunkt in dem Tagebucheintrag vom 22. März 1786 gehabt hatten, dem Nachdenken über den Begriff der Aufklärung Platz machen. In den Exzerpten. die er ab dem 23.12.1786 schrieb, ist Hegel überwiegend mit der Festsetzung des Begriffs der Aufklärung beschäftigt. Das Ziel seiner Suche erreicht er in dem Exzerpt aus Mendelssohn vom 31. Mai 1787(108) und insbesondere in dem Exzerpt aus Nicolais „Beschreibung einer Reise durch die Schweiz“ vom 16. August 1787 sowie dessen Fortsetzung vom 23.08.1787.(109) Diese zwei Exzerpte hängen eng zusammen, und das zweite war in Hegels Gedankengang die logische Fortsetzung und Vervollständigung des ersten.
Exzerpt aus Moses Mendelssohn
In dem ersten Exzerpt wird von Mendelssohn das Verhältnis zwischen Bildung, Kultur und Aufklärung untersucht. Alle drei sind nach ihm „Modificationen des geselligen Lebens“.(110) Die Bildung schließt in sich die Kultur und die Aufklärung ein. Die Kultur ist mehr die praktische, die Aufklärung mehr die theoretische Seite der Bildung. Die äußerliche Seite der Kultur ist die „Politur“. Die Bildung eines Volkes wird an der Harmonie des geselligen Zustands mit der Bestimmung des Menschen gemessen.(111) Die Bestimmung des Menschen lässt sich einteilen in Bestimmung des Menschen als Mensch und Bestimmung des Menschen als Brger. Die Kultur und die ’Politur’ sind von Stand und Beruf des Menschen abhängig; die Aufklärung, im Gegensatz dazu, „ist allgemein ohne Unterschied der Stände“.(112) Sie bezieht sich auf den Menschen als Mensch. Zwischen Menschen-Aufklärung und Bürger-Aufklärung soll Harmonie herrschen. Der Staat, in dem diese Harmonie nicht erreicht wird, ist unglücklich.(102) Aufklärung und Kultur können beide degenerieren.(113) Wenn sie aber „mit gleichen Schritten fortgehen“, schützen sie sich gegenseitig vor Degeneration (Korruption) und ermöglichen eine optimale Bildung einer Nation, die ihrerseits den Grad der Nationalglückseligkeit bestimmt. Wenn der höchste Gipfel der Nationalglückseligkeit durch die Bildung erreicht worden ist, kommt eine Nation äin Gefahr zu stürzen, weil sie nicht höher steigen kann“.(114)
Wichtig in diesem Exzerpt sind folgende Punkte:
- In erster Linie überhaupt die Fragestellung bezüglich des Verhältnisses zwischen Aufklärung und Glückseligkeit und ihre Transposition auf das soziale Niveau als Verhältnis zwischen Bildung (Kultur + Aufklärung) und Bestimmung des Menschen;
- In zweiter Linie der Schluss, zu dem Mendelssohn in diesem Zusammenhang kommt, d.h. die Abhängigkeit der Glückseligkeit eines Volkes von seiner Bildung und insbesondere von dem von ihm erreichten Verhältnis zwischen Kultur und Aufklärung bzw. zwischen Bestimmung des Menschen als Mensch und als Bürger. Nur wenn dieses Verhältnis harmonisch ist, ist das Volk glücklich. Die Glückseligkeit der Menschen wird also von Mendelssohn auf diesen Seiten als etwas Gesellschaftliches und nicht als etwas Individuelles dargestellt: da Bildung, Kultur und Aufklärung ’Modifikationen des geselligen Lebens’ sind, gehört auch ihre Wirkung, die ’Nationalglückseligkeit’, in den Bereich des Geselligen, Sozialen.
Exzerpt aus Christoph Friedrich Nicolai
In diesem Exzerpt bleibt aber ungeklärt, nach welchen ’Schritten’ die Aufklärung und die Kultur fortgehen sollen, um eine richtige Form der Bildung zustande zu bringen, d.h. wie ihre Harmonie zustande kommen kann. Die Antwort auf diese Frage konnte Hegel in dem Exzerpt aus Nicolai vom 16.08.1787 finden.
In diesem Exzerpt wird genau die Hauptfrage des richtigen Verhältnisses zwischen Aufklärung und Kultur behandelt:
„Cultur und Aufklärung sind beide mächtige Triebfedern zum Wohlstand einer Nation: beide müssen [vereint] wirken, beide müssen im gehörigen Verhältnis untereinander, im gehörigen Verhältnis mit der jedesmaligen Masse der Thätigkeit und der Denkungsart einer Nation wirken; widrigenfalls wird ihre Wirkung weder sicher noch dauerhaft seyn.“(115)
Die Kultur „bezieht sich“ nach Nicolai
„auf die ganze Masse der Thätigkeit einer Nation“
(Künste, Handwerke, Sitten usw.), während die Aufklärung
„Nachdenken über alle Gegenstände des menschlichen Lebens, insofern sie Einfluß auf das Wohl eines jeden Individuums und auf das allgemeine Wohl haben.“(116) ist.
Die Kultur und die Aufklärung einer Nation sollen sich in einer Harmonie untereinander und mit den anderen Aspekten des Lebens der Nation befinden, um ihre Aufgabe als „Triebfedern zum Wohlstande einer Nation“ zu erfüllen. Wenn das nicht der Fall ist, dann degenerieren sie. Die Kultur degeneriert zu ’Politur’, wenn sie nur etwas Äußerliches ist; die Aufklärung degeneriert zu Dünkel, wenn das Nachdenken die Denkfähigkeit übersteigt.
Der Maßstab, der als Vorbild für das richtige Verhältnis und den richtigen Grad von Kultur und Aufklärung einer Nation gelten kann, ist nach Nicolai das Fortschreiten der Natur:
„Die Natur geht Schritt für Schritt, hat keine Wirkung ohne Ursachen, und in ihr wird jede Wirkung nothwendig wieder zu einer neuen Ursache, die wieder Wirkung hervor- bringt; und so geht sie beständig fort“ und „geht [...] ihren Weg und bringt nicht mehr Wirkungen als Ursachen vorhanden sind.“(117).
Das Fortschreiten der Natur kennt nach Nicolai also kein Zuviel, nichts Unechtes und nichts Falsches; „die Einbildungskraft“ dagegen
„springt, schafft nach Belieben, will Wirkungen haben, ehe die Ursachen da sind, sieht nichts, wie es ist, sondern wie sie es gern haben wollte [...].“(118)
Diese Gedanken, die Hegel aus Nicolais Beschreibung exzerpiert, sind sehr wichtig, da sie auf seinen Geist tief einwirkten und ihm die Hauptkategorie zur Verfügung stellten, auf die er ab diesem Zeitpunkt seine Denkweise gründete. Es handelt sich um die Kategorie der Na- türlichkeit bzw. des Natürlichen, d.h. um das Spezifikum der Natur, ihr Fortschreiten, die besondere Art und Weise ihrer Entwicklung.
Dank dieser Kategorie und der Untersuchung der Aufklärung durch die Wissenschaften und die Künste ist Hegel in den Besitz eines richtigen Begriffs der Aufklärung gekommen. Die Aufklärung, d.h. die Vernunft, darf nicht gegen die Natur gerichtet sein, sondern soll ihr folgen. Die Natur wird also für Hegel zum Maßstab der Aufklärung und der Vernünftigkeit. „Vernünftig“ zu sein bedeutet für ihn das gleiche wie „natürlich“ zu sein. Die Kategorie der Natürlichkeit wird für ihn ab diesem Zeitpunkt auch der Maßstab für das richtige Verhältnis zwischen dem Inneren und dem Äußeren, dem Inhalt und der Form, ein Maßstab der verhindern kann, dass etwas aus seinem richtigen Verhältnis gerät und degeneriert.
Die Natürlichkeit bekommt als Maßstab der Harmonie einen metaphysischen Wert, der nicht nur die unmittelbar folgenden Jahre der Jugendentwicklung Hegels prägen wird (man denke an Hegels Tübinger Bild des harmonischen Lebens der Griechen), sondern auch die Hauptkategorie bildet, auf die sich seine dialektische Logik mit ihrem immanenten, selbstbestimmenden Fortgang und das auf ihr aufbauende philosophische System gründen wird.
Es sei an dieser Stelle ein für alle Male erklärt, dass die Untersuchung der Jugendschriften Hegels, auch seiner sehr frühen Stuttgarter Schriften, nicht als eine Studie von nur historischem Wert, also ohne Relevanz für das Verständnis des späteren Systems Hegels, betrachtet werden darf, sondern die unentbehrliche Voraussetzung zu dessen korrektem, objektivem und letztendlich der Absicht Hegels treuem Verständnis ist. Eine Interpretation des Systems Hegels ohne die Rekonstruktion von dessen Entstehung kann nur unvollständig, wenn nicht sogar fehlerhaft sein. Nur aus der Entwicklungsgeschichte Hegels heraus ist es möglich, den Ursprung und damit die echte Bedeutung der Hauptbegriffe seiner Weltanschauung zu rekonstruieren, d.h. die Bedeutung, die sie „an sich“), aufgrund ihrer Selbstentwicklung haben, wie Hegel methodologisch gelehrt hat, und nicht die Bedeutung, die wir ihnen „für uns“, „von außen“ zuschreiben wollen.(119)
In diesem Zusammenhang soll noch ergänzt werden, dass den Stuttgarter Schriften bisher selten ein theoretischer Wert zugeschrieben worden ist. Eine originelle, für das spätere System bedeutende Entwicklung des Denkens Hegels ist von vielen Kritikern erst ab der Tübinger Zeit in Betracht gezogen worden.(120) Die bisher hier durchgeführte Rekonstruktion der Gedankenentwicklung Hegels in den Stuttgarter Jahren hat aber gezeigt, dass Hegel die Stellung der Hauptfrage seiner Philosophie und die Gewinnung der zu deren Lösung notwendigen Hauptkategorie am 16.08.1787, d.h. ein gutes Jahr vor seinem Eintritt in das Tübinger Stift, schon hinter sich hatte. Die Stuttgarter Schriften Hegels sind deshalb keinesfalls nur die ersten kulturellen Schritte und Versuche eines begabten Gymnasiasten; Ganz im Gegenteil ist in ihnen schon der spätere Philosoph tätig, der am Anfang seiner Geistesentwicklung mit der Ausarbeitung seiner philosophischen Fragestellung und der Erfassung der Grundlagen seiner Weltanschauung und seines künftigen, von ihm sicher zur damaligen Zeit noch nicht geahnten Systems beschäftigt ist.(121)
In dieser Hinsicht sei noch bemerkt, dass es also nicht ’zwei oder mehrere Hegel’ gibt, also den Stuttgarter, den Tübinger usw. und dazu dann „den endgültigen Hegel“ des Systems (welches?), sondern nur einen Hegel, dessen Geistesentwicklung verschiedene Stadien kontinuierlich durchläuft und schließlich im System gipfelt. Von diesem streng entwicklungsgeschichtlichen Standpunkt aus wäre deshalb eine Rekonstruktion des Denkens des jungen Hegel ohne die Verbindung zum System ’blind’ und die Interpretation des Systems ohne die Rekonstruktion von dessen Entwicklung ’leer’.(122)
*
1.2.2
ZWEITES STADIUM
Die Anwendung der Kategorie der Natürlichkeit
auf die Wissenschaften und Künste
Zeitraum: 16. August 1787 - 7. August 1788
Hauptquelle: Schulaufsätze
Einleitende Bemerkungen
Die zweite Stufe dieser Phase der Entwicklung des Denkens Hegels wird von der Problematik der Frage nach der Aufklärung auf dem Gebiet der Wissenschaften und Künste doniniert. Die andere Frage, die viel komplexer und Hegels Grundinteresse innewohnt, nach der Aufklärung des ’gemeines Mannes’ bleibt zunächst im Hintergrund. Die Aufklärung des gelehrten Menschen wird vom jungen Philosophen vor allem durch das Lesen der damaligen Zeitschriften vertieft, aus denen er die Artikel transkribierte oder zusammenfasste, die ihn am meisten interessierten. Glücklicherweise sind viele dieser Exzerpte erhalten. Sie erlauben es uns, die Entwicklung seines Denkens von Januar 1787, dem Monat, in dem das Schreiben des Tagebuchs unterbrochen wurde, bis September 1788 zu rekonstruieren.(125)
Während der intellektuelle Fortschritt in der ersten Phase von ihm im Tagebuch vermerkt wurde und daher durch Lesen dieser Quelle rekonstruiert werden kann, wurde der Fortschritt in dieser zweiten Phase sozusagen vom jungen Studenten in schriftlicher Form durch Auszüge aus den gelesenen Werken „synthetisiert“. Der Grund dafür, nämlich die unterschiedliche Schriftform, in der Hegel von Zeit zu Zeit seinen intellektuellen Fortschritt aufzeichnete, liegt nicht in zufälligen oder psychologischen Gründen, wie zum Beispiel. seine Reifung und die konsequente Aufgabe der Verwendung eines Tagebuchs, sondern in der immanenten Dialektik der Entwicklung seines eigenen Denkens. Die introspektive Form des Tagebuchs passte zu Hegel, solange er seine eigenen Reflexionen über die Mitmenschen um sich herum sammeln und sein Urteil über diesen Bereich seiner täglichen Lebenserfahrung formen und ausdrücken musste. Gerade dieses Beobachtungs- und zugleich Beurteilungsverfahren veranlasste Hegel in den Jahren 1786-1787, sich ein eigenes Urteil über die damalige Gesellschaft zu bilden (offensichtlich nach seinem eigenen, begrenzten geografischen Horizont). Er sah im Projekt einer ’Aufklärung des gemeinen Mannes’ die Lösung dessen, was ihm das größte Problem der Zeit erschien, nämlich das Überleben des Aberglaubens trotz der Aufklärung. Sobald er zu diesem Schluss kam, eröffnete sich eine neue Phase in seiner Entwicklung. Diese Phase bestand nicht mehr darin, die Welt der Gegenwart zu beobachten und zu beurteilen und hierdurch ein moralisches Ideal zu bilden, sondern darin, die Welt der Vergangenheit zu vertiefen, um dadurch die grundlegenden Aspekte der menschlichen Gesellschaft zu verstehen. Nur so konnte Hegel tatsächlich die Hauptmerkmale der Aufklärung durch die Wissenschaften und Künste begreifen. Die Jahre 1787-1788 sind daher geprägt von eingehenden Lektüre zu verschiedenen Aspekten der menschlichen Gesellschaft, insbesondere der Vergangenheit.(126)
Die Natürlichkeit der alten Dichter
Nachdem Hegel die Kategorie der Natürlichkeit als Maßstab für ein richtiges Verhältnis zwischen dem Inneren und dem Äußeren, dem Inhalt und der Form und als Maßstab einer richtigen, zur individuellen und sozialen Glückseligkeit führenden Aufklärung rezipiert hatte, konnte er seinen Mangel an einem ’gründlichen und philosophischen Studium der Geschichte’ beseitigen. Das heißt nicht, dass er die Geschichte ab diesem Zeitpunkt systematisch zu studieren begann, sondern dass er über das geschichtliche Material, das er bisher gesammelt hatte und das er in diesen Monaten weiter sammelte, nachdachte und zu einer gesamten, philosophischen Interpretation der Geschichte kam. Das gelang ihm, eben weil er jetzt endlich über eine Kategorie verfügte, auf die er sein philosophisches Urteil gründen konnte.
Bei der Gewinnung einer philosophischen Interpretation der Geschichte bleibt Hegel noch auf dem Niveau der Wissenschaften und der Künste und kommt noch nicht zu dem Niveau der ’Aufklärung des gemeinen Mannes’ zurück. Er untersucht die Geschichte der Dichtkunst in der Form eines Vergleichs zwischen der Kunst der alten und der neueren Dichter, damals ein Hauptthema der Intellektuellen(127). Er tat dies aber mit dem Ziel, seine eigenen philosophischen Fragen zu klären und nicht an der damaligen Debatte teilzunehmen.
Schulaufsatz: "Über einige charakteristische Unterschieden der alten Dichter (von den neueren)"
Zu diesem Thema schrieb er insbesondere zwei Aufsätze "Über einige charakteristische Unterschiede der alten Dichter (von den neueren)" vom 7. August 1788 (128) und, weniger bedeutsam, "Über einige Vortheile, welche uns die Lektüre der alten klassischen griechischen und römischen Schriftsteller gewährt vom Dezember 1788.(129) Dieser zweite Aufsatz gehört aber nicht zu diesem Stadium, da es sich deutlich nachweisen lässt, dass der Höhepunkt dieses Stadiums, also der Gedanke, der dessen Wesen bildet, von Hegel durch den ersten Aufsatz voll erreicht wird. Dieser Aufsatz kann deshalb keinen weiteren Fortschritt in der Problematik von Hegels geistiger Entwicklung in diesem Zeitabschnitt enthalten. Was seine Rolle innerhalb der Entwicklung Hegels betrifft, ergeben sich deshalb zwei Möglichkeiten: Entweder enthält er eine bloße Wiederholung der Gedanken, die schon in dem ersten Aufsatz enthalten sind, oder er enthält neue Gedanken, die schon auf ein neues Stadium bzw. auf eine neue Stufe hinweisen können. Wir werden uns damit also später befassen, wenn uns mit den Schriften beschäftigen werden, die Hegel vom 7.8.1788 bis Ende August 1792 verfasst hat.
Während der fünfzehn Monate zwischen dem Exzerpt aus Nicolai und dem ersten dieser Aufsätze hat Hegel offensichtlich die Kategorie der Natürlichkeit aufgenommen und verarbeitet. Nach dieser notwendigen ’Inkubationszeit’ war er endlich bereit, sie zur Interpretation der Geschichte der Kunst anzuwenden.
Der Hauptgedanke des Aufsatzes von 7.8.1788 ist, dass die alten Dichter mit ihren Werken einen größeren Erfolg und einen tieferen Einfluß (130) auf das Volk hatten als die neuen (GW 1, S. 46,1:
„In unsern Zeiten hat der Dichter keinen so ausgebreiteten Wirkungskreis mehr“.
Den Grund dafür sah Hegel darin, dass sie ihre poetische Kunst in einer spontaneren Art schufen:
„Eine vorzüglich auffallende Eigenschaft der Werke der Alten ist das, was wir die Simplicität nennen, die man mehr fühlt, als deutlich unterscheiden kann“ (GW 1, S. 46,22-23).
Das Hauptmerkmal ihrer Kunst war also die Simplizität, die, wie Hegel sich ausdrückt, darin besteht,
„dass die Schriftsteller uns das Bild der Sache getreu darstellen“ (GW 1, S. 46,24-25).
Sie waren originell, und nach Hegel „mußten sie Original sein“ (GW 1, S. 47,2), weil sie ihre Ideen, Empfindungen und Vorstellungen unmittelbar von der Natur (GW 1, S. 48,14- 16) und von der Erfahrung(131) und nicht von anderen Menschen bzw. Kulturen schon vorbereitet und ausgearbeitet(132) bekamen. Sie waren treu an der „Sache selbst“(133), wie Hegel sich sehr bemerkenswert schon in diesem frühen Aufsatz ausdrückt, da sie den Inhalt ihres Geistes spontan zum Ausdruck brachten, ohne (das Bild der Sache)
„durch feine Nebenzüge, durch gelehrte Anspielungen interessanter oder durch eine kleine Abweichung von der Wahrheit es glänzender und reizender zu machen, wie wir heut zu Tage fordern“(134).
Mit einem Wort kann man sagen, dass die Alten ’natürlich’ waren, dass sie ihre Kunst unbewußt nach dem Prinzip der ’Natürlichkeit’ geschaffen haben(135). Infolgedessen hatten die Alten einen ausgebreiteten Wirkungskreis und deshalb Erfolg und Einfluss auf das Volk(136), wenngleich sie, im Ge- gensatz zu den Neuen,
„ohne Rücksicht auf ein Publicum ihre Werke verfertigten“ (GW 1, S. 47,25-26).
Anders als bei den Alten „[...] sind die Begriffe und die Cultur der Stände zu sehr verschieden, als dass ein Dichter unserer Zeit sich versprechen könnte, allgemein verstanden und gelesen zu werden“ (GW 1, S. 46,11-13).
Es ist interessant, dass Hegel hier zum ersten Mal seit 1786, aus welchem Jahre die Textpartie höchstwahrscheinlich stammt, bzw. auf jeden Fall seit dem dritten Stadium der ersten Phase seiner Jugendentwicklung wieder auf den Begriff des ’gemeinen Mannes’ zurückkommt. Das heißt, dass er sich anschickte, die Perspektive der Aufklärung durch die Wissenschaften und die Künste, die auf den Stand der Gelehrten beschränkt ist und worauf er seine Untersuchungen und Überlegungen zunächst noch konzentrierte, zu verlassen und zu der eigentlichen Perspektive seines ursprünglichen moralischen Hauptinteresses, d.h. zu der Perspektive der Aufklärung des gemeinen Mannes, zurückzukehren.
Sehr bemerkenswert sind in diesem Aufsatz noch zwei Aspekte: seine Analyse der Sprache, insbesondere sein Interesse für die altgriechische und die lateinische Sprache, und der Einfluss Lessings.
Es ist schon bemerkt worden, wie das Interesse des jungen Hegel für die alten Sprachen neben seinem moralischen Hauptinteresse eine wichtige Stelle in dieser Zeit einnimmt. Bemerkungen und Überlegungen über die altgriechische und die lateinische Sprache sowie über den Begriff der Sprache selbst sind überall in Hegels Tagebuch zu finden, wie es in dieser Studie schon gezeigt worden ist. Das gleiche gilt für die Exzerpte zu diesem Thema. In dieser Phase seiner Entwicklung bekommt aber Hegels Nachdenken üüber Sprache eine besondere Bedeutung, weil er die Kategorie der Natürlichkeit auf den Begriff der Sprache anwendet. Seine Überlegungen üüber die Sprache bringen ihn auf den Gedanken, dass es vorteilhaft sei, wenn man sich in einer Sprache ausdrücken könne, die man selber gebildet und nicht von außen bekommen habe. Da das heute nicht mehr möglich ist, weil die Menschen gezwungen sind, im Verlauf ihrer Erziehung die Sprache und deren Inhalt schon vorbereitet zu erlernen, wäre wenigstens sehr wichtig, sich die ursprüngliche, echte Bedeutung der Wörter anzueignen, wie es in dem Exzerpt aus Kistenmaker vom 18. März 1788 zu lesen ist.(137)
Da dieses Exzerpt von Hegel genau in der Zeit zwischen dem Exzerpt aus Nicolai (16.08.1787) und dem Aufsatz Über einige charakteristische Unterschiede (07.08.1788) abgeschrieben worden ist, kann man seinen Einfluss auf ihn nicht ausschließen. Man könnte ihn darin sehen, dass diese Lektüre dazu beigetragen hat, dass Hegels Überlegungen über die Sprache, die bisher eine sekundäre Rolle in seinem Denken gespielt hatten, sich mit der Hauptrichtung seiner Überlegungen verbanden und eine Unterstützung zur Entstehung seiner philosophischen Interpretation der Geschichte von der Seite der Geschichte und der Philosophie der Sprache her leisteten.
Was Lessings Einfluss auf den jungen Hegel betrifft, ist sehr wichtig, dass in diesem Aufsatz zum ersten Mal der Satz aus Lessings Nathan vorkommt, der von Hegel danach oft zitiert wurde und der mit Sicherheit auch seine eigenen Gedanken ausdrückte.(138) Der begriffliche Inhalt dieses Satzes knüpft an den Begriff der Natürlichkeit (Simplizität, Originalität) an. Er besitzt einen allgemeinen Wert, d.h. er ist nicht unbedingt an die Interpretation der Kunst oder der Sprache gebunden, sondern er betrifft die Bildung des menschlichen Geistes im Allgemeinen. Vorbild jeglicher Bildung ist eine natürliche bzw. originale Bildung. Eine Bildung, die auf Begriffen beruht, die man nicht selber gebildet hat und deren Inhalt man nicht versteht, ist dagegen als ’tote’, ’leere’, ’kalte’ bzw. ’buchstäbliche’ Bildung anzusehen. Man muss hinter diesem Begriff auch eine Kritik der damaligen Bildung sehen, und in diesem Sinne wird dieser Satz von Hegel in den Tübinger Jahren gegen den Unterricht im Stift verwendet. Es handelt sich also um einen zentralen Begriff in Hegels Denken, und es ist diesbezüglich sehr wichtig, Lessings Einfluss auf die Entstehung von Hegels früher, philosophischer Interpretation der Geschichte auf die Zeit zwischen August 1787 und August 1788 festlegen zu können.
Rückblickend kann man also sagen, dass Hegel bis zum 7. August 1788 mit Sicherheit sein Verständnis des Begriffs ’Aufklärung’ vertieft hat. Er hat schon die Kategorie der Natürlichkeit aufgenommen und ist durch den Vergleich zwischen der Kunst der Alten und der Kunst der neueren unter dem Gesichtspunkt jener Kategorie zu einer philosophischen Interpretation der Geschichte gelangt. Nach dieser Interpretation scheint die Bildung des Geistes bei den Alten dem Maßstab der Natürlichkeit entsprochen zu haben, was in der Neuzeit nicht mehr der Fall ist. Infolgedessen scheint Hegel sich ein Bild der Geschichte als Verfall angeeignet zu haben, und dementsprechend scheint er ab diesem Zeitpunkt das Bild des menschlichen Lebens, wie er es bei den Alten und insbesondere bei den Griechen zu erkennen meinte, als sein Vorbild eines natürlichen Lebens betrachtet zu haben.(139)
*
1.2.3
DRITTES STADIUM
Die ‚dunklen Jahre‘ und die Anwendung der Kategorie der Natürlichkeit
auf die „Aufklärung des gemeinen Mannes“
Zeitlicher Rahmen: 7. August 1788 - 10. Januar 1792
Hauptquellen: Es sind leider nur wenige Widmungen
und kleine Berichte überliefert worden.
*
Hauptbegriff des neuen Stadiums
Die dritte Stufe dieser zweiten Phase in der Entwicklung des Denkens des jungen Hegel ist gekennzeichnet durch die Anwendung der Kategorie der Natürlichkeit auf das spezifische Feld der Aufklärung des einfachen Menschen. Hegel musste auf einem Nebenweg vorgehen, nämlich die Anwendung der Kategorie der Natürlichkeit auf den Bereich der Wissenschaften und der Künste, weil er sich auf dem Gebiet der menschlichen Beziehungen noch zu jung und vor allem zu unerfahren fühlte, um direkt zum Verständnis der Modalitäten der Aufklärung des "gemeinen Mannes" übergehen zu können.
Nachdem er aber diese Operation der Anwendung der Kategorie der Natürlichkeit auf das Gebiet der Wissenschaft und der Künste durch die historische Reflexion über den Unterschied zwischen der Dichtung der Alten und der Modernen vollzogen hatte, fühlte sich der junge Denker nun am Ende des Studiums an Gymnasium und Realschule und zu Beginn seiner Universitätslaufbahn, also zwischen 1788 und 1789, wenn schon nicht als Experte auf dem Gebiet der menschlichen Beziehungen, so doch zumindest in der Lage, die Geschichte von einem philosophischen Standpunkt aus zu betrachten. Dies war eines der grundlegenden Prinzipien, die er von Beginn seiner Überlegungen an konzipiert hatte, als er um 1785 diese Art der Geschichtsbetrachtung als eine fast erkenntnistheoretische Voraussetzung verstanden hatte, um zu moralischen, ethischen und pädagogischen Schlüssen zu kommen. Die Anwendung der Kategorie der Natür-lichkeit auf den Bereich der Dichtung hatte ihn nun in die Lage versetzt, die Überlegenheit, zumindest in einigen grundlegenden Aspekten des Lebens, der antiken griechischen Zivilisation gegenüber der christlichen Zivilisation zu verstehen. Während nämlich die antiken Dichter ihre Schöpfungen in direktem Kontakt mit der Natur, also spontan und natürlich, erarbeiteten, denken die modernen Dichter im Gegenteil abstrakt über die ästhetischen und literarischen Regeln nach, sie schaffen also aus anderen Schöpfungen und nicht aus der Natur selbst. Aus diesem Grund haben sie den direkten Kontakt mit dem Sein verloren, könnte man aus metaphysischer Sicht sagen. Das Thema der Spaltung des modernen Menschen taucht hier zum ersten Mal auf, und es wird dann im Laufe der weiteren Überlegungen Hegels, zumindest ab den Jenaer Jahren, also etwa zehn Jahre später als die jetzt behandelte Periode, genau die Aufgabe übernehmen, einen möglichen Weg der Versöhnung des Menschen mit der Natur und dem Leben aufzuzeigen.
Philologische Lage der Texte: die ‚dunklen Jahre‘
In der Zeit des Übergangs zwischen dem Stuttgarter Gymnasium Illustre und dem Evangelischen Stift Tübingen, also genau in der Zeit, die wir jetzt untersuchen, macht Hegel diesen Übergang von der Anwendung der Kategorie der Natürlichkeit aus dem Bereich der Wissenschaften der Künste in den Bereich der Ethik, Moral und Pädagogik. Der große Philosoph, auf den er dabei eindeutig bezieht und von dem er sicherlich den größten Einfluss erhält, ist Jean-Jacques Rousseau. Leider haben wir nur sehr wenige direkte Elemente, um diesen Einfluss zu rekonstruieren, da die Schriften dieser Jahre zwischen 1789 und 1792 völlig verloren gegangen sind oder, wie es in der Hegelforschung ausführlich dargelegt wurde, absichtlich zerstört wurden.(140) Es scheint tatsächlich so zu sein, dass Hegels Witwe und ihr Sohn Karl auf-grund des plötzlichen Todes des Philosophen eine Auswahl innerhalb der hinterlassenen Manuskripte trafen und jene Schriften vernichteten, die ein atheistisches, antireligiöses und politisch revolutionäres Bild des Philosophen zu vermitteln drohten. Kurzum, auch nach seinem Tod wurde alles getan, um ein Hegel-Bild zu bewahren, das der preußischen Monarchie und der protestantischen Kirche treu war. Dies ist der Hegel, den sie uns überliefern wollten, aber es ist nicht der einzige Hegel und, wie wir in dieser genetischen und dialektischen Studie seiner Philosophie zu zeigen versuchen, nicht einmal der wirkliche Hegel. Der Hegel, den wir erhalten haben, ist ein Kompromiss zwischen dem wahren, authentischen Hegel, dem, der sich nur aus einer genetisch-dialektischen Untersuchung ergeben kann, und dem Hegel, der für die damalige Gesellschaft erträglich, sozusagen verdaulich, war. Wenn man dies nicht versteht, kann man niemals zu einem objektiven Verständnis seines Denkens gelangen. Nach 200 Jahren der Lügen, Irrtümer und Unwahrheiten ist heute unerlässlich, das authentische Denken Hegels wiederherzustellen.
Diese drei, fast vier Jahre der Entwicklung von Hegels Denken sind in der Hegel-Forschung als die "dunklen Jahre" bezeichnet worden (Ripalda, de Angelis). Und doch müssen es die reichsten Jahre der geistigen Gärung gewesen sein, wenn man bedenkt, dass der junge Mann, als er in das Tübinger Stift eintrat, mit einigen der höchsten Geister der Zeit, wie Schelling und Hölderlin, in Kontakt kam. Ganz zu schweigen von den französischen Studenten, die Nachrichten über die damals stattfindende Revolution ins Stift brachten und mit denen Hegel enge Freundschaften geschlossen hatte, wie die Stammbuchwidmungen bezeugen. dabei handelt es sich um mehrere französische Studenten aus den an Württemberg angrenzenden Städten, insbesondere Colmar und Montbéliard. Sicherlich gehörten sie zusammen mit Schelling und Hölderlin zu jener Gruppe von Studenten, die glühende Anhänger der Revolution waren.
Aus dieser Reihe von Gründen scheint es wirklich unmöglich zu glauben, dass der junge Student, der an ein so strenges Leben gewöhnt war, das sowohl aus Lesungen und Exzerpten als auch aus eigenen Aufsätzen bestand, in denen er über die Entwicklungen seines eigenen Denkens berichtete, in diesen Jahren, die so reich an politischen, philosophischen und geistigen Turbulenzen waren, nichts geschrieben hat. Diese Hypothese ist also unbedingt zu verwerfen, auch weil nach dem Ende des Jahres 1792 wieder eine Reihe von Hegels Aufsätzen zum Thema Religion vorliegt, es also eindeutig ein fehlendes Bindeglied zwischen den Schriften der Stuttgarter Zeit, die sich auf die erste Phase der Entwicklung seines Denkens beziehen, und der dritten Phase, die gegen Ende des Jahres 1792 beginnen wird, gibt.
Es ist daher legitim zu fragen, was in diesen dreieinhalb Jahren passiert sein könnte, das so schwerwiegend war, dass er nicht einen einzigen Artikel schreiben konnte. Es hat nicht den Anschein, dass etwas passiert ist, im Gegenteil, es scheint, dass er eine enorme Menge an Anregungen und Einflüssen hatte. Man muss daher leider den Schlüssen von Dieter Henrich und Ferdinand Becker zustimmen, dass ein Teil des Hegelschen Nachlasses nach dem Tod des Philosophen von seiner Familie freiwillig vernichtet wurde. Sicherlich gehört die gesamte Hegelsche Produktion der Jahre 1789-1790-1791 sowie der ersten Hälfte des Jahres 1792 - die ’dunklen Jahre’ - zu dieser Gruppe von freiwillig vernichteten Manuskripten.
Die ’dunklen Jahre Hegels in der Forschung
Auf die mangelnde Kenntnis dieser Jahre der geistigen Jugendentwicklung Hegels und gleichzeitig auf die enorme Bedeutung dieser Zeit für die Herausbildung seiner Philosophie hatte schon 1965 Henrich in seinem Aufsatz über Leutwein hingewiesen:
„Hegels Jugendgeschichte ist noch nicht hinreichend aufgeklärt worden. Für mehrere Jahre seines Studiums in Tübingen besitzen wir von seiner eigenen Hand keine Dokumente. Denn das erste Manuskript der Schriften, die Nohl herausgegeben hat, entstand im letzten Jahr der theologischen Studien (1792/3), während die Überlieferung aus der Stuttgarter Gymnasialzeit, die nicht ganz spärlich ist, mit einem Aufsatz aus der Zeit endet, in der sich Hegel im theologischen Stift gerade einrichtete. Zwischen beiden hat Hegel eine tiefgehende Wandlung erfahren und den Weg begonnen, der ihm eigentümlich ist. Auf ihm ist er zum Philosophen geworden.“ (S. 39)
Fünfundzwanzig Jahre später hat Ripalda in seinem Aufsatz Aufklärung beim jungen Hegel(141) diese Auffassung noch einmal betont, indem er die Erforschung dieser Jahre als „immer noch ein Desiderat“ bezeichnet hat:
„Vieles bleibt beim frühen Hegel, vor allem in den dunklen Jahren der großen Veränderung zwischen 1789 und 1792, noch zu erforschen; eine Integration der verschiedenen Komponenten - Wissenschaft, Poesie, Politik, Philosophie, Theologie - in den historischen Hintergrund und unter einander ist immer noch ein Desiderat.“ (S. 126)
Ripaldas Kennzeichnung dieser Zeit als die ’dunklen Jahre’ der geistigen Entwicklung Hegels scheint also den aktuellen Stand unserer diesbezüglichen Kenntnis sehr treffend zusammenzufassen.(142)
1. Die Kontinuität von Hegels geistiger Entwicklung in der Zeit von 7. August 1788 bis 10. Januar 1792: die Idee einer aufgeklärten Volksreligion
Bei dem Vergleich zwischen den Hauptgedanken der Zeit von 1785 bis 1788 und denen der Jahre 1792/93-94 zeigt es sich, dass die Zeit 1789 bis 1792 kein Bruch, sondern ein Übergang in Hegels Geistesentwicklung gewesen ist. Das Hauptargument zur Unterstützung dieser These ist, dass Hegel durch sein Ideal der Gründung einer neuen Volksreligion genau die ’Aufklärung des gemeinen Mannes’ erreichen wollte. Die folgenden Textstellen, die sich in der ersten Hälfte und insbesondere im Bogen f Aufklärung - wirken wollen durch den Ver-stand von Text 16 befinden, sind ein Hinweis darauf:
- „Wenn man davon spricht: man kläre ein Volk auf [...]“ (95,1)
- „[...] auch richtige vor der Untersuchung des Verstands standhaltende Säze sind beim gemeinen Volk [...]“ (95,11)
- „[...] - dem Volk seine Vorurtheile nehmen, es aufklären heist also - [...]“ (95,16-17)
- „[...] daß eine Religion, die allgemein fürs Volk seyn soll [...]“ (96,6).
In diesen Textstellen wird sichtbar, dass Hegels Überlegungen nicht mehr das gelehrte Gebiet der Aufklärung durch die Wissenschaften und die Künste, sondern das von der Aufklärung des ’gemeinen Mannes’ betreffen. In der Tat bezweckte Hegel durch das Ideal der Stiftung einer neuen Volksreligion nicht die ’Gelehrten’, sondern das Volk, also den ’gemeinen Mann’ aufzuklären. Dieses Ideal ist also nichts anderes als die Lösung der Frage nach einer Aufklärung des ’gemeinen Mannes’, die die erste Phase abschließt.
Mit der Auffassung, durch die Gründung einer neuen Volksreligion die Aufklärung des ’gemeinen Mannes’ befördern zu können, findet auch die Vermutung des Jahres 1786 eine Bestätigung, dass sich die Aufklärung des ’gemeinen Mannes’ nach der Religion richtet. Das wurde von Hegel dann auch im späteren System für wahr gehalten, wobei es sich dabei um einen erweiterten Sinn des Begriffs ’Religion’ handelt, der in sich auch die Philosophie einschließt.(143)
Der Vergleich zwischen den Inhalten der ersten und der dritten Phase von Hegels geistiger Entwicklung führt also zu dem Schluss, dass er in den Jahren 1792/93-94 einen wichtigen Schritt weiter gegangen ist in der Lösung seiner ursprünglichen Frage der Durchführung einer Aufklärung des ’gemeinen Mannes’. Er hat zwar diese Frage noch nicht gelöst, aber er hat schon begriffen, wie sie zu l”sen sei, nämlich durch die Gründung einer neuen Volksreligion. Hiermit hat er also die not-wendige Grundlage zu deren späterer Lösung gelegt.
Die Erkenntnis der Kontinuität zwischen der ersten und der dritten Phase von Hegels geistiger Entwicklung führt zu der weiteren Frage, wie sich dieser Übergang ereignet hat. Dabei gilt es vor allem zu ver-stehen, mit welchen Gedanken sich Hegel in den Jahren zwischen 1789 und 1792 beschäftigt hat. Hegels Entwicklung bis August 1788 ist mit der Gewinnung des Vorbildes des griechischen Dichters abgeschlossen worden. Damit hat Hegel die Lücke beseitigt, die ihn im Jahre 1786 gehindert hatte, sofort eine Aufklärung des ’gemeinen Mannes’ durchzuführen, d.h. den Mangel an einem ’gründlichen und philosophischen Studium der Geschichte’. Durch die Untersuchung der Aufklärung auf dem Ge-biet der Wissenschaften und der Künste und insbesondere durch den Vergleich zwischen der Kunst der alten und der neueren Dichter ist er zu einer insgesamt negativen Einstellung gegenüber der zeitgenössi-schen Kultur und dagegen zu einer positiven Einschätzung der alten, vor allem der griechischen Kultur gekommen. Dahinter versteckt sich auch eine nicht explizite, aber implizite Auffassung der Weltgeschichte als Verfall. Die altgriechische Kultur wird für den jungen Hegel zum Vorbild einer Gesellschaft, deren Mitglieder natürlich, also in Harmonie mit der Natur und mit sich selbst zu leben wussten.
Mit der Gewinnung dieser Erkenntnis sind Hegels Untersuchungen auf dem Gebiet der Wissenschaften und Künste abgeschlossen. Was man von ihm als nächsten Schritt in seiner geistigen Entwicklung zu erwarten hat, ist also die Anwendung dieser Ergebnisse auf den Begriff des ’gemeinen Mannes’, mit dem Ziel der Durchführung einer Aufklärung desselben. Eine Antwort auf die Frage, ob die Gedankenentwicklung von Hegel in den ’dunklen Jahren’ wirklich hauptsächlich in dieser Anwendung bestanden hat, kann nur von einer Schichtunter-suchung der Texte der dritten Phase kommen.
Die an die ‚dunklen Jahre‘ angewendeten, spefizischen Methode: die Schichtuntersuchung
Wie ist es möglich, auf der Grundlage dieser tragischen philologischen Situation zu verstehen, welchen Schritt vorwärts dieser junge Gelehrte machte, der, wie wir bisher gesehen haben, fast jeden Monat seines Lebens einen Schritt vorwärts machen konnte? Um dies zu erreichen, entschied ich mich, als ich um 1990 mit der Arbeit an dieser Periode der Entwicklung des Hegelschen Denkens begann, für eine Methode, die ich damals "Schichtuntersuchung" nannte. Dies ist die Methode, die zum Beispiel in der Geologie oder auch in der Archäologie angewendet wird, wenn wir im Laufe der Geschichte eine Überschneidung von Zeugnissen über die Existenz einer früheren Zivilisation oder geologischen Epoche haben. Wenn wir die verschiedenen Schichten analysieren, können wir unter einer oberflächlichen Schicht einige tiefere Schichten entdecken, die aus der äußeren Sicht nicht mehr überprüfbar sind, weil sie von der oberflächlichen Schicht be-deckt sind, und deshalb müssen wir, um sie zu verstehen und zu analysieren, genau unter der oberflächlichen Schicht graben und die vorherigen Schichten erreichen.
Wir können diese geschichtete Analyse auf die Geschichte der Philosophie anwenden, insbesondere auf die Geschichte des Hegelschen Denkens, denn zu unserem Glück haben wir eine Fülle von Texten sowohl vor 1789 als auch nach 1792. Wir können also sowohl das Denken vor als auch nach den ’dunklen Jahren’ genau rekonstruieren. Wie können wir aus diesem genauen Wissen vor und nach den dunklen Jahren auf den Inhalt dieser Jahre schließen? Dieser Inhalt wird in jenem Denkinhalt bestehen, der in den Schriften nach 1792 implizit, in den Schriften bis 1789 aber nicht explizit enthalten ist. Es geht also darum, fast eine mathematische Operation zu machen, nämlich von dem Gedankeninhalt, den wir in den Schriften unmittelbar nach 1792 haben, sowohl das abzuziehen, was in diesen Schriften nicht offen thematisiert wird, als auch das, was in ihnen vorhanden ist, aber vom Philosophen nicht in den Texten vor 1789 thematisiert wurde. Das Ergebnis dieser Operation der Subtraktion wird offensichtlich das sein, was der junge Student in der Periode der dunklen Jahre als seine eigene neue Wahrheit ausgearbeitet hatte.
Es gibt aber auch andere Elemente unseres Wissens, die uns bei diesem schwierigen, aber nicht unmöglichen Unterfangen helfen können, Hegels geistige Entwicklung in den dunklen Jahren zu verstehen. Es gibt in der Tat kleine Dokumente wie Widmungen in damaligen Stammbüchern von Hegel und anderen Studenten sowie Zeugnisse von Studenten, die in jenen Jahren zusammen mit ihm in Tübingen waren. All diese Dokumente können uns den philosophischen Inhalt von Hegels Denken in jenen Jahren nicht eindeutig offenbaren, aber sie können als Anhaltspunkte für die spätere eigentliche Schichtungsanalyse betrachtet werden.
Das Zeugnis Leutweins
Das wichtigste dieser Dokumente ist das Zeugnis von Leutwein, einem Studienkollegen Hegels, der später evangelischer Pfarrer in der Region wurde, eigentlich der vorbestimmte Beruf für alle, die das Stift besuchten.
Von Leutwein haben wir das folgende Zeugnis:
„Allein während der vier Jahre unsere Familiarität war Metaphysik Hegels Sache nicht sonderlich. Sein Held war Jean Jacques Rousseau, in dessen Emil, contrat social, confessions.“ (in Henrich, Dieter, 1965, S. 56)
Dabei bezieht er sich genau auf die Zeit der ’dunklen Jahre’:
„Allerdings stand Hegel vier Jahre lang während seines Aufenthalts im Stifte mit mir auf so vertrautem Fuße, wie mit keinem andern. Ich war eine Promotion vor ihm. Von seinem fünften akademischen Jahre kann ich folglich nichts mehr sagen.“ (ebd., S. 53)
Das schockiert oder überrascht uns nicht, denn Rousseau war der Philosoph der Revolution, und wir wissen sehr wohl, dass Hegel, wie auch seine engen Freunde Schelling und Hölderlin, allesamt Anhänger der Revolution waren, sie unterstützten sie und erwarteten Großes von diesen französischen revolutionären Bewegungen. Hegel hatte vom ersten Augenblick an eine Haltung der Offenheit gegenüber der Revolution. Es konnte auch gar nicht anders sein, denn wir haben gesehen, dass er in der Stuttgarter Zeit, also in den Jahren unmittelbar vor der französischen Revolution, stark von der Kultur der Aufklärung durchdrungen war. Er ging sogar darüber hinaus und wollte die Aufklärung weiterentwickeln, sie vom gesellschaftlichen Status der Gelehrten auf den des ’gemeinen Mannes’ ausweiten. So haben wir bei Hegel sogar den Gedanken an eine philosophische Revolution, die den einfachsten Menschen erreicht. Das war die philosophische Haltung Hegels in den Monaten unmittelbar vor der Revolution, weshalb uns die Aussage Leutweins nicht überrascht. Es ist daher naheliegend, dass er die französischen Studenten mit besonderem Vergnügen besuchte und die Revolution gemeinsam mit seinen besten Freunden feierte.
Die Widmung Hegels an Weigelin
"Des connoissances qui sont à nôtre porté les unes sont fausses, les autres sont inutiles, les autres servent à nourrir l’orgueil de celui qui les a. Le petit nombre de celles qui contribuent réllement à nôtre bien-être est seul digne des recherches d’un homme sage; il ne s’agit point de savoir de ce qui est, mais seulement ce qui est utile."
(J.-J. Rousseau, G.W.F. Hegel)
Dieser Gedanke ist eine Widmung Hegels an den Stiftskameraden Weigelin und ist dem "Émile" (S. 428) entnommen, wobei Hegel allein die Worte "& par consèquent d’un enfant qu’on veut rendre tel" hinter "d’un homme sage" ausgelassen hat, da Weigelin kein Kind war.(144)
Der Satz ist von besonderer Bedeutung, denn er enthält einen Gedanken, der im Denken sowohl des jungen Hegel als auch Rousseaus auftritt: Zweck der Kenntnisse, also des Wissens, ist die Weisheit und nicht das Wissen selber, als blosse Quantität von erworbenen Kenntnissen betrachtet. Die Weisheit besteht zwar auch aus Kenntnissen, diese dürfen jedoch nicht Selbstzweck sein, sondern sollen zu unserem Wohle dienen. Das Sich-wohl-fühlen des Menschen ist also der Maßstab für die Nützlichkeit der Kenntnisse und deshalb für ihren echten Wert.Philosophie ist in ihrem Wesen Weisheit und nicht Wissen, wie von den Griechen durch die Auswahl des Wortes ’Philosophie’ ein für allemal festgelegt wurde), und sie soll vor allem eine Art zu leben und nicht nur zu denken sein, wofür Sokrates das unvergängliche Vorbild geliefert hat. In dieser Hinsicht ist die Übereinstimmung zwischen Rousseau und dem jungen Hegel außerordentlich wichtig, denn sie bezieht sich nicht auf einen besonderen Begriff, sondern betrifft die Interpretation der Philosophie und ihrer Aufgabe im Allgemeinen und kann deshalb als Grundlage jedes anderen, besonderen Begriffs dienen.
Diese Übereinstimmung wird nicht nur durch die Widmung an Weigelin, sondern durch mehrere Textestellen der Tübinger Jahre weiter belegt, insbesondere z.B.:
"Etwas anderes als Aufklärung, als Räsonnement ist Weisheit - Aber Weisheit ist nicht Wissenschaft - Weisheit ist eine Erhebung der Seele, die sich durch Erfahrung verbunden mit Nachdenken über Abhängigkeit von Meinungen wie von den Eindrükken der Sinnlichkeit erhoben hatund nothwendig, wenn es praktische Weisheit, nicht blosse selbstgefällige oder prahlende Weisheit, von einer ruhigen Wärme, einem sanften Feuer begleitet seyn mus; [...] sie hat ihre Überzeugung nicht auf dem allgemeinen Markt eingekauft, wo man das Wissen an jeden, der richtig bezahlt, hergibt, [...] sondern spricht aus der Fülle des Herzens." (GW1, Text 16, S. 97)
Angesichts der Tatsache, dass die Philosophie in dem Denken des reifen Hegel aufgrund seines im Übrigen gerechtfertigten Bestrebens, sie als ’Wissenschaft’ darzustellen, Gefahr läuft, als Weisheit zu verschwinden, mögen diese Überlegungen zur Wiederentdeckung der echten Bedeutung von Hegels reifem System als ’Weisheitslehre’ und nicht nur als ’Wissenschaft’ beitragen.(145)
Die erste philosophische Auffassung Hegels
Die von uns explizit dem Einfluss von Rousseau auf den jungen Hegel gewidmeten Studien haben gezeigt, dass die Hegelschen Schriften aus der zweiten Hälfte des Jahres 1792 bis, sagen wir, 1793 und 94, in denen wir die Ausarbeitung des Textes 16 haben, der das wichtigste Fragment dieser Periode ist, eine naturalistische oder monistische Auffassung der Welt und der Natur voraussetzen, die eindeutig von der Philosophie Rousseaus inspiriert ist.
Hegel geht in diesen Schriften davon aus, dass es keinen Gott außerhalb der Natur gibt, sondern dass das Göttliche selbst zur Natur gehört. Wir haben also definitiv eine monistische und nicht eine dualistische Sichtweise. Die Natur wird als ein geordneter Organismus gesehen, der unabhängig vom Menschen seine eigene Ordnung hat und Gott ist der Garant dieser Ordnung, aber ein immanenter Gott, nicht äußerlich, nicht transzendent. Schließlich wird der Mensch als gut in sich selbst gesehen, da er zu jener Ordnung gehört, in der jede Entität in sich selbst die Rechtfertigung ihres eigenen Seins und damit ihre eigene Güte hat. Der Sitz solcher Güte im Menschen ist das Herz, dem Hegel den Intellekt entgegensetzt, der oft gegen die Gründe des Herzens geht. Diese sind aber Ausdruck der Echtheit und Natürlichkeit des Menschen, deshalb ist es falsch, wenn der Intellekt gegen die Gründe des Herzens vorgeht.
Dies ist sicherlich eine vereinfachte Darstellung dessen, was jedoch die philosophische Grundstruktur der Hegelschen Texte unmittelbar nach 1792 ausmacht. Diese Ansicht entspricht sicherlich der philosophischen Konzeption, die Rousseau in seinem Werk "Emile oder die Erziehung" (1762) ausgearbeitet hatte. Sicherlich ist dies das Werk, das Hegel gelesen hat, sowohl weil man eine Reihe von wörtlichen Parallelen finden kann, wie wir in unserer Studie gezeigt haben, als auch weil dies die Art der Lektüre war, die Hegel zu dieser Zeit bevorzugte. Wir erinnern uns genau an die Lektüre von Zimmermanns Text über die Einsamkeit sowie an die Lektüre von Campe’s Text Theophron. Es handelte sich um Texte pädagogisch-erzieherischer Art, die dazu dienten, dem jungen Denker eine Orientierung für sein Leben zu geben.
Die Lektüre von Rousseau ist also eine grundlegende Synthese von allem, was Hegel bis zu diesem Moment gelesen und rezipiert hatte. Rousseaus Emile erlaubte es ihm, eine erste philosophische Synthese seines eigenen Denkens auszuarbeiten, eine erste wirkliche Philosophie, auch wenn sie noch nicht in einem wirklichen philosophischen System formuliert war. Es ist diese Philosophie, die die Grundlage der überlieferten Fragmenten ab 1792 bildet. Sie ist nicht explizit thematisiert, aber in ihnen implizit vorausgesetzt. Da sie aber in den Schriften bis 1789 nicht einmal explizit enthalten ist, muss gefolgert werden, dass Hegel diese seine erste philosophische Auffassung im Rousseau’schen Stil in der Zeit der dunklen Jahre ausgearbeitet hat. Er las sicherlich viel, wie er es zu tun pflegte, und schrieb sowohl Auszüge aus seinen eigenen Lektüren als auch seine eigenen Schriften. Er hat diese Schriften sicherlich auf seine verschiedenen Umzüge mitgenommen, wie auch seine früheren und späteren Schriften. Es muss eine enorme Masse an Material gewesen sein, denn es müssen seine Vorlesungsskripte und damit seine Universitätskurse gewesen sein. Kurzum, es werden nicht nur ein paar Seiten gewesen sein, wie im Falle des Tagebuchs, sondern viele Auszüge, viele Überlegungen zum Universitätsunterricht, viele Auszüge aus Rousseaus Émile und möglicherweise auch aus anderen Werken. So viele Schriften, die sicherlich alle aus diesen dunklen Jahren stammen. Da diese Schriften offensichtlich eine philosophische Vision enthielten, die auf Rousseau basierte und daher sowohl in Bezug auf die Monarchie als auch auf die protestantische Theologie stark revolutionär war, konnten sie nicht überliefert werden, zumindest nicht, indem sie eine Vision von Hegels Persönlichkeit lieferten, die sich völlig von derjenigen unterschied, die seine Familie und der preußische Staat zu überliefern beabsichtigten.
Aus dieser Reihe von Gründen scheint es wissenschaftlich gut begründet, die Leere der dunklen Jahre mit der von Hegel durchgeführten Operation der Ausarbeitung seiner eigenen ersten Philosophie, die eindeutig Rousseau’schen Ursprungs ist, zu füllen, auf deren Grundlage er dann in den unmittelbar folgenden Jahren seine eigenen Reflexionen philosophisch-religiöser Art ausarbeitete. Wenn wir diese Naturphilosophie monistischer Art nicht verstehen, können wir auch jene religiösen Reflexionen nicht vollständig verstehen, die nichts anderes sind als die Anwendung dieser Grundphilosophie auf das religiöse Thema.
*
1.3.0
DRITTE PHASE
Entstehung des Programms der Stiftung einer neuen natürlichen
und vernünftigen Volkreligion zum Zweck
der Aufklärung des ’gemeinen Mannes’
Zeitlicher Rahmen: 10. Januar 1792 - Wintersemester 1793/94
Hauptquellen: letzte Tübinger Texte und frühe Berner Texte
Grundkonzept der dritten Phase der ersten Periode
Auf der Grundlage von Flatts Lehre versteht Hegel während des letzten Jahres seines Studiums in Tübingen, dass die Religion eine sehr wichtige Funktion im Leben eines Volkes hat und dass diese Funktion nicht von einer Philosophie wie der Kantischen erfüllt werden kann, die allein für ein gelehrtes Publikum bestimmt ist. Er folgt damit der Position von Flatt, der glaubte, dass Kants Philosophie nur für Gelehrte einen erhellenden Wert habe und die Religion stattdessen die Aufgabe habe, die Moral des Volkes zu fördern. Aus diesem Grund spricht Hegel in seinen Tübinger Texten von einer ‚Volksreligion‘, offenbar im Gegensatz zur Philosophie Kant als „gelehrte Religion“. Hegel ist jedoch im Gegensatz zu Flatt nicht ganz davon überzeugt, dass gerade die christliche Religion geeignet sei, diese Funktion auszuüben und arbeitet deshalb im letzten Tübinger Jahr sowie im ersten Jahr in Tschugg-Bern die Züge einer neuen ethisch-religiösen Lehre heraus, die möglicherweise zur Aufklärung des einfachen Menschen in aufgeklärten Zeiten führen kann.
Philologische Situation der Quellen und Datierung
Obwohl die zu dieser dritten Phase der ersten Periode der Hegelschen Gedankenentwicklung gehörenden Schriften weitgehend fragmentarisch und zudem undatiert sind, kann die Datierung dieser Phase insgesamt auf genaue graphologische Studien gestützt werden, die in Deutschland im Laufe der letzten Jahrzehnte durchgeführt wurden. Diese Studien konnten auf Grund der wenigen datierten zeitgenössischen hegelschen Schriften - z.B. der Briefe - zumindest die Abfolge der Fragmente und die Zeitspanne, in der sie geschrieben wurden. Dies ermöglicht eine ziemlich genaue genetische Rekonstruktion des letzten Studienjahres Hegels am Stift in Tübingen, also von Ende 1792 bis Ende 1793, sowie des ersten Jahres seines Schweizer Aufenthaltes, also von Ende 1793 bis Ende 1794.
Stadien der dritten Phase der ersten Periode
Das erste Stadium dieser Phase, ungefähr vom 10. Januar 1792 bis zum Winter 1793, wird durch Hegels Verständnis der Notwendigkeit konstituiert, die Religion vor der aufklärerisch-kantianischen Kritik zu retten. Dabei geht es um die Haltung des jungen Philosophen zu der intensiven Debatte, die damals zwischen den Anhängern der Kantschen Konzeption der Postulate der praktischen Vernunft, also der Begründung der Religion durch die Moral, und umgekehrt denjenigen, die der traditionellen Meingung waren, dass Aufgabe der Religion sei, die Stütze der Moral zu sein. Gerade im Stift war diese Debatte besonders lebhaft, weil hier Johann Friedrich Flatt lehrte, einer der intelligentesten Kant-Kritiker und Anhänger der theologischen Position.
Im zweiten Stadium dieser Phase, vom Winter 1792/93 bis zum Sommer 1793, führt der junge Student gründliche und genaue Reflexionen über die grundlegenden Eigenschaften durch, die eine Volksreligion haben muss, um diese sehr wichtige Aufgabe zu erfüllen. Diese Phase ist wiederum in drei Phasen unterteilt, die jeweils durch einen Schritt gekennzeichnet sind, den Hegel bei der Bestimmung des Begriffs der Volksreligion unternimmt.
Auf der Grundlage der kantischen Auffassung einer ’Vernunftreligion’, die inzwischen veröffentlicht war, entwickelt Hegel in dem dritten und letzten Stadium dieser Phase (Sommersemester 1793 bis Wintersemester 1794) sein eigenes Ideal der Gründung einer neuen natürlichen und rationalen Volksreligion, um die Aufklärung des einfachen Menschen zu fördern.
*
1.3.1
ERSTES STADIUM
Hegels Position zum Problem der
Religionsrettung bei einem aufgeklärten Volk:
Religion ist lebensnotwendig
und soll als „Volksreligion“ gerettet werden.
Zeitlicher Rahmen: August 1792 - Frühjahr 1793
Hauptquelle: Text 12
Die erste klare Position Hegels in der Auseinandersetzung mit der damaligen Diskussion im Stift besteht in seiner Stellungnahme gegen die Auffassung derjenigen, die meinten, dass die Religion keine theoretische Gültigkeit besitze. Den genauen Zeitpunkt der Entstehung dieser Stellungnahme können wir auf Grund des Mangels an Manuskripten aus den ersten vier Tübinger Jahren leider nicht bestimmen. Mit Sicherheit kann sie nicht vor dem 10. Januar 1792 erfolgt sein, da von diesem Tag eine Predigt üüberliefert ist, in der Hegel die Meinung äußert, dass die Funktion der Religion im Leben des Menschen nicht unentbehrlich ist und dass die Begründung der Moral genauso gut durch die Stimme des Gewissens erfolgen kann. Dies ist offensichtlich eine Position à la Rousseau.
Hegels Stellungnahme zugunsten der Religion kann man frühestens mit dem Text 12 belegen. Dieser Text ist in der Zeit zwischen Ende August 1792 und dem Frühling 1793 verfasst worden.(146) Hegels Stellungnahme zu der Diskussion im Stift ist also spätestens in diesem Zeitraum anzusetzen. Hier befindet sich der Anfang von Hegels Auseinandersetzung mit der religiösen Problematik, wie diese dann in den folgenden Texten entwickelt wird und in den letzten Bögen von Text 16 eine erste vollständige Systematisierung erhält.
Die Grundfrage, die in diesem Text behandelt wird, ist die von der Rettung der Religion in einer aufgeklärten Nation, wie man an diesen Worten erkennen kann:
" Opfer (147)und die Begriffe auf die [sie] sich gründen, lassen sich bei einem Volk nimmer einführen, das einen gewissen Grad von Aufklärung hat - [...] - wie können sie, wenn sie einmal da sind, bei einer aufgeklärten Nation sich halten.“ (SW 1, 75, 7-11).Diese Fragestellung verfolgend, wird er sich weiter fragen, wie eine Religion aussehen soll, die die Kritik des Verstandes überstehen kann und gleichzeitig die sinnlichen Merkmale enthält, wodurch sie Einfluss auf das gemeine Volk nehmen kann. Die Antwort auf diese Frage ist der Leitfaden aller Texte dieser Jahre, bis zu denen des Winterhalbjahres 1793/94, die schon in Bern niedergeschrieben worden sind. In den ersten Zeilen dieses Textes kommt also die Grundfrage zum Ausdruck, die der Denkentwicklung Hegels in den nachfolgenden Monaten zugrunde liegen wird. In diesem wichtigen Text befinden sich aber außer der Grundfrage nach der Rettung der Religion bei einem aufgeklärten Volk auch einige Überlegungen, die schon den weiteren Schritt der Festsetzung der Hauptmerkmale dieser Religion betreffen. Es handelt sich um die Fragen, ob eine Religion als subjektive oder objektive und als private oder öffentliche Angelegenheit vorzuziehen ist.
Gleich zu Beginn des Textes geht Hegel gleich auf die Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Religion ein:
„ Inwiefern ist Religion als subjektiv oder als objektiv einzuschätzen? "(SG 1, 159).
Hier der Originaltext:
"... wiefern ist Religion zu schäzen als subjektive oder als objektive?" (GW 1, 75, 3).
Diese Frage wird von ihm ausdrücklich in Bezug auf Fichte behandelt und ist deshalb auf seine Beschäftigung mit der Offenbarungsschrift zurückzuführen.(148) Da er sich selbst ausdrücklich fragt, ob die eine oder die andere Form von Religion richtig ist, was für ihn in den anderen Fragmenten schon klar sein wird, zeigt es sich schon allein aus diesem inhaltlichen Grund, dass dieser Text vor den anderen Texten verfasst wurde.(149) Die Fortsetzung des Textes setzt zu der Lektüre von Fichte auch die von Mendelssohns Jerusalem voraus.(150) Durch die Lektüre dieses Textes hat Hegel vor allem den Unterschied zwischen öffentlicher bzw. Volksreligion und Privatreligion rezipiert.(151) Diese Begriffe kommen in dem Text mehrmals vor.(152) Hegel nimmt Stellung für die Volksreligion und gegen die Privatreligion. Der Zweck der Volksreligion wird von ihm so festgesetzt:
Der Zweck der Volksreligion wird von ihm folgendermaßen ausgedrückt:
„[...] den Charakter der Nation im Großen zu bilden “ (GW 1, 76,4).
Die beiden Begriffspaare subjektiv-objektiv und öffentlich-privat, beide in Bezug auf die Religion, spielen in den unmittelbar folgenden Texten eine zentrale Rolle. Aus diesem Grund ist also Text 12 große Wichtigkeit zuzuschreiben, da wir durch ihn rekonstruieren können, wie die Problematik entstanden ist, die den folgenden Texten zugrunde liegt und schließlich in das Ideal der Stiftung einer neuen Religion in den Berner Texten münden wird. Diese Problematik kann man auf folgende Weise zusammenfassen:
- Hegels Hauptziel ist die Rettung der Religion für ein aufgeklärtes Volk;
- Hauptfrage ist, wie diese Religion aussehen soll;
- Hauptmerkmale dieser Religion, die Hegel gerade festzusetzen versucht, sind bislang: die Subjektivität und die Öffentlichkeit.
Es ist noch zu fragen, weshalb Hegel die Religion überhaupt retten wollte, also welcher der Hauptgrund seines Interesses für Religion war. Aus den anderen Texten wissen wir, dass Hegel in der Religion die Möglichkeit der ’Beförderung der Moralität’ sah, da sie die ’Triebfedern’ bzw. ’Beweggründe’ zum moralischen Handeln liefert. Diese Auffassung kommt in diesem Text explizit nicht vor, aber die Begriffe, worauf sie sich gründet, sind vorhanden.(153) Da sie in der moralischen Philosophie Kants durch die Theorie der Postulate begründet ist und diese Theorie von Fichte in seiner Offenbarungsschrift übernommen wurde, könnte Hegel sie unschwer durch Fichte rezipiert haben.(154). Der Einfluss von Flatts Unterricht und Rapps Aufsatz "Über die moralischen Triebfedern, besonders der christlichen Religion" ist so gut wie sicher, weil die auch wörtliche Übereinstimmungen enorm sind.(155)
Es kann auf jeden Fall geschlossen werden, dass der Hauptgrund, weshalb Hegel die Religion retten wollte, in der Zeit der Fassung dieses Textes schon feststand. Im Text 12 kommt also Hegels Stellungnahme zur Diskussion im Stift klar zur Sprache: Er ist der Meinung, dass die Religion zu retten sei, und das soll in Form einer Volksreligion geschehen. Der nächste Schritt, den Hegel zu machen hatte, war die Lösung der Hauptfrage, wie diese Volksreligion aussehen soll, d.h. er musste ihre Hauptmerkmale festsetzen. Das wird er in den unmittelbar nachfolgenden Monaten erledigen, wie der Text 16 reichlich belegt. Der Hauptgrund sowie das Hauptziel seiner Überlegungen blieben aber immer im Hintergrund seiner geistigen Tätigkeit.
*
1.3.2.0
ZWEITES STADIUM
Festsetzung der Hauptmerkmale
der neuen Volksreligion
Zeitlicher Rahmen: Herbst / Winter 1792/93 - Sommer 1793
Hauptquellen: Text 16
Etwa zwischen Ende 1792 und Anfang 1793 beginnt Hegel mit der Bestimmung der grundlegenden Merkmale der Volksreligion, die geeignet ist, die Religion vor der Kritik des Intellekts zu retten. Er kommt zum Ergebnis über drei verschiedene Entwicklungsstufen, die jeweils durch einen Schritt gekennzeichnet sind, den er bei der Bestimmung des Begriffs der Volksreligion unternimmt.
Die erste Stufe, etwa Herbst/Winter 1792/93, besteht aus der Ausarbeitung des Begriffs der Volksreligion als "Religion des Herzens" (oder "subjektive Religion"). Hegel stellt einer solchen Religion, die einzig und allein auf der natürlichen Güte des Menschen beruht und an die er, Rousseau treu folgend, immer noch glaubt, die Theologie (oder "objektive Religion") gegenüber, die ein kalter Ausdruck des Verstandes ist und keinen positiven Einfluss auf das moralische Verhalten des Menschen ausüben kann.
Die zweite Stufe, vom Winter 1792/93 bis zum 1. Mai 1793, ist durch eine Krise des Denkens gekennzeichnet, in der sich der junge Mann nach der Lektüre und Rezeption der von Kant im ersten Kapitel der Religionsschrift geäußerten anthropologischen Konzeption befindet. Darin hatte Kant nämlich klargestellt, dass in der menschlichen Natur sowohl die Veranlagung zum Guten als auch zum Bösen vorhanden ist und dass die Aufgabe der Religion daher darin besteht, den Menschen dazu zu bringen, der ersten Veranlagung zu folgen und die zweite folglich zurückzuweisen. Hegel zeigt in den Texten dieser Phase (der zweiten und dritten Tübinger Predigt), dass er diese kantische Lehre aufgenommen, sich zu eigen gemacht und damit die Auffassung der "Religion des Herzens" der vorangegangenen Phase überwunden hat.
Die dritte Stufe schließlich (vom 1. Mai 1793 bis zum Sommer desselben Jahres) besteht in der Aneignung der philosophisch-religiösen Auffassung, die im zweiten und vor allem im dritten Kapitel der Kantschen Schriften enthalten ist. Hegel offenbart nämlich in den Fragmenten, die zu dieser Klasse gehören, und insbesondere in dem Bogen ’h’ von Text 16, dass er die kantische Lehre von der wahren Religion als Vernunftreligion vollständig verinnerlicht hat und sie teilt.
Damit zeigt der junge Denker, dass er seine ursprüngliche Vorstellung vom Herzen als Fundament der Religion endgültig aufgegeben und die kantische Lehre verstanden hat, dass nämlich nur die Vernunft das geeignete Fundament für die Gründung einer wahren, also absoluten und universellen Religion sein kann. Damit ging er von der Auffassung der Religion als "Herzenssache" zur Religion als "Sache der Vernunft" über.
Philologische Situation der Quellen ihre Datierung
Die Bögen "a" bis "g" des Manuskripts, die dem Text 16 entsprechen, enthalten Hegels ursprüngliche Auffassung der Volksreligion. Auf der Grundlage der sehr umfangreichen und informativen Anmerkungen der Herausgeber des ersten Bandes der Gesammelten Werke ist es möglich, eine genaue Analyse dieses Textes vorzunehmen. Aus diesen Anmerkungem wird deutlich, dass es sich bei dem so genannten "Tübinger Fragment", also dem Text 16 von GW 1, nicht um einen einzigen Text handelt, sondern um eine Sammlung verschiedener Texte, die Hegel zu verschiedenen Zeiten verfasst und dann später zu einem thematisch homogenen Text zusammengefügt hat.
Vor allem die Zäsur bei 99,28-29 von GW 1 ist wichtig, da sie die Wasserscheide zwischen zwei Textgruppen darstellt, die sich durch ein völlig unterschiedliches Verständnis von "Volksreligion" voneinander unterscheiden.
Die Texte, die vor dieser Zäsur stehen, enthalten nämlich eine Auffasung der Volksreligion als "Sache des Herzens" während die Texte, die nach dieser Zäsur stehen, die Auffasung der "Volksreligion" als "Vernunftreligion", als "Sache der Vernunft" präsentieren.
Ein solch detailliertes Verständnis des Textes war daher nur durch die äußerst genaue philologische Arbeit der Herausgeber des ersten Bandes der Gesamtwerke möglich. Wenden wir uns nun der Analyse dieser einzelnen Entwicklungsstufen zu.
*
1.3.2.1
ERSTE STUFE
Volksreligion als „Sache des Herzen“
Zeitlicher Rahmen: Herbst / Winter 1792/93
Hauptquellen: Bögen a-g von Text 16
Auf Grund der sehr ausführlichen und aufschlussreichen Anmerkungen sowie des editorischen Berichts der Herausgeber von GW 1 ist es endlich möglich, eine genaue Untersuchung des Textes 16 durchzuführen. Durch diese Anmerkungen erfahren wir, dass das sogenannte Tübinger Fragment, das als Text 16 in GW 1 veröffentlicht ist, nicht ein einziger Text ist, sondern mehrere, von Hegel selbst zusammengeordnete Texte enthält.(144) In der Einführung zu diesem Stadium ist darüber schon ausführlich berichtet worden. Hier ist nur noch einmal zu unterstreichen, dass vor allem die Zäsur bei Textstelle 99,28-29 wichtig ist, weil diese zwei Gruppen von Texten trennt, die sich voneinander durch eine völlig andere Auffassung der Volksreligion unterscheiden. Die Texte, die sich vor dieser Zäsur befinden, enthalten die Auffassung von einer Volksreligion als „Religion des Herzens“, und die nach dieser Zäsur die Auffassung von der Volksreligion als „Vernunftreligion“.
Wir werden hier die Auffassung der ersten Textgruppe (von Bogen a bis g) vertiefen, also die Auffassung von der Religion des Herzens, die den Hauptinhalt von Hegels geistigen Fortschritten dieser Stufe bildet. Wenn man die verschiedenen Bögen bzw. Lagen, die diesen Text bilden, einzeln untersucht, kommt man zu dem Ergebnis, dass sich sehr genau begrenzte einzelne Denkschritte unterscheiden lassen, in denen er seine Auffassung der Volksreligion ausgearbeitet hat. Diese Fortschritte können genau voneinander unterschieden werden.
Bogen ’a’
(GW 1: 83.1 bis 85.13) (146)
Hier ist eine Einführung in das ganze Thema. Hegel beginnt mit der Begründung des Themas und erklärt die Bedeutung der Religion im Leben der Menschen. Tatsächlich lautet der Anfang Dieser Bogens und auch des Textes 16 so:
|
"Religion ist eine der wichtigsten Angelegenheiten unseres Lebens [...]" (GW 1, 83, 1) |
Hegel begründet diese Bedeutung der Religion damit, dass in der „Natur des Menschen“ ein „natürliches Bedürfnis“ danach bestehe, so dass die Religion und vor allem „das, was in der Gotteslehre praktischen Wert hat“ im „Unverdorbenen“ finde menschlichen Sinnes „ein sehr aufnahmefähiges Terrain.
Nach dem Hinweis auf die zentrale Stellung der Religion im menschlichen Leben erklärt die junge Studentin auch, dass es aus methodologischer Sicht wichtig sei, mit viel Fingerspitzengefühl vorzugehen, wenn man sich erfolgreich mit diesem Thema auseinandersetzen, d. h. effektiv beeinflussen wolle die Moral der Menschen Männer. Das dürfen wir eigentlich nie vergessen
„[...] Sinnlichkeit das Hauptelement bei allem Handeln und Streben der Menschen ist“ (GW 1, 84, 16-17). |
Weiterführend formuliert er es so:
„Die Natur des Menschen ist sozusagen nur von den Ideen der Vernunft durchdrungen“ |
|
|
und er vergleicht den Einfluss dieser Ideen auf das moralische Verhalten des Menschen mit dem Salz in einem Gericht, dh damit, dass es seinen Geschmack verändert, ohne jedoch seine Anwesenheit sichtbar zu erkennen.
Hegel meint damit, dass die auf rationalen Prinzipien gegründete Moral nur dann auf den Menschen einwirken kann, wenn es ihr gelingt, seine Sensibilität zu beeinflussen.
Moral muss also, um erfolgreich zu sein, die menschliche Sensibilität so modifizieren, dass sie selbst „moralisch“ wird. Geschieht dies, so handelt der Mensch dennoch auf sensiblen Reiz hin, da er ohnehin nicht anders kann, aber die Religion die Sensibilität „moralisiert“ hat, wird er sich indirekt auch moralisch verhalten.
Bogen ’b’
(GW 1: 85.14 bis 87.15) (148)
Mit diesem Gedanken der Sensibilität als Grundelement menschlichen Handelns verbindet sich der Beginn des zweiten Bogens. Nachdem Hegel betont hat, dass Religion nicht als einfache Wissenschaft von Gott Gültigkeit erlangt, sondern nur dann, wenn sie „das Herz interessiert“, da sie die „Beweggründe“ der Moral liefert, bekräftigt Hegel, dass Religion „sensibel“ sein muss.
„[...] um auf die Sinnlichkeit wirken zu können“ (GW 1, 86, 2). |
Dies ist ein wichtiger Gedanke, der im Laufe der Entwicklung des Hegelschen Denkens nicht verloren gehen wird, sondern einen festen Bestandteil seines religiösen Ideals bilden wird.
In diesen ersten beiden Bögenn haben wir eine erste Systematisierung der Überlegungen des jungen Denkers zum Begriff „Volksreligion“. Durch sie versucht Hegel, die Konzeption einer Volksreligion auszuarbeiten, die im Volk einen wirksamen Erfolg erzielen kann.
Zu diesem Zweck versucht der junge Stiftler, die grundlegenden Eigenschaften zu ermitteln, die für dieses Ergebnis unerlässlich sind. In Bogen ’b’ ist dieser grundlegende Charakter Sensibilität und dieser Bogen endet mit dieser Überlegung.(157)
Bogen ’c’
(GW 1: 87.16 bis 90.25) (149)
Dieser Bogen bildet den zentralen Kern der ersten Gruppe von Fragmenten. Darin behandelt Hegel Folgendes: „Untersuchung des Unterschieds zwischen objektiver und subjektiver Religion. Die Bedeutung dieser Diskussion für die ganze Problematik“ (GS 1, S. 173 ff. – meine Übersetzung). (150) Sie ist ein besonders wichtiges Thema in Bezug auf die Ausarbeitung des Begriffs „Volksreligion“ (auch der Versuch des Denkers zu bestimmen, was der "... Hauptpunkt einer Volksreligion..." ist, wie wir auf Bogen ’b’ lesen, (151) ist ein deutliches Zeichen dafür, dass Hegel in diesen eigentlich geht es um eine einzige Hauptfrage, nämlich um die Bestimmung des Begriffs einer "Volksreligion").
Hier entlarvt Hegel zunächst den Begriff der „objektiven Religion“ (GW 1, S. 87,18 bis 89,15) (152) und dann den der „subjektiven Religion“ (S. 89,16 bis 90,2 ).(153)
In dieser Darstellung bleibt er nicht unparteiisch, sondern bezieht klar Stellung für die subjektive Religion, die etwas Lebendiges ist, und gegen die objektive Religion, die im Gegenteil etwas Totes ist.
Seine Schlussfolgerungen finden sich im letzten Absatz Dieser Bogens, in dem der junge Denker seine grundsätzliche Absicht zum Ausdruck bringt.
|
„Meine Absicht ist nicht, zu untersuchen, welche religiöse Lehre am meisten Interesse fürs Herz haben, [...], sondern was für Anstalten dazu gehören, dass die Lehren und die Kraft der Religion in das Gewebe der menschlichen Empfebindungen eingrenfernischt, i zu handeln beigesellt, und sich in ihnen lebendig und wirksamerweise - daß sie ganz subjektiv werde - wenn sie das ist - so äußert sie ihr Daseyn nicht blos durch Händefalten, [...], sondern sie verbreitige Zich aufle mens (ohne daß die Seele gerade es sich bewust ist) und wirkt überall - aber nur mittelbar mit - sie wirkt, um mich so auszudrücken, negativ, bei dem frohen Genus menschlicher Freude - [...], wenn sie auch nicht unmittelbar einwirkt, so hat sie doch den feiner Einfluß, daß sie die Seele wenigstens frei und offen dabei fortwirken läst,[...] - " (GW 1, S. 90, 3-25) |
Diese Intention besteht dann darin, zu analysieren, wie Religion subjektiv werden kann, das heißt "... was sind die Dispositionen (’Anstalten’), für die Religion - [...] - ganz subjektiv wird".
Damit begründet Hegel einen weiteren Grundcharakter der Religion (nach ihrer „Popularität“ und „Empfindlichkeit“): die Subjektivität.
Bogen ’d’ (154)
(GW 1: 90.26 bis 93.27)
Dies ist ein sehr wichtiges Bogen, da Hegel darin erste Schlüsse aus den in den vorangegangenen Bögenn angestellten Überlegungen zieht (155).
Anknüpfend an die Darstellung des Unterschieds zwischen subjektiver und objektiver Religion stellt er zu Beginn Dieser Bogens den zentralen Begriff vor, der seine eigene Auffassung von Volksreligion auszeichnet: Er unterscheidet wiederum zwischen Theologie und Religion und vervollständigt diese Unterscheidung durch die wichtige Überlegung, dass Theologie ist „Sache des Verstandes“, während Religion „Sache des Herzens“ ist:
„Wenn Theologie Sache des Verstands und des Gedächtnisses ist [...] Religion aber Sache des Herzens [...]“ (GW 1, 90, 26-28). |
In den unmittelbar folgenden Zeilen legt Hegel diese Religionsdefinition sehr präzise dar, wobei er eine Begriffsstruktur verwendet, die sich sowohl auf die kantische „Kritik der praktischen Vernunft“ als auch auf die Fichtes deutlich bezieht (15665).
Die Definition von Religion als „Sache des Herzens“ enthält also „Offenba-rungsschrift“ in sich all jene Grundzüge der Volksreligion, die Hegel bis zu diesem Stadium seiner eigenen Entwicklung feststellen konnte.
Dieser Ausdruck findet sich noch an zwei Stellen dieser Fragmentgruppe - in den folgenden Fragmenten wird er nicht mehr vorkommen -, insbesondere an den Stellen 92,8 des Bogens ’d’ und 96,28 des Bogens ’g’. Ab Bogen „h“ wird dann unter deutlichem Einfluss von Kants „Religionsschrift“ die Charakterisierung der Religion als „Sache des Herzens“ durch den Begriff der „Vernunftreligion“ (Vernunftreligion) ersetzt (157)
Der Rest des Folio ’d’ (S. 91-93 von GW 1) enthält eine Apologie des Herzens nach Lessings Nathan. Hier steht der Intellekt dem Herzen gegenüber, unfähig, die Grundlage der Moral zu sein.
Bogen ’f’ (158)
(GW 1: 94.1 bis 96.24) (159)
Dieser Bogen enthält Hegels „Abrechnung“ mit dem Intellekt und der Aufklärung. Unter dem Ausdruck "Aufklärung" versteht der junge Student vor allem die Haltung, die den Menschen eine aus "kalten" Grundsätzen bestehende Moral vorschreiben will, (160) ohne Rücksicht auf die Sensibilität (siehe das Beispiel, das er in "Anfang" gegeben hat Bogen ’a’ über die Wirkung von Salz in einem Gericht). Seine Kritik richtet sich insbesondere gegen Campe.“ (161)
Das grundlegende Argument von Hegels Kritik ist, dass der Intellekt nur dazu dienen kann, die Wahrheiten der objektiven Religion zu klären, aber ganz unfähig ist, sie in praktisches, moralisches Verhalten umzuwandeln. Kurzum, sie kann der subjektiven Religion keine Hilfe leisten, wie es unsere treffend ausdrückt:
„Aufklärung des Verstandes macht zwar klüger, aber nicht besser“ (GW 1, 94, 12). |
Der mittlere Teil Dieser Bogens ist besonders wichtig, da er sehr deutlich zum Ausdruck bringt, mit welchem grundsätzlichen Problem Hegel in diesen Texten konfrontiert ist. Es behandelt das Problem der Aufklärung des Volkes:
„Wenn man davon spricht: man kläre ein Volk auf [...]“ (GW 1, 95, 1). |
In Bezug auf diese Problematik – die nichts anderes ist als die Wiederaufnahme der für die Überlegungen der Stuttgarter Zeit zentralen Frage nach der „Aufklärung des einfachen Mannes“ – (162) kommt Hegel zu folgendem Ergebnis:
"[...] da es unmöglich ist, daß eine Religion, die allgemein fürs Volk seyn soll, aus allgemeinen Wahrheiten bestehen kan, zu jeder Zeit nurre Menschen gekommen sind [...] - und also immer theils Zusäze beigemischt müssen, die blos auf Treu und Glauben angenommen werden müssen - oder daß die reinern Säze vergröbert in eine sinnlichere Hülle gestekt werden, wenn sie verstanden werden und der Sinnlichkeit annehmlich seyn solliglen, [...] ] - wenn ihre Lehren in Leben und That wirksam seyn sollen - unmöglich auf blosse Vernunft gebaut seyn können " (GW 1, 96, 5-16). |
Mit diesem klaren Schluss, der sowohl die gestellte Frage (Volksaufklärung) als auch die von Hegel zur Zeit der Abfassung Dieser Bogens erdachte erste Lösung (Volksreligion als „Sache des Herzens“) formuliert, schließt das Bogen ’f ’.
Bogen ’g’
(GW 1: 96.25 bis 99.28) (163)
Dieser Bogen beginnt mit der gleichen Frage, die auch am Ende von Bogen ’f’ steht:
„Wie Religion überhaupt eine Sache des Herzens ist, so könnte es eine Frage seyn, wie weit sich Räsonnement einmischen darf, um Religion zu bleiben“. (SW 1, 96, 28-29) |
Der mittlere Teil Dieser Bogens enthält einen Vergleich zwischen Erleuchtung und Weisheit (164) Die Erleuchtung geht aus diesem Vergleich offensichtlich als Verlierer hervor. Hegel kritisiert sie wie auf Bogen f. Im Gegenteil, die Weisheit wird von ihm in direkte Beziehung zum Herzen, dh zum Fundament der Vernunft gestellt.
"Aber Weisheit ist nicht Wissenschaft - Weisheit ist eine Erhebung der Seele [...] sie räsonnirt wenig [...] sie hat ihre Überzeugungen nicht auf dem allgemeinen Markt eingekauft, [...] sondern spricht aus der Fülle des Herzens" (GW 1, 97, 8-19). |
Nach einem weiteren, ziemlich scharfen Angriff auf Campe, insbesondere auf den „Herrscher von Campe“ („Kampische Lineal“), auf die Aufklärung und auf „vollgeschriebenen Zeiten“, auf ihre „buchhafte Gelehrsamkeit“ (’Buchgelehrsamkeit’) und ’An den Mann des Buchstabens’ (’BuchstabenMenschen’)
[...] der hat nicht selbst und gelebt" (GW 1, 99, 18-19) |
Als Produkt solcher Zeiten schließt Hegel Dieser Bogen mit dem schönen und hoffnungsvollen Bild der Religion, die dem Menschen helfen kann, sein Häuschen zu bauen
[...] das der Mensch alsdenn sein eigen nennen kan [...]" (GW 1, 99, 27-28) |
Der Hinweis auf Lessings „Nathan“ und insbesondere auf die Stelle, an der der junge schwäbische Denker schon zur Stuttgarter Zeit auf diesen wichtigen Seiten nicht fehlen durfte, in denen Hegels subjektive, ja leidenschaftliche Beteiligung an der diskutierten Religionsproblematik deutlich wird. hatte sein eigenes Verständnis von Griechentum begründet:
„Und von vielen Dingen könnte ich dir erzählen wie, wo, warum habe ich sie gelernt " (165) |
(GW 1, 99.25-26) |
Das eigene Wissen, die eigene Spiritualität von innen heraus geschaffen, also nicht von außen (auf dem Markt) erhalten zu haben, ist nach dem jungen Hegel das grundlegende Merkmal der Weisheit, also der wahren Erleuchtung (wie es ja auch sein wird auch für reifen Hegel).
*
1.3.2.2
ZWEITE STUFE
Übergang von der Volksreligion als „Sache des Herzens“
zur Volksreligion als "Sache der Vernunft"
Zeitlicher Rahmen: Herbst / Winter 1792/93 - 1. Mai 1793
Hauptquellen: Text 16
Wie bei der Darstellung der ersten Stufe bereits gesagt wurde, gehören die Bögen h,i, k und l von Text 16 mit Sicherheit inhaltlich zur gleichen Gruppe wie die anderen Bögen, sie beinhalten aber eine ganz andere Auffassung der Volksreligion. Der Hauptgedanke dieser Auffassung ist, dass das Fundament der Religion nicht das Herz, sondern die menschliche Vernunft ist (s. die nächste Stufe).
Der Unterschied zwischen dieser Auffassung und der der Bögen a bis g ist so auffallend und erscheint mit dem Anfang von Bogen h, wo gleich die Rede von der „Vernunftreligion“ als richtiger Form der Religion ist,(166) so plötzlich und ohne einen Übergang, dass man von einem Bruch, einer tiefen Zäsur sprechen muss.
Aus dieser Perspektive wird klar, dass Hegel die zweite Gruppe von Bögen zu einem späteren Zeitpunkt niedergeschrieben hat und dass der Anfang von Bogen h auf keinen Fall die Fortsetzung von dem Ende des Bogens g sein kann, da Hegel sonst eine Überleitung geschrieben hätte. Es entsteht nun die Frage, ob sich durch das erhaltene schriftliche Material irgendwie die Lücke füllen lässt. Eine Untersuchung der anderen, aus diesen Jahren erhaltenen Texte kann möglicherweise aufschlussreich sein.
Die 2. und 3. Predigt
Einige Texte eignen sich nicht dazu und können deswegen schon ausgeschlossen werden, da sie entweder inhaltlich deutlich vor Text 16 geschrieben wurden, wie der Text 12, oder danach, wie die Texte 17-26, die außerdem auch chronologisch mit Sicherheit schon zur Berner Zeit gehören(167).
Die Texte 13-15 enthalten eine Kritik der christlichen Religion (Text 13) bzw. des damaligen Lebens in Deutschland im Vergleich zu dem Leben der Griechen (Text 15), während der Text 14 nur ein Blatt mit Notizen über die Tradition des deutschen Volkes ist. Insgesamt scheinen diese Texte eher auf den Stand von Hegels Denken vor dem Einfluss von Fichte hinzuweisen. Die Thematik der Volksreligion sowie die damit verbundene begriffliche Ausrüstung, die Hegel von Fichte rezipiert hat, fehlt hier völlig. Nur der Text 13 enthält einige Zeilen über die Beschaffenheit des Menschen aus Sinnlichkeit und Vernunft(168), die gut in Verbindung zu dem Anfang des Bogens a von Text 16 zu setzen sind. In einer nachträg- lichen Ergänzung am Rande dieses Textes ist außerdem die Rede von dem „gemeinen Volk“(169). Dieser Text enthält eine Kritik der christlichen Religion, die Hegels Meinung nach nicht fähig ist, die Einbildungskraft des Volkes über die Phantasie zu leiten (vgl. 79,1ff.), und ist deshalb deutlich innerhalb von Hegels Auseinandersetzung mit dem Begriff der Sinnlichkeit im Anschluss an Fichte entstanden. Darin fehlt aber jegliche Andeutung im Hinblick auf die Vernunft als Fundament der Religion bzw. auf eine Überwindung von Hegels Auffassung der Bögen a-g. Auch dieser Text kann also keine Hilfe zur Füllung der Lücke zwischen den Bögen g und h von Text 16 leisten.
Was übrig bleibt, sind die Predigten. Die erste Predigt, die von der Gerechtigkeit Gottes handelt, ist auf eine Auffassung gegründet, nach der „die Stimme des Gewissens“ bzw. „das Herz“ des Menschen dem Willen Gottes direkt entsprechen und deshalb Fundament der Moralität sein können, eine Auffassung, die derjenigen der Bögen a-g sehr nahe steht bzw. sogar möglicherweise auf eine vorausgehende Stufe hindeutet(170). Auch in chronologischer Hinsicht ist die erste Predigt mit Sicherheit vor dem Text 12 abgefasst worden, da sie auf den 10. Januar 1792 datiert ist und deshalb sowohl aus inhaltlichen als auch aus chronologischen Gründen unmöglich den Übergang zwischen den zwei Bögengruppen von Text 16 bilden kann.
Die zweite Predigt, deren Datierung sehr problematisch ist,(171) zeigt dagegen einen Inhalt, der auf eine neue Stufe in Hegels Gedankenentwicklung hinweist. Sie behandelt das Thema "Versöhnlichkeit" und beinhaltet den wichtigen Gedanken von der „Umänderung und Besserung des Herzens“.(172)
Diesen Begriff verwendet Hegel in Bezug auf die Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Einstellungen zum moralischen Verhalten, die mit Kants bzw. Fichtes Sprache als „Moralität“ bzw. „Legalität“ bezeichnet werden können. Zwar bedient sich Hegel an dieser Stelle nicht explizit dieser Ausdrücke, setzt aber bei seinen Überlegungen dieses Kategorienpaar zweifelsohne voraus.
Er unterscheidet hier zwischen denjenigen, deren Beweggrund zum moralischen Handeln die Liebe zu Gott und zu den Menschen ist, und denjenigen, die die Tugenden aus anderen Gründen ausüben. Nur die ersten können wahre Christen genannt werden, die anderen dagegen nicht, da sie sich nicht „im Geist der Lehre Jesu“ verhalten (60,7-9). Sie glauben, sich tugendhaft zu verhalten, ihr Verhalten fließt aber „nicht aus der rechten Quelle“ (60,6). Was ihrem Verhalten fehlt, ist „eine völlige Umänderung und Besserung des Herzens“ (60,12).
Dieser Gedanke, den Hegel als Voraussetzung für das wahre Christsein aufstellt, ist in bezug auf die Frage der Füllung der Lücke zwischen den Bögen g und h von Text 16 sehr interessant, da er sich in die von Hegel in den Bögen a-g dargestellte Auffassung kaum einordnen lässt. Nach dieser Auffassung ist das Herz des Menschen in sich selbst rein und braucht nur die Hilfe der Religion, um ein moralisches Verhalten in Gang zu setzen. Diese Hilfe soll aber nicht direkt auf das Herz, sondern auf die Sinnlichkeit wirken. Diese soll durch die Religion in einen zusätzlichen Beweggrund zum moralischen Handeln umgeändert bzw. verfeinert werden; das Herz bedarf der Veränderung aber nicht! Es ist in der Tat sehr schwer, sich vorzustellen, dass das Herz, das in der Auffassung dieser Bögen das Fundament der Religion sein soll, eine „völlige Umänderung und Besserung“ brauche.
Die Inkompatibilität zwischen dem Gedanken von der „Umänderung und Besserung des Herzens“ und der Auffassung der Religion als „Sache des Herzens“ wird an einer anderen Stelle dieser Predigt noch deutlicher, wo die Rede von einem „durch Liebe zu Gott gebesserten Herzen“ (63,16) ist. Hier ist also nicht das Herz das Fundament der Religion, sondern umgekehrt die Religion das Fundament eines reinen Herzens, wozu die Liebe zu Gott führt. Daraus kann man schließen, dass ohne Religion das Herz nicht „rein“ wäre, d.h. dass der Mensch, der Gott nicht liebt, sich nicht moralisch verhalten kann.
In dieser Predigt sind wir also zweifelsfrei vor eine ganz andere Auffassung als die der Religion als „Sache des Herzens“ gestellt. Man könnte einwenden, dass es sich um eine Predigt handelt und dass Hegel dabei gezwungen war, das zu sagen, was man von ihm im Stift hören wollte. Ein Vergleich mit den anderen Predigten zeigt aber, dass Hegel, wenngleich er in diesen Predigten sein echtes, sehr kritisches Urteil über die christliche Religion nicht äußern konnte, was er dagegen in den anderen, privaten Texten tat, aber auch nicht so feige war, dass er seine religionsphilosophische Grundauffassung, auf die er seine Überlegungen über den Begriff „Volksreligion“ zu dem Zeitpunkt gründete, vollständig verschwieg.
In der ersten Predigt spricht er z.B. einerseits sehr positiv über die „von Gott uns geoffenbarte Gesezgebung“ und ergänzt sogar, dass diese Offenbarung sowohl durch das Alte Testament als auch durch Jesus erfolgt ist.(173) Andererseits aber fügt er gleich hinzu:
„Diese Ordnung stimmt aufs genaueste mit dem überein, was unser Gewissen uns sagt“ (58,14-18).
Wenn man zwischen den Zeilen dieses hinzugefügten Satzes liest, kann man daraus entnehmen, dass, wenn unser Gewissen die gleiche moralische Gesetzgebung wie das Alte Testament und die Botschaft Jesu beinhaltet, wir im Prinzip keine Religion brauchen, die uns das moralische Verhalten beibringt!
Auch die Untersuchung der anderen überlieferten Predigten zeigt, dass Hegel dabei versuchte, einerseits nichts gegen die christliche Religion explizit zu sagen, andererseits aber auch nicht darauf zu verzichten, seine echten Gedanken implizit auszudrücken.
Es ist also zu schließen, dass sich in diesen Predigten zwei Ebenen unterscheiden lassen: eine oberflächliche Ebene, die aus Gedanken besteht, die Hegel als dogmengetreu denkenden christlichen Theologen erscheinen lassen, und eine versteckte Ebene, in der Hegel auf eine sehr geschickte Weise seine eigene religionsphilosophische Auffassung zum Ausdruck bringt, zu der er durch seine „geheimen“ Überlegungen bis zum Zeitpunkt der Abfassung der entsprechenden Predigt gekommen war.
In dieser Hinsicht ist also den Gedanken, die sich in den Predigten befinden, durchaus Wichtigkeit zuzuschreiben, und sie sind nicht als bloße „Gelegenheitsschriften“, sondern als echte Spuren von Hegels geistiger Entwicklung anzusehen.
In Bezug auf die zweite Predigt und auf den Gedanken von der „Umänderung und Besserung des Herzens“ soll also die Frage gestellt werden, wie es zu erklären ist, dass der Apologet einer als „Sache des Herzens“ definierten Volksreligion plötzlich und ohne äußeren Zwang die Meinung von der Umänderung bzw. Besserung des Herzens als Voraussetzung für ein echtes moralisches Verhalten vertritt.
Um eine Antwort auf diese Frage geben zu können, ist es notwendig, zuerst eine Untersuchung der religionsphilosophischen Auffassung zu führen, die dieser Predigt zugrunde liegt.
Eine vertiefte Lektüre der Predigt führt zum Schluss, dass hier eine insgesamt negative Auffassung des menschlichen Herzens vertreten wird, die nicht nur in jenen Ausdrücken zutage tritt, sondern der ganzen Predigt zugrunde liegt.
Als Beispiele seien einige darin vorkommende Ausdrücke Hegels angeführt: Zu den Quellen, „aus welchen Unversönlichkeit entspringt“ (60,25), zählt er: Eigenliebe, Rachbegierde, Haß und Groll (60-61); er spricht von „Menschen die Bitterkeit und Haß im Herzen haben“ (61,7-8), von „Härte des Herzens“ (61,16) usw. und schließt die Predigt mit einem Gedanken, der in der Gedankenkonstellation von der Auffassung der Religion als „Sache des Herzens“ unvorstellbar ist: „der wahre Christ soll streng gegen sich selber aber geduldig gegen andere seyn“ (64,21-22). Von diesem Satz ist nicht der zweite Teil Anlass zur Verwunderung, sondern der erste. In Bezug auf diesen Satz und den darin ausgedrückten Gedanken stellt sich spontan die Frage: wo ist der junge Stiftler geblieben, der an die Unschuld des einfachen, spontanen, natürlichen und nur aus der Quelle seines reinen Herzens handelnden Menschen glaubte? In der Tat zeigt es sich, dass nach der Auffassung dieser Predigt der Mensch viel mehr braucht, um sich moralisch zu verhalten, als nur die Hilfe der Religion, wie es nach der Auffassung der Bögen a-g des Textes 16 der Fall ist.
Die Untersuchung dieser Predigt ist also mit der Behauptung abzuschließen, dass wir es hier nicht mit einem gelegentlichen, von äußeren Umständen verursachten Verstecken von Hegels wirklicher Meinung, sondern mit einer tiefgreifenden Änderung in den religionsphilosophischen Grundlagen seines Nachdenkens zu tun haben.
Aus diesem Grund lohnt es sich, dieser Spur zu folgen und auch die dritte und die vierte Predigt unter die Lupe zu nehmen, bevor dann auf Grund der bisher erreichten Ergebnisse versucht werden soll, eine Antwort auf die Frage der Lücke zwischen den Bögen g und h von Text 16 zu geben.
Die dritte Predigt(174) handelt von dem „wahren Glauben“ und ist also über den Begriff des wahren Christen mit der zweiten Predigt verbunden. Der durch die Untersuchung der zweiten Predigt gewonnene Schluß, dass Hegels religionsphilosophische Auffassung in ihren Grundlagen hier anders ist als in den Bögen a-g des Textes 16, wird durch die Lektüre dieser dritten Predigt bestätigt. Gleich am Anfang befindet sich der Ausdruck „das verdorbene Herz des Menschen“ (68,4) und gegen Ende der Predigt der Ausdruck „verdorbene Natur“ in bezug auf die Natur des Menschen (69,28-29). Schon diese Žußerungen bestätigen die bisherige Hypothese von einer tiefgreifenden Änderung in Hegels damaliger Religionsphilosophie endgültig.
Zwar befinden sich in dieser Predigt auch Gedanken und Ausdrücke, die sehr an die Auffassung der Religion als „Sache des Herzens“ erinnern, wie z.B. in dem an Gott gerichteten Satz:
„Gib dass dise Wissenschaft zum lebendigen Glauben in uns werde, dass er reich werde an guten Früchten [...]“
(68,26-27).
Hier kommt sehr deutlich der versteckte Gedanke der subjektiven Religion, die nicht tote Wissenschaft, sondern lebendiges, moralisches Handeln sein soll, ans Licht. Auch der Ausdruck „Diser Glaube ist nicht blos Sache des Verstandes“ (69,13) versetzt uns in eine schon gut bekannte Gedankenwelt. Die Ausdrücke, die auf das „verdorbene Herz des Menschen“ hinweisen, machen aber klar, dass Hegel sich hier in einer neuen Gedankenwelt bewegt und eine neue Stufe in seiner Denkentwicklung erreicht hat(175).
Die vierte Predigt(176), die von dem „Reich Gottes“ handelt, zeigt auf eine noch deutlichere Weise, dass sich eine Wandlung in Hegels religionsphilosophischer Auffassung ereignet hat: dieser Predigt liegt Kants religionsphilosophische Auffassung zugrunde, wie diese in der Religionsschrift dargestellt ist.(177) Da diese Predigt zu einer noch späteren Stufe gehört, wird deren Inhalt an entsprechender Stelle in dieser Studie dargestellt und kommentiert(178). Hier ist nur auf das Wiederauftreten der Gedanken von der Besserung des Herzens als Voraussetzung zum moralischen Verhalten sowie von der Verdorbenheit des menschlichen Herzens, die hier sogar als „angeboren“ bezeichnet wird, hinzuweisen (vgl. GW 1, S. 71,13 bzw. 71,22-23).
Aus den Ergebnissen der Untersuchung der 2., 3. und 4. Predigt kann also geschlossen werden, dass sich zum Zeitpunkt der Entstehung der Texte ein Wandel sowohl in der religionsphilosophischen Grundlage von Hegels damaligem Denken als auch demzufolge in seiner Auffassung der Volksreligion vollzogen hat. Diesen Predigten liegt nicht mehr die Religionsphilosophie der Offenbarungsschrift zugrunde, und in ihnen wird keine Volksreligion als „Sache des Herzens“ vertreten. In der vierten Predigt lässt sich deutlich der Einfluß der Religionsphilosophie Kants beweisen; indirekt kann auch geschlossen werden, dass sie die Auffassung der Volksreligion als „Vernunftreligion“ implizit vertritt, da die Gedanken, die deren „versteckte Ebene“ bilden und von Kant stammen (Reich Gottes als etwas Innerliches, also die unsichtbare Kirche usw.), unter diesem Begriff zusammenzufassen sind.
Es bleibt also noch offen, welche Religionsphilosophie der 2. und der 3. Predigt zugrunde liegt und welche Auffassung der Volksreligion diese Texte vertreten.
Um diese Frage zu beantworten, ist eine weitere Untersuchung von den Gedanken und Ausdrücken durchzuführen, die zu dem Schluss geführt haben, dass es sich bei diesen Predigten um eine andere religionsphi- losophische Einstellung handelt als in den Bögen a-g von Text 16. Es sind die Gedanken, die in den folgenden Ausdrücken zusammengefasst sind: „Umänderung und Besserung des Herzens“ (2. Predigt) und „das verdorbene Herz des Menschen“ (3. Predigt).
Der Einfluß des ersten Teils von Kants Religionsschrift auf die 2. und 3. Predigt
Diese Gedanken finden sich in der Religionsschrift Kants, und zwar in deren erstem Stück "Von der Einwohnung des bösen Prinzips nebem dem guten; d.i. vom radikalen Bösen in der menschlichen Natur".
Dieses erste Stück behandelt das Thema der Beschaffenheit der Natur des Menschen, beschäftigt sich also mit der Frage, ob der Mensch von Natur aus gut oder böse sei. Kant stellt auf den ersten, einführenden Seiten das Problem sowie die beiden extremen Lösungen dar. In dem ersten und zweiten Kapitel Von der ursprünglichen Anlagen zum Guten in der menschlichen Natur bzw. Von dem Hange zum Bösen in der menschlichen Natur untersucht er dann diese zwei Lösungen einzeln. In dem dritten und vierten Kapitel Der Mensch ist von Natur böse bzw. Vom Ursprunge des Bösen in der menschlichen Natur stellt er seine Position dar. Diese besteht hauptsächlich in der Grundidee, dass es im Menschen einen natürlichen Hang zum Bösen gibt. In der allgemeinen Anmerkung Von der Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten in ihrer Kraft, die dieses erste Stück abschließt, gibt Kant Hinweise darauf, wie die Menschen ihre von Natur aus vorhandene, aber von dem gegenteiligen Hang zum Bösen vertriebene Anlage zum guten Handeln wiederherstellen können.
Bevor es gezeigt wird, welche Begriffe Hegel aus diesem ersten Teil von Kants Schrift unmittelbar übernommen hat, ist es sinnvoll, einen Vergleich zwischen den Hauptthemen und den damit verbundenen Hauptansichten, die sich sowohl in Kants Schrift als auch in Hegels 2. und 3. Predigt feststellen lassen, zu führen.
Diesbezglich lässt sich zuerst bemerken, dass es nicht mehr um Religionsphilosophie im engeren Sinne, sondern um Anthropologie geht. Sicher ist es schwer, eine klare Grenze zwischen diesen beiden Wissens- bzw. Erfahrungsgebieten zu ziehen; es ist aber möglich, sie zu unterscheiden und die Wechselbeziehung zu erkennen, die zwischen ihnen besteht.
Die Anthropologie, als Erkenntnis der Beschaffenheit der menschlichen Natur, scheint die Voraussetzung für die Herausbildung einer religiösen Theorie zu sein. Abhängig davon, ob eine „optimistische“ oder „pessimistische“ Anthropologie als Grundlage angenommen wird,(179) wird es ein entsprechendes Bedürfnis nach Religion geben. Liegt eine optimistische Anthropologie zugrunde, nach der also der Mensch von Natur aus gut ist, wird es kein Bedürfnis nach einer Religion geben, die das moralische Verhalten des Menschen begründet, und zwar deshalb, weil der Mensch keine Begründung durch die Religion braucht, um sich moralisch zu verhalten. In Rousseaus Philosophie lässt sich ein ähnliches Verhältnis zwischen Moral und Religion bzw. Anthropologie und Ontologie feststellen.
Allein Zweifel an der guten Natur des Menschen, also eine mehr oder weniger pessimistische Anthropologie, verursachen ein Bedürfnis nach einer religiösen Begründung des moralischen Verhaltens. Die Philosophie Kants ist ein gutes Beispiel dafür.
Daraus erklärt sich, wieso auch Hegels Texten aus diesen Jahren immer eine Anthropologie zugrunde liegt. Die Auffassung der Religion als „Sache des Herzen“ beruht auf einer Anthropologie, die in ihrem Kern optimistisch ist. Sie gründet sich auf das Herz als Fundament sowohl der Moral als auch der Religion, und somit wird von Hegel angenommen, dass das menschliche Herz unverdorben ist(180). Andererseits ist diese Auffassung nicht völlig optimistisch, da Hegel nicht ignoriert, dass der Mensch auch aus einer sinnlichen Natur besteht, und diese braucht die „Hilfe“ der Religion, um Ausdruck in einem moralischen Verhalten zu finden.
Was die 2. und 3. Predigt betrifft, liegt ihnen eine eindeutig pessimistische Anthropologie zugrunde, wie die oben zitierten Stellen deutlich zeigen.
In diesen zwei Predigten fällt besonders auf, dass Hegel sich hier in erster Linie mit der Anthropologie und nicht mit der Religion beschäftigt. In der Tat macht er sich sowohl in der 2. als auch in der 3. Predigt vor allem Gedanken darüber, was es bedeutet, ein „wahrer Christ“ zu sein. Dabei stellt er sich z.B. die Frage, wie man „durch anhaltende Wachsamkeit auf die Regungen der bösen Neigungen unsers Herzens“ (65,18-19) zu einem wahren Christen werden kann. Dadurch zeigt er sich bewusst, dass eine bloß negative Wirkung der Religion, die innerhalb der Auffassung von der Religion als „Sache des Herzens“ für ihn noch denkbar war, jetzt nicht mehr ausreicht, um das „Bestreben, immer vollkommener zu werden“ (64,19), zu unterstützen.
Hier zeigt sich eine erste, thematische Žhnlichkeit zwischen dem ersten Teil von Kants Schrift und den Predigten Hegels, die unser Forschungsgebiet betrifft: beide beschäftigen sich mit dem Verständnis der menschlichen Natur, also mit einer anthropologischen Frage.
Aber auch aus der Perspektive der Ergebnisse lässt sich eine starke Ähnlichkeit zwischen diesen Schriften feststellen. Sowohl Kants als auch Hegels Anthropologie lassen sich durch das Wort „Selbstbesserung“ zusammenfassen. Dieser Ausdruck befindet sich wörtlich bei Kant (S. 51), und der Gedanke, der dahinter steht, zieht sich sowohl durch Hegels Predigten als auch durch den ersten Teil von Kants Schrift, vor allem in dessen letztem Abschnitt (Allgemeine Anmerkung).
Was Kant betrifft, fasst der Begriff „Selbstbesserung“ die Ergebnisse dieses ersten Teils zusammen: der Mensch soll sich selber moralisch bessern, um seine ursprüngliche Anlage zum Guten wiederherzustellen(181). Diese Selbstbesserung besteht nach Kant in einer „Herzensänderung“, auf deren Grundlage der Mensch die Pflicht als das oberste moralische Gesetz erkennt und sich nach diesem verhält. Bei dieser Herzensänderung kann es sich um keine „Reform“, sondern nur um eine „Revolution“ handeln, wodurch ein „neuer Mensch“, wie „durch eine Art von Wiedergeburt“, entstehen soll (S. 46-47). Nur auf diesen sich selbst gegenüber harten Weg kann der Mensch sich bessern. Dabei handelt es sich um einen fortschreitenden Prozeß, der kontinuierlich verläuft (S. 47-48). Er soll zwar mit einer persönlichen, inneren Revolution beginnen, damit hat sich der Mensch aber nur auf den richtigen Weg begeben. Das Ziel ist noch sehr weit entfernt. Um sich diesem anzunähern, bedarf es einer ausdauernden, kontinuierlichen Selbstbesserung.
Diese Gedankenkonstellation, die sich in der Allgemeinen Anmerkung befindet und die Schlüsse aus dem ersten, einführenden Teil von Kants Schrift enthält, schlägt sich in der 2. und 3. Predigt deutlich nieder. Der Begriff von der Besserung des Herzens des Menschen bildet den Hauptgedanken der 2. Predigt, wie oben gezeigt worden ist. Auch der hergeleitete Schluß, dass der Mensch zu sich selbst streng sein soll, befindet sich bei Hegel, ebenso wie der Gedanke, dass diese Strenge zu dem Ziel einer kontinuierlichen Besserung des Menschen führen soll (64,18-20: „eine solche Trägheit würde dem Bestreben, immer vollkommener zu werden [...] gerade entgegen seyn“). Diesbezüglich ist von Hegel auch der Gedanke von einem „Vertrag von gegenseitiger Nachsicht mit Gott“ (60,21) aus Kants Allgemeiner Anmerkung, wenngleich nicht wörtlich, üübernommen worden.(182) Die Liebe für die anderen Menschen wird von Hegel als „Gebot“ bezeichnet, das den Menschen von Jesus gegeben ist (65,30-31), und das entspricht Kants Auffassung des Pflichtbewusstseins als der einzig wahren moralischen Einstellung.
Hiermit dürfte erwiesen sein, dass sich an der Gedankenstruktur der 2. Predigt ein tief prägender Einfluss durch die Religionsphilosophie und insbesondere die Anthropologie Kants ablesen lässt, wie diese vor allem in der Allgemeinen Anmerkung zum Ausdruck kommt.
Zu gleichen Ergebnissen führt eine vergleichende Untersuchung der dritten Predigt. Auch hier befindet sich eine gedankliche Struktur, die auf Kant zurückzuführen ist. Vor allem der Gedanke von der verdorbenen Natur des Menschen ist das Bindeglied zwischen beiden Schriften. Diese Auffassung befindet sich nicht in der Allgemeinen Anmerkung, wo er vorausgesetzt wird, sondern in dem dritten und vierten Kapitel des ersten Stückes von Kants Religionsschrift. Die Auffassung von der „Selbstbesserung“, die den Kern der Allgemeinen Anmerkung bildet, findet sich dagegen in dieser dritten Predigt nicht wörtlich. Nur am Schluß wird sie angedeutet(183). An gleicher Stelle ist auch die Rede von dem „vollkommen werden“ des Menschen (69,33), was auch auf Kant zurückweist.
Außer der gedanklichen Konstellation, die im Vergleich zwischen dem ersten Teil von Kants Schrift und Hegels 2. und 3. Predigt zweifellos gleich ist, gibt es mehrere einzelne Ausdrücke und entsprechende Begriffe, die sich sowohl bei Kant als auch bei Hegel befinden. Eine Aufstellung der Begriffe ist geeignet, diese vergleichende Untersuchung abzurunden(184).
Früchte:
Kant vergleicht den Menschen mit einem „Baum“ und fragt sich, wie es möglich ist, dass „ein böser Baum gute Früchte bringen“ kann, und stellt umgekehrt fest, dass „ein ursprünglich (der Anlage nach) guter Baum arge Früchte hervorgebracht hat“ (S. 44-45).
Bei Hegel befindet sich dieser Begriff in der 2. Predigt an folgenden Stellen:
- 61,27-28: „Aber er genoß der Früchte seiner Härte [...]“
- 64,26: „so fruchtlos seine Bemühungen bei dem grösten Haufen sind [...]“
- 66,4-5: „[...] die wahren Früchte des Glaubens [...]“.
In der 3. Predigt befindet sich dieser Gedanke an den Stellen:
- 68,17: „[...] die ächten Früchten des Glaubens wahrnehmen“
- 68,27: „Gib dass dise Wissenschaft zum lebendigen Glauben in uns werde, dass er reich werde an guten Früchten [...]“ - 69,22: „was sind die wahre Früchte des Glaubens?“
Quelle:
Kant: S. 45, wo die Rede von der Selbstliebe als der „Quelle alles Bösen“ ist - s. unten unter „Selbstliebe/Eigenliebe“. Hegel:
- 60,6: „Alle die geräuschvollen Tugenden [...] verlieren ihren Glanz, sobald sie nicht aus der rechten Quelle fliessen.“
- 60,25-26: s. unten unter „Selbstliebe/Eigenliebe“.
Selbstliebe/Eigenliebe:
Kant: - 45: „[...] die Selbstliebe [...]; die, als Prinzip aller unserer Maximen angenommen, gerade die Quelle alles Bösen ist.“
Hegel:
- 60,25-26: „[...] lasset uns vorher die Quellen aufsuchen, aus welchen Unversönlichkeit entspringt, a) Eigenliebe“.
Dieser Gedanke von der Selbstliebe bzw. Eigenliebe als „Quelle alles Bösen“ in dem Menschen scheint von Hegel direkt von Kant zusammen mit den Begriffen von „Quelle“ und „Früchte“ übernommen zu sein. Die drei Begriffe bilden in der Tat eine Einheit zusammen: Die Selbstliebe ist die Quelle der bösen, schlechten Früchte.
Schadenfreude:
Bei Kant: 27 (wo diese als „teufliche Last“ bezeichnet wird(185).
Bei Hegel: 63,15-16; 65,1; 65,11; 66,12.
Gebot/Gesetz:
Kant: - 47: „[...] das Gebot: wir sollen bessere Menschen werden [...]“ - 50: „Denn, wenn das moralische Gesetz gebietet, wir sollen jetzt bessere Menschen sein.“
Hegel: 2.Predigt:
- 60,21: „[...] dein Gebot zu erfüllen [...]“
- 62,14: „[...] dass wir also durch Unversöhnlichkeit sowohl seinem Gesez [...] zuwider handeln.“
- 65,27 ff.: „Jesus gab uns ein höheres Gebot [...], er gab uns ein neues Gebot, das Gebot der Liebe [...]“
3. Predigt:
- 69,29-30: „[...] das Gebot der Liebe“.
Diese sind nur einige Beispiele, die sicher vervollständigt werden können, was allerdings eine besondere, spezielle Forschung erfordern würde. Auch in dem hier dargebotenen Umfang können diese aber verdeutlichen, dass das erste Stück von Kants Religionsschrift und vor allem dessen Allgemeine Anmerkung nicht nur der Gedankenkonstellation, sondern auch der sprachlichen Form der 2. und 3. Predigt zugrunde liegt.
Damit ist der Vergleich zwischen Kant und Hegel in bezug auf die Gedanken, die der junge Stiftler von dem Meister aus Königsberg in dieser Stufe rezipiert hat, abgeschlossen.
Gesamtrekonstruktion der bisherigen Entwicklung und Vorschläge zur Chronologie
Auf Grund der erzielten Ergebnisse kann jetzt versucht werden, eine Erklärung zu finden für den am Anfang dieser Stufe festgestellten gedanklichen Bruch zwischen den Bögen g und h von Text 16. Dieser Bruch lässt sich auf folgende Weise erklären: der Bogen h sowie die folgenden Bögen i, k und l beinhalten eine Auffassung der Volksreligion als „Vernunftreligion“, die eine spätere Stufe darstellt als die der Religion als „Sache des Herzens“(186); chronologisch betrachtet, sind sie also mit Sicherheit nach den Bögen a-g und höchstwahrscheinlich im Sommer 1793 entstanden. Die vierte Predigt (16. Juni 1793) gehört zweifellos zur gleichen Gedankenkonstellation; die zweite und dritte Predigt enthalten daraus nur die Gedanken von der „verdorbenen Natur des menschlichen Herzens“ und von dem Bedarf nach einer „Umänderung“ bzw. „Besserung“ desselben, was aus dem ersten Gedanken folgt. Von der gesamten Gedankenfolge der Religionsschrift schlägt sich also nur ein Teil, und zwar der grundlegende, anthropologische, erste Teil, in der zweiten und dritten Predigt nieder. Wie bekannt, erschien dieser Teil als Aufsatz ein Jahr vor der Veröffentlichung der vollständigen Schrift im April 1792.
Mit der Kenntnis dieser Voraussetzungen lässt sich weiter schließen, dass Hegel zuerst mit dem ersten Teil bekannt wurde und infolgedessen die anthropologischen Grundlagen seiner Auffassung der Religion als „Sache des Herzens“ in Frage gestellt hat. Dieser Zusammenbruch der Grundlagen seiner damaligen Religionsphilosophie wird in der 2. und 3. Predigt sichtbar. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Predigten (bis 1. Mai 1793) hat er aber noch keine neue Auffassung der Volksreligion erarbeitet. Das wird erst ab Mitte Juni unter dem Einfluß der ganzen Religionsschrift Kants geschehen und lässt sich durch die 4. Predigt und dann vor allem durch die Bögen h-l reichlich belegen. Die zweite und dritte Predigt bilden deshalb das inhaltliche Bindeglied zwischen der Auffassung von der Religion als „Sache des Herzens“ und der von der Religion als „Vernunftreligion“. Durch sie lässt sich nachvollziehen, dass Hegel spätestens im Frühling 1793 die alte Auffassung in Frage gestellt hat, sie aber durch eine neue noch nicht ersetzen konnte. Die Zeit der Abfassung der 2. und 3. Predigt ist deshalb als die zweite Stufe dieses Stadiums zu betrachten. Dabei handelt es sich mehr um eine „Zwischenstufe“, die eher einen äÜbergang, eine „berbrückung zwischen den Religionsauffassungen der ersten und der dritten Stufe darstellt als eine richtige Stufe in sich selbst. In dieser zweiten Stufe besitzt Hegel zwar eine neue Anthropologie, aber noch keine neue Religionsauffassung.
Die eben durchgeführte Gesamtrekonstruktion dieser Zeit ermöglicht auch den Versuch, eine entsprechende Chronologie festzulegen. Es ist diesbezüglich allerdings zu sagen, dass sich dieses Ziel sehr schwer verwirklichen lässt. Grund dafür ist vor allem, dass es heute noch unmöglich ist, eine sichere Datierung für die 2. Predigt vorzunehmen(187).
Ein Versuch könnte so aussehen: Als sichere Anhaltspunkte gelten die erste Predigt (10. Januar 1792) sowie die dritte und vierte (1. Mai bzw. 16. Juni 1793). Was die zweite Predigt betrifft, wird von den Herausgebern von GW 1 in dem editorischen Bericht als Datum der 4. November 1792 vermutet(188). Der Text 12, der aus inhaltlichen Gründen vor dem Text 16 geschrieben sein muß, stammt frühestens von Ende August 1792. Im Anschluss an die Abfassung von Text 12 muss die Abfassung von den Bögen a-g von Text 16 erfolgt sein, die an den Text 12 direkt anknüpfen, wie der Bezug auf Fichte beweist. Die Bögen h-l von Text 16 müssen nach der vierten Predigt bzw. in enger zeitlicher Nachbarschaft zu ihr niedergeschrieben worden sein, da sich beide auf Kants ganze Religionsschrift gründen.
Als nächstes ist zu bestimmen, wann Hegels Lektüre und Rezeption von dem ersten Teil der Religionsschrift und der von ihr verursachte Zusammenbruch seiner bisherigen Anthropologie erfolgt sind. Da die neue Anthropologie erst mit der zweiten Predigt erscheint, ist die Festsetzung dieses Zeitpunktes von der Datierung der zweiten Predigt abhängig. Wir wissen leider nicht, und es lässt sich auch nicht von den erhaltenen Schriften und Dokumenten herleiten, ob Hegel den Inhalt des ersten Teils durch dessen Veröffentlichung als Aufsatz (April 1792) oder als ersten Teil des Buches (April 1793) rezipiert hat. Auf jeden Fall ist es unmöglich, dass er Kants Gedanken schon vor Ende August/Anfang September 1792 rezipiert hat(199), da er in dieser Zeit unter dem Einfluss von Fichte stand, wie der Text 12 belegt. Wenn Hegel Kants Anthropologie als Aufsatz in Kenntnis nahm, dann ist das frühestens gegen September/Oktober 1792, also nicht sofort nach dessen Veröffentlichung geschehen.
Eine erste Möglichkeit ist deshalb, dass Hegel diese Anthropologie im Herbst 1792 rezipiert hat, und auf Grund dieser Datierung wäre dann die von den Herausgebern von GW 1 vorgeschlagene Datierung der zweiten Predigt auf den 4. November 1792 annehmbar. In diesem Fall wäre die Datierung der Bögen a-g von Text 16 vor diesem Datum anzusetzen, da der Inhalt dieser Bögen einer früheren Stufe in Hegels Entwicklung entspricht und deshalb auch vor der zweiten Predigt abgefaßt worden sein muß. Die Datierung dieser Bögen fiele in diesem Fall auf den Zeitraum September/Oktober, also zwischen den Text 12 (ab 22.8.92), der vor ihnen kommt, und die zweite Predigt (4.11.92), die nach ihnen kommt.
Nach dieser Gesamtchronologie, die von der Datierung der zweiten Predigt auf den 4. November abhängig ist, würden die Auffassung der Religion als „Sache des Herzens“ und die Rezeption von Kants Anthropologie in der Zeit September/Oktober zusammenfallen. Das scheint sehr unwahrscheinlich, da anzunehmen ist, dass Hegel Zeit gebraucht hat, um:
- Fichte zu lesen und zu verstehen;
- dessen Religionsphilosophie auf die eigene Problematik der Volksreligion anzuwenden und auf der Grundlage dieser Religionsphilosophie die eigene Auffassung der Volksreligion als „Sache des Herzens“ auszuarbeiten.
Der Nachteil von dieser Chronologie, die sich auf die Hinweise der Herausgeber von GW 1 stützt, ist also, dass die Zeitspanne zwischen der Rezeption von Fichte bzw. der Ausarbeitung der Auffassung von der Religion als „Sache des Herzens“ und dem Zusammenbruch derselben durch die Rezeption von Kants Anthropologie viel zu kurz ist. Nach dieser Datierung ist außerdem die Zeitspanne, in der Hegel nur den ersten Teil von Kants Religionsschrift, aber noch nicht die ganze Schrift rezipiert hat, viel zu lang (etwas mehr als 7 Monate vom 4. November 1792 bis 16. Juni 1793). Aus den angeführten Gründen erscheint diese erste Möglichkeit also eher unwahrscheinlich.
Ich schlage deshalb eine zweite Möglichkeit vor, wobei ich nochmals erklären möchte, dass es nach dem heutigen Stand der Forschung, vor allem auf Grund der unsicheren Datierung der zweiten Predigt, nicht möglich ist, zu einer endgültigen, gesicherten Chronologie zu kommen. Durchaus legitim ist aber, sich darüber Gedanken zu machen, wie die Reihenfolge der Schriften anzusetzen ist und, anhand der schon bekannten Datierungen, wenigstens die Jahreszeit festzulegen zu versuchen, in der die Schriften abgefaßt sein könnten, deren Datierung unbekannt ist. Dieser Versuch erhebt natürlich keinen Anspruch auf endgültige Genauigkeit und Wahrheit. Nach dieser zweiten Möglichkeit wird der Ausarbeitung von der Auffassung der Religion als „Sache des Herzens“ mehr Zeit zugeschrieben: sie könnte in dem Zeitraum Spät- herbst/Winter 1792/93 erfolgt sein. Die Rezeption von Kants Anthropologie ist dann entweder auf die Lektüre von dem Aufsatz zurückzuführen und in diesem Fall frühestens gegen Ende Winter 1792/93 anzusetzen; oder, was am wahrscheinlichsten ist, sie ist mit der Veröffentlichung von der ganzen Schrift in Verbindung zu bringen und deshalb im April 1793 anzusetzen. Diesem Vorschlag zufolge hätte Hegel die Schrift Kants unmittelbar nach deren Veröffentlichung gelesen, was im übrigen mit Hegels Gewohnheiten übereinstimmt und auch von den Herausgebern von GW 1 unterstützt wird(189). Als Folge dieser Rezeption hat sich dann der Zusammenbruch von Hegels früherer Anthropologie ereignet, wie dieser in der Predigt vom 1. Mai seinen Ausdruck findet. Die weitere Lektüre dieser Schrift hat ihn dann zu seiner neuen(190) Auffassung der Religion als „Vernunftreligion“ geführt, die sich in der Predigt vom 16. Juni zum ersten Mal feststellen lässt.
Der Vorteil dieser Chronologie ist, dass der Erarbeitung der Auffassung von der Religion als „Sache des Herzens“ genug Zeit zugeschrieben wird, und zwar der Zeitraum Spätherbst/Winter 1792/93. Außerdem gestattet sie auch, Hegels Rezeption von Kants Schrift stufenweise zu rekonstruieren: zuerst die Rezeption des ersten Teils, die sich wie ein Erdbeben in der zweiten und dritten Predigt niederschlägt, und dann die Rezeption der anderen Teile, die zuerst in der 4. Predigt und dann in den im Sommer verfaßten Bögen h-l ihren Ausdruck findet.
Nachteil dieses Chronologievorschlags ist, dass es damit nicht möglich ist, die von den Herausgebern von GW 1 vorgeschlagene Datierung der zweiten Predigt auf den 4. November 1792 beizubehalten. Andererseits ist diese Datierung auch nicht sicher(191). Es wird von den Herausgebern von GW 1 nicht ausgeschlossen, dass dieser Text im Jahr 1793 abgefaßt worden ist(192), und außerdem wird von ihnen auch bewiesen, dass die Predigt unmöglich in den Monaten Juli/August 1793) und sehr wahrscheinlich nicht in der Zeit zwischen der dritten (1.Mai) und der vierten (16. Juni) Predigt niedergeschrieben wurde(193). Was von ihnen mit Sicherheit festgesetzt wird, ist also allein, dass diese Predigt auf jeden Fall zwischen der ersten und der dritten ihren Platz findet.(194) Dieser Schluss stimmt ohne weiteres mit der von mir vorgeschlagenen zweiten Möglichkeit üüberein, nach der diese Predigt in dem Zeitraum zwischen Winter 1792/93 und Frühjahr 1793 (allerdings bis zum 1. Mai) anzusetzen ist.
Neben diesen beiden Möglichkeiten kann man sich selbstverständlich auch andere vorstellen, immer aber in Abhängigkeit davon, wann die Niederschrift der zweiten Predigt angesetzt wird. Sollte es einmal möglich sein, für diese Predigt eine sichere Datierung festzulegen, wäre dann auch die Voraussetzung für eine genauere chronologische Rekonstruktion von Hegels geistiger Entwicklung in diesen, für die Geschichte der Religionsphilosophie goldenen Monaten zwischen April 1792 und Sommer 1793 geschaffen.
Am Schluß dieses Kapitels sei darauf hingewiesen, dass sich die Entwicklung von Hegels Denken innerhalb dieser Stufe auch ohne eine monatgenaue Chronologie derselben deutlich erkennen und schildern lässt. Die Reihenfolge der Texte dürfte stimmen, auch wenn es bei einigen von ihnen nicht möglich ist, die genaue Datierung zu erkennen. Auf Grund der Reihenfolge ist es möglich, die Brücke zwischen dem Bogen g und dem Bogen h von Text 16 zu erkennen: die Krisis in Hegels Auffassung der Religion als „Sache des Herzens“, verursacht durch die Rezeption von Kants Anthropologie des „radikalen Bösen“ in der menschlichen Natur. Hegel überwand die Krisis und konnte durch die Übernahme von Kants Auffassung der Religion als „Vernunftreligion“ seine Auffassung der Volksreligion durch zusätzliche Hauptmerkmale weiter ausbauen. Damit trat er in eine neue Stufe seiner geistigen Entwicklung ein.
*
1.3.2.3
DRITTE STUFE
Die Volksreligion als „Vernunftreligion“
Zeitlicher Rahmen: 1. Mai - Sommer 1793;
Hauptquellen: 4. Predigt; Text 16, Bögen h bis l
Wie in dem vorigen Paragraphen angedeutet wurde, wird durch die vierte Predigt eine neue Stufe in Hegels Entwicklung eröffnet. Diese Stufe, die dritte und letzte dieses zweiten Stadiums, besteht hauptsächlich darin, dass Hegel seine Auffassung von der Religion als „Sache des Herzens“ durch die der Religion als „Vernunftreligion“ ersetzt. Damit kann er die Krisis überwinden, die die Lektüre des ersten Teils von Kants Religionsschrift verursacht hat, indem diese sein ursprüngliches Vertrauen in die gute Natur des menschlichen Herzens und in dessen Fähigkeit, Fundament der Religion und der Moral zu sein, in Frage stellte.
Der Eintritt in die neue Stufe seiner Entwicklung wird Hegel ermöglicht durch die Lektüre und die Rezeption der anderen Teile von Kants Religionsschrift. Zweck dieses Kapitels ist, die neue Stufe darzustellen. Dabei wird zuerst der Inhalt von den für diese Untersuchung relevanten Teilen der Schrift Kants geschildert und darunter insbesondere von denen, die auf Hegel den größten, entscheidenden Einfluss geübt haben; danach werden auf der Grundlage von der vierten Predigt und von dem Bogen h von Text 16 die Begriffe einzeln aufgestellt und kommentiert, die Hegel aus diesen Teilen der Religionsschrift nachweislich üübernommen hat; zum Schluß wird dann Hegels neue Auffassung der Volksreligion als „Vernunftreligion“ nachgezeichnet, wie diese in den Bögen i-l von Text 16 von Hegel selbst auf eine sehr systematische Weise zusammengefasst wurde.
Kants Religionsschrift und die Begründung der Vernunftreligion als der einzig wahren Religion
In seinem Aufsatz „Verschlüsselte Losung. Hegels letzte Tübinger Predigt“ hat F. Nicolin durch eine Untersuchung der vierten Predigt ausführlich bewiesen, dass Hegels Auffassung der Religion zur damaligen Zeit die Religionsphilosophie Kants zugrunde lag. Darin konnte der Interpret außerdem nachweisen, dass die Auseinandersetzung Hegels und seiner Stiftskameraden mit der Schrift Kants gleich nach deren Veröffentlichung im Frühling 1793 stattfand. Außerdem haben die Herausgeber von GW 1 in mehreren Anmerkungen belegt, dass zahlreiche Stellen von Hegels Fragmenten aus dieser Zeit und vor allem vom Text 16 unmittelbar an Kants Schriften und hauptsächlich an die Religionsschrift anknüpfen.(204) In der Anmerkung 99,29 zu Text 16(194) ist zu lesen: „Hegels Gedanken und Begriffe sind hier so deutlich durch diese Schrift Kants bestimmt, dass sich damit ein Hinweis auf die Datierung von Stück 16 ergibt“(195). Die Wichtigkeit dieser Schrift Kants für die Niederschrift dieser Texte und darunter vor allem von Text 16 ist also so eindeutig und die expliziten bzw. impliziten Bezüge auf Kant sind darin so zahlreich, dass man dadurch sogar zur Datierung dieses Textes kommen kann, wie wenn es sich dabei um einen „Kommentar“ der Schrift Kants durch Hegel handelte. Eine Darstellung von Kants Schrift kann deswegen für das nachfolgende Verständnis des Textes Hegels sehr aufschlussreich sein.
Das dritte Stück Vom Sieg des guten Prinzips üüber das böse und der Stiftung eines Reichs Gottes auf Erden von Kants Werk ist der zentrale Teil, da der Philosoph hier die wichtigsten Ergebnisse darstellt, zu denen er gekommen ist. In bezug auf dieses Stück sind die ersten beiden Stücke und vor allem das schon dargestellte erste Stück eine Einführung mit Problemstellung, während das vierte und letzte Stück eine Anwendung von den Ergebnissen auf die gesellschaftliche, geschichtliche Wirklichkeit ist.
Gleich am Anfang des dritten Stückes stellt Kant die Frage, die zu lösen ist und die die Verbindung zu den anderen Teilen und vor allem zum ersten Teil bildet: wenn der Mensch sich selber bessern soll, wie es am Ende des ersten Teils gefordert wird, aber seine ursprüngliche Anlage zum Guten aber dem Prinzip des Bösen zeitweise unterlegen ist, stellt sich die Frage, wie er das machen kann(196).
Die Antwort auf diese Frage bildet das Thema des dritten Stücks. Zu dieser Antwort kommt Kant schrittweise. Im Folgenden werden die Schritte rekonstruiert.
- Die Ursache, weshalb sich der Mensch böse verhält, liegt nach Kant in dem Verkehr mit den anderen Menschen(197). Die Lösung dieses Problems, die mit der Sprache Kants als „Der Sieg des guten Prinzips über das böse“ zu bezeichnen ist(198), ist deshalb nur „durch Errichtung und Ausbreitung einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen und zum Behuf derselben“ (S. 94) zu erreichen.
- Die „Tugendgesetze“, die die Grundlage einer solchen Gesellschaft bilden sollen, können sich aber die Menschen wegen der „unzulänglichen Kräfte der Einzelnen“ selber nicht geben; deshalb müssen die Einzelkräfte „zu einer gemeinsamen Wirkung vereinigt werden“, und das kann nur durch die Idee „eines höhern moralischen Wesens“ erfolgen(199).
- Eine solche Gesellschaft bekommt durch ihre moralische Grundlage die Geltung von „Volk Gottes“. In diesem Volk wird nicht nach bloßer „Legalität“, sondern nach wirklicher „Moralität“ gelebt(200).
- Als Volks Gottes ist eine solche ethische Gesellschaft oder, in Kants Sprache, ein solches „ethisches gemeines Wesen“, das „unter der göttlichen moralischen Gesetzgebung“ lebt und handelt, „eine Kirche, welche, so fern sie kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist, die unsichtbare Kirche heißt“ (S. 101)(201).
- Wenn es den Menschen gelingt, eine Gemeinde zu errichten, die diesem Ideal entspricht(202), kommt die „wahre (sichtbare) Kirche“ zustande, die diejenige ist, „welche das (moralische) Reich Gottes auf Erden, soviel es durch Menschen geschehen kann, darstellt“ (S. 101).
- Dieser einzig wahren, allgemeinen, auf den wahren Glauben gegründeten Kirche stehen die einzelnen, historischen Glaubensformen gegenüber: die eine ist für den Menschen „bloß als Mensch betrachtet“, die anderen sind für den Menschen „als Bürger“ (S. 105; auch in diesem Fall ist der Einfluß von Rousseau auf Kant eindeutig). Wegen der Schwäche der menschlichen Natur ist es nach Kant nicht möglich, eine allgemeine Kirche auf den reinen Religionsglauben zu gründen, wenngleich allein dieser eine „allgemeine Kirche“ begründen könnte, „weil er ein bloßer Vernunftglaube ist, der sich jedermann zur Überzeugung mitteilen läßt“ (S. 102-103). Es muss also eine historisch bedingte Glaubensform dazu benutzt werden(203).
- Weil dabei aber die Gefahr besteht, dass dieser historische Glaube zu bloßer Legalität und nicht zu echter Moralität bei den Menschen führen könnte, wird dazu „eine Auslegung der uns zu Händen gekommenen Offenbarung erfordert, d.i. durchgängige Deutung derselben zu einem Sinn, der mit den allgemeinen praktischen Regeln einer reinen Vernunftreligion zusammenstimmt“ (S. 110). Die Vernunftreligion als „der Geist Gottes, der uns in alle Wahrheit leitet“, enthält in der Tat „das oberste Prinzip aller Schriftauslegung“ (S. 112). Dies soll sicherstellen, dass auch der historische Glaube reine Moralität und nicht bloße Legalität befördert.
- Das Zusammenfallen von reiner Vernunftreligion, die einzig und allgemein ist, und historischem Glauben, der zeitlich und räumlich begrenzt ist, muß nicht auf ewig notwendig sein: „Es ist also eine notwendige Folge der physischen und zugleich der moralischen Anlage in uns, welche letztere die Grundlage und zugleich Auslegerin aller Religion ist, dass diese endlich von allen empirischen Bestimmungsgründen, von allen Statuten, welche auf Geschichte beruhen, und die vermittelst eines Kirchenglaubens provisorisch die Menschen zur Beförderung des Guten vereinigen, allmählich losgemacht werde, und so reine Vernunftreligion zuletzt über alle herrsche, „damit Gott sei alles in allem“ (S. 121).
- Hierin gipfelt die Religionsgeschichte der Menschheit, endet das „Jünglingsalter“, die erwachsen gewordenen Menschen legen ab „was kindisch ist“ (S. 121-122) und „der erniedrigende Unterschied zwischen Laien und Klerikern hört auf“. Dadurch bildet sich der Übergang zu einer „neuen Ordnung der Dinge“ und man kann nun endlich zu Recht sagen, „dass das Reich Gottes zu uns gekommen sei“ (S. 122).
- Somit ist schließlich die Grundlage für den Sieg von dem Prinzip des Guten üüber das Prinzip des Bösen in der menschlichen Natur geschaffen worden und die Frage gelöst, von der Kants Überlegungen ihren Ausgang nehmen. Die ethische Gesellschaftsform, die entstehen soll und die Kant als „unsichtbare Kirche“ bezeichnet und als Verwirklichung des „Reichs Gottes“ auf Erden versteht, ist also die Lösung jener Frage.
Mit diesem Schluss ist die Thematik der Religionsschrift im Prinzip abgeschlossen. Was Kant in dem vierten und letzten Stück(204) noch behandelt, sind einige Themen, die nicht mehr die theoretische Frage der Möglichkeit einer reinen Religion, sondern praktische Fragen hinsichtlich der äußeren Organisation dieser Kirche und vor allem des Unterschieds zwischen der richtigen und der falschen Form des Dienstes betreffen. Dabei beschäftigt er sich auch mit der christlichen Religion als natürlicher sowie als gelehrter Religion. In Bezug auf Hegel ist der zweite Teil dieses letzten Stücks besonders wichtig.(205) Hier kommen die Gefahren zur Sprache, die mit den historischen Glaubensarten verbunden sind, wie z.B. Anthropomorphismus, Aberglaube, Fetischismus usw. Kant wendet sich sehr scharf gegen diese falschen Formen von Dienst, die er als „Afterdienst“ bzw. „Religionswahn“ bezeichnet(206). Darin sieht er die Gefahr, dass das Volk noch weiter von der reinen Vernunftreligion entfernt wird, da es seiner „moralischen Freiheit beraubt wird“. Auf diese Weise wird aber der historische Glaube, anstatt als Zwischenstation auf dem Wege zur Vernunftreligion und als ein Mittel zu dienen, zu einem Hindernis bei ihrer Verwirklichung.
Hegels Rezeption von Kants
religionsphilosophischer Auffassung
Bogen ’h’
(GW 1: 99,29 bis 103,2) (207)
An das vierte und letzte Stück von Kants Schrift knüpft der Anfang von Bogen h unmittelbar an. Darin stellt Hegel, mit den Worten und Begriffen Kants, die Vernunftreligion dem Fetischglauben gegenüber und schließt, dass es
"[...] so wichtig für die Menschheit ist, diese immer mehr zur Vernunft Religion hinzuführen, und den FetischGlauben zu verdrängen" (GW 1, 100,4-5).
Dieses Ziel setzt sich Hegel ausdrücklich. Seine Überzeugung formuliert er in den folgenden Sentenzen:
- erstens, dass „[..] eine allgemeine geistige Kirche nur ein Ideal der Vernunft bleibt“ (GW 1, 100, 6);
- zweitens, dass es "[...] nicht wohl möglich ist, daß eine öffentliche Religion gegründet werden könnte, die alle Möglichkeit, FetischGlauben daraus ziehen benähme" (GW 1, 100, 6-8)]
Diese beiden Abgrenzungen stammen deutlich von Kant, in dessen Werk z.B. zu lesen ist:
“Die erhabene nie völlig erreichbare Idee eines ethischen gemeinen Wesens [...]” (S. 129).
Nachdem Hegel diese beiden Grenzen klar gesetzt hat, wirft er die Frage auf
„[...] wie eine Volksreligion im allgemeinen eingerichtet werden müssen“ (GW 1, 100, 8-9),
um die folgenden zwei Ziele zu erreichen:
- erstens, zu vermeiden, dass sich unter dem Volk „FetischGlauben“ verbreitet (negatives Ziel) (100,9-0);
- zweitens, das Volk zur Vernunftreligion zu führen (positives Ziel) (100,11-12).
Diese Stellungnahme Kant gegenüber zeigt, dass Hegel nicht nur dessen Schrift gelesen, verstanden und aufgenommen hat, sondern dass er sich die religiöse Auffassung von Kant angeeignet hat und diese von dem Punkt aus fortsetzt, wo der Philosoph aus Königsberg aufgehört hatte. Dadurch wird klar, was Hegel meint, als er in den etwas späteren Briefen an Schelling vom Ende Januar bzw. 16. April 1795 schreibt, dass er an eine „Anwendung“ von Kants Philosophie arbeite bzw. deren „Vollendung“ erwarte(208). Genau das ist es, was er seit der Zeit der Fassung Dieser Bogens macht: er wendet die Resultate, zu denen Kant gekommen ist, auf seine Auffassung der Volksreligion an(209). Diese Anwendung ist gleichzeitig eine Vervollständigung, da er dabei versucht, das auszuführen, wovon Kant in dem Kapitel V des dritten Stückes zurückgewichen hatte: den Schritt zu vollziehen von dem theoretischen Verständnis der Richtigkeit der Vernunftreligion als der einzig wahren und absoluten Religion zu der praktischen Entscheidung der Stiftung einer solchen Religion. Durch die Auffassung der möglichen Vereinbarung von historischem Glauben und Vernunftreligion hat Kant einen Ausweg aus dieser notwendigen Folge seiner Theorie gesucht, da es ihm unmöglich schien, eine solche Religion wirklich stiften zu können. Deswegen hat er sich auf den Weg des „Kompromisses“ zwischen Vernunftreligion und hi- storischem Glauben begeben. Dieser Weg hat aber seiner Theorie nur Probleme und Hindernisse bereitet, wie z.B. die Probleme, die er im vierten Stück bespricht. Wenn er konsequent in seinen Gedanken gewesen wäre, hätte er den Schluß gezogen, dass Aufgabe der Zeit sei, das Volk zu erziehen und dadurch zu den reinen moralischen Wahrheiten der Vernunftreligion zu führen. Dadurch hätte er der Stifter der wahren Religion und der Gründer der „unsichtbaren Kirche“ sowie des Reichs Gottes als der ethischen Gesellschaft unter den Menschen werden können. Dieses Anliegen hatte Kant aber nicht: er war ein großer Theoretiker, aber kein Volkserzieher! Diese Anlage besaß dagegen Hegel, der schon seit der Stuttgarter Zeit von der Frage bewegt war, wie der „gemeine Mann“ am erfolgreichsten aufzuklären sei. Er macht sich gar keine Gedanken über die Möglichkeit der Vereinbarung von historischem Glauben und Vernunftreligion: er weiß, dass dies nicht möglich ist. Er setzt das Programm von Kant fort, indem er sich selber zum Träger der Aufgabe macht, das Volk zur Vernunftreligion zu führen. Die oben zitierten Zeilen von Bogen h und insbesondere ihre praxisbezogene Stimmung(210) bezeugen es unbezweifelbar.
Auf den folgenden Seiten von diesem Bogen stellt Hegel weitere Überlegungen über den Begriff „Volksreligion“ an, die eigentlich nichts Neues dazu sagen. Diese Überlegungen sind aber in bezug auf das Verhältnis zu Kant wichtig, da sie einige Begriffe und entsprechende Ausdrücke enthalten, die Hegel von Kant inhaltlich und oft auch wörtlich üübernommen hat. Hier folgt eine Auflistung von diesen Begriffen.
- „Idee der Heiligkeit als die letzte Höhe der Sittlichkeit“ (100,13) (bei Kant: S. 47 und 159)(211).
- „Hang zur Sinnlichkeit“ (100,20) (bei Kant: S. 28: „Unter einem Hange (propensio) verstehe ich [...]“; s. auch das ganze, zweite Kapitel des ersten Teils Von dem Hange zum Bösen in der menschlichen Natur(212);
- Die Ausdrücke „Legalität“ (100,21), „Triebfedern“ (100,22), und „empirischer Charakter“ (101,6; 100,9 und 101,14) befinden sich bei Kant unter anderem in der „Allgemeinen Anmerkung“ zum ersten Teil (s. vor allem S. 46-47). Diese Ausdrücke befinden sich aber auch bei Fichte, der sie seinerseits durch die „Critik der praktischen Vernunft“ rezipiert hat (bei Fichte s. für den Ausdruck „Legalität“ S. 30; für „Triebfeder“ S. 34; für „empirischer Character“ S. 67).
Ab der Textstelle 101,21 schließt Hegel weitere Überlegungen üüber den Begriff „Volksreligion“ an. Er nimmt einige frühere Gedanken wieder auf, wie z.B den Gedanken von der Wichtigkeit des Herzens und der Phantasie in dem Leben des Menschen(213). Diese Überlegungen sind besonders interessant, da er hier versucht, in die neue, entstehende Auffassung der Volksreligion als Vernunftreligion die Hauptmerkmale zu übernehmen, die den Inhalt seiner vorigen Auffassung der Religion als „Sache des Herzens“ bildeten.
Diesbezüglich erklärt er, dass der Mensch „ein so vielseitiges Ding“ ist, „dass sich alles aus ihm machen läßt“ (102,3-4), und, nachdem er vorausgeschickt hat, wie mannigfaltig das Gewebe der Empfindungen der Menschen ist(214), gibt er eine sehr schöne Definition von dem „Geschäft der Volksreligion“, das darin bestehen soll, „dise schöne Fäden der Natur dieser gemäs in ein edles Band zu flechten“ (102,7-8).
Hier zeigt sich, dass die Sprache und die Begriffe, mit denen Hegel jetzt arbeitet, nicht mehr so ausschließlich und direkt aus der Religionsschrift Kants stammen, wie es für den Bogen h bis zu dieser Textstelle der Fall ist, sondern eher an die Terminologie der Bögen a-g erinnern. Das bedeutet, dass Hegel die unmittelbare, intensive Beschäftigung mit der Religionsschrift Kants ab dieser Textstelle schon hinter sich hat, und nachdem er den Hauptinhalt dieses Werkes auf seine Problematik ange- wendet hat, kehrt er zu seinen, vorüübergehend zur Seite gelegten, alten Gedanken zurück und ist im Begriff, diese in seine neue Auffassung der Volksreligion zu übernehmen. Dies wird dadurch bestätigt, dass er in den folgenden Zeilen auch den Unterschied zwischen Volksreligion und Privatreligion wieder aufnimmt, wobei aber jetzt die Religion eine viel größere Rolle bei der Beförderung der Moralität spielt, als es innerhalb der Auffassung der Religion als „Sache des Herzens“ der Fall war. In der ersten Stufe dieses Stadiums war Hegel in der Tat der Meinung, dass die Wirkung der Religion auf die Moralität „mittelbar“(215) bzw. „negativ“ erfolgen solle, wie es in dem schon zitierten(216) Absatz „Meine Absicht ist...“ vom Bogen c zur Sprache kommt, der eine Definition seiner ersten Auffassung der Volksreligion enthält. Innerhalb der neuen Auffassung der Volksreligion als „Vernunftreligion“ ist die Funktion der Religion in der Beförderung der Moralität unentbehrlich geworden. Ihre Aufgabe wird von Hegel jetzt nicht mehr als bloße Hilfe zur Beförderung von dem reinen Gewissen (90,19-25) verstanden, und die Wirkung, die die Religion auf den Menschen üben soll, wird von ihm als „mächtig“ und „unentbehrlich“ bezeichnet:
„VolksReligion unterscheidet sich von privatReligion vornehmlich dadurch, dass der Zwek jener ist, indem sie mächtig auf Einbildungskraft und Herz wirkt, der Seele überhaupt die Kraft und den Enthusiasmus – den Geist einzuhauchen ist gross 1, 102, 10-13).
Ein Vergleich zwischen dieser Stelle, in der Hegel seine neue Auffassung der Volksreligion definiert, mit der Stelle „Meine Absicht ist...“, die die Definition seiner ersten Auffassung derselben enthält, zeigt also, dass sich inzwischen eine große Veränderung in der Entfaltung von Hegels religiöser Problematik ereignet hat. Ursache dafür ist zweifellos die Rezeption von Kants Religionsschrift gewesen. Durch diese Schrift hat Hegel das Ideal der Vernunftreligion als der wahren Religion sowie der Gründung einer allgemeinen ethischen Gesellschaft als einer „unsichtbaren Kirche“ bzw. als „Reich Gottes“ unter den Menschen rezipiert. In diesem Ideal gipfelt die Entwicklung seiner Überlegungen, deren Ausgang im Text 12 zu suchen ist, und für die darin enthaltene Frage der „Rettung“ der Religion in einer aufgeklärten Nation wird eine erste, vollständige Lösung gefunden. Es ist zweifelfrei dieses Ideal, das ab diesem Zeitpunkt „die gute Sache“ bildet, wofür sich die drei Stiftskameraden engagieren wollten.(217)
Diese Lösung ist aus folgenden Gründen als „erste“ und „vollständige“ zu bezeichnen: sie ist nicht endgültig, da Hegel in der Jenaer Zeit, und zwar mindestens ab dem Zeitpunkt der Abfassung des Fragments Fortsetzung des Systems der Sittlichkeit (1802/1805)(218), der Meinung sein wird, dass nur die Philosophie die Aufgabe der Beförderung der Moralität bei einem aufgeklärten Volk übernehmen kann. Diese wird seine endgültige Lösung der Frage nach der Rettung der Religion sein. Die Religion wird als Philosophie in einer aufgeklärten Nation gerettet und „aufgehoben“. Dabei handelt es sich um eine Philosophie, die auch Religion ist, da sie, wie die Religion, in einem absoluten System besteht, von dem die Menschen eindeutige Richtlinien für ihr moralisches Handeln bekommen können. Gegenüüber der Philosophie als „endgültiger“ Lösung ist also die Auffassung der Religion als Vernunftreligion die „erste“ Lösung(219). Sie ist andererseits als die „erste, vollständige“ Lösung zu bezeichnen, da die erste Lösung im engeren Sinne die Auffassung der Religion als „Sache des Herzens“ ist. Diese Auffassung wird von Hegel aber in ihren Grundgedanken in die Auffassung der Vernunftreligion übernommen und kann deshalb eher als eine „Vorbereitung“, ein „erster Versuch“ als eine vollständige, durchdachte Lösung jener ursprünglichen Frage betrachtet werden. Im Grunde genommen können nur zwei echte Lösungen von Hegels Hauptproblematik der Rettung der Religion bei einer aufgeklärten Nation festgestellt werden: die Rettung durch die Vernunftreligion, als Ideal der Jugendzeit, und die Rettung durch die Philosophie, als Verwirklichung dieses Ideals im reifen Alter. Sowohl die erste als auch die zweite Lösung werden von mehreren Stadien und Stufen vorbereitet, und die Auffassung der Rettung der Religion als „Sache des Herzens“ ist eine dieser Stufen.
Die Volksreligion als sinnliche und natürliche Vernunftreligion
Das Zurückgreifen auf die Hauptbegriffe, zu denen Hegel in der ersten Stufe dieses Stadiums gekommen war, erreicht seinen Höhepunkt in den Bögen i-l, mit denen der Text 16 zu Ende geht. Diese Bögen enthalten die Ergebnisse von Hegels Überlegungen aus dem gesamten Stadium, und zwar in einer systematisch geordneten Form. Die Gedanken, die den Inhalt der vorigen Stufen bilden und als Vorstufen zu der neuen Auffassung der Volksreligion gelten, sind darin nach dem Prinzip der „Aufhebung“ als deren „Momente“ enthalten.
Bögen i-l
(von 103,2 bis 114,26)
In diesen Bögen setzt Hegel den Versuch fort, die Hauptmerkmale der Volksreligion festzulegen. Er ist üüberzeugt, dass nur eine der Zeit angepaßte Form der Religion Erfolg bei dem Volk(220) haben, dieses zur Vernunftreligion führen und dadurch dessen Moralität befördern kann.
In dem mit den Worten „Wie mus VolksReligion beschaffen seyn?“ beginnenden Abschnitt (103,14) sind die Hauptmerkmale der Volksreligion nach der neuen Auffassung Hegels systematisch dargestellt.
Die Volksreligion soll auf diese Art beschaffen sein(221):
-“I. Ihre Lehren müssen auf der allgemeinen Vernunft gegründet seyn“, sie soll also „vernünftig“ sein), wie schon Kant in seinem Begriff der „Vernunftreligion“ festgelegt hatte;
-“II. Phantasie, Herz und Sinnlichkeit müssen dabei nicht leer ausgehen“, sie soll also auch „sinnlich“ und nicht nur vernünftig sein, so dass sie das ganze Volk und nicht nur wenige, gelehrte Menschen ansprechen kann(222).
-“III. Sie mus so beschaffen seyn, dass sich alle Bedürfnisse des Lebens - die öffentliche StaatsHandlungen daran anschliessen“, sie soll also „natürlich“ sein, sie darf den „natürlichen Bedürfnissen“ der Menschen, „den Trieben einer wohlgeordneten Sinnlichkeit“, nicht zuwider sein (103,20-21).
Zusammengefasst, muß nach Hegel die Religion Rücksicht auf die konkrete, wirkliche Beschaffenheit der Menschen nehmen, die nicht nur aus Vernunft, sondern auch aus Sinnlichkeit besteht. Wenn das nicht der Fall ist, „sobald eine Scheidewand zwischen Leben und Lehre“ besteht, „so entsteht der Verdacht - dass die Form der Religion einen Fehler habe - entweder dass sie zuviel mit Wortkrämerei umgeht, oder an die Menschen zu grosse frömmelnde Foderungen macht“, wie sich Hegel darüüber sehr treffend ausdrückt (109,29 ff.).
Die Religion darf also keinesfalls ein Gefängnis für den Menschen sein, sie soll ihm eher bei dem Bau des Häuschens helfen, „das der Mensch alsdenn sein eigen nennen kann“, in dem er sich wohl fühlt und dessen Symbol der von Hegel mehrmals zitierte Satz aus Lessings Nathan ist.
Zu diesen Merkmalen sind die „Öffentlichkeit“ und die „Subjektivität“ hinzuzufügen, die in dem Begriff „Volksreligion“, wie Hegel ihn verstand, schon enthalten sind(223).
Alle diese unentbehrlichen Merkmale der idealen Religion (Subjektivität, Öffentlichkeit, Vernünftigkeit, Sinnlichkeit und Natürlichkeit) charakterisieren Hegels Auffassung der Volksreligion, die fähig ist, das Volk zur Vernunftreligion zu führen und dadurch eine reine Moralität in den Menschen zu befördern.
Diese Auffassung kann als die Auffassung von einer vernünftigen, sinnlichen und natürlichen Volksreligion bezeichnet werden, womit auch die Subjektivität und die Öffentlichkeit gemeint sind. Sie ist in engem Anschluss an Kants Religionsschrift und als unmittelbare Anwendung, aber auch Erweiterung derselben zu betrachten, wie der etwas spätere, aber auf die Tübinger Freundschaftsinhalte bezogene Briefwechsel zwischen den drei Stiftkameraden bezeugt.
In den weiteren Abschnitten untersucht Hegel die verschiedenen Hauptmerkmale der Volksreligion im einzelnen. In den Bögen i und k (103,27 bis 106,32) wird das Hauptmerkmal der Vernünftigkeit dargestellt, in dem Bogen k (107,1 bis 109,28) das der Sinnlichkeit und in dem Bogen l (109,29 bis 113,26) sowie in dem Abschnitt 114,1 ff., der nicht eigentlich zum Bogen l gehört, aber eine äberarbeitung desselben enthält(224), das der Natürlichkeit.
Bei der Darstellung der Vernünftigkeit und der Sinnlichkeit der Volksreligion kommt Hegel zu keinem neuen Ergebnis. Im Grunde genommen wiederholt er, was er schon in den entsprechenden Texten geschrieben hatte, und zwar bezieht er sich hinsichtlich des Hauptmerkmals der Vernünftigkeit vor allem auf den Begriff der Vernunftreligion, hinsichtlich des Hauptmerkmals der Sinnlichkeit dagegen auf die Auffassung der Religion als „Sache des Herzens“. In dieser Wiederaufnahme der schon vorher erreichten Ergebnisse, wenngleich in einer insgesamt neuen Gedankenkonstellation, wirkt wieder das Prinzip der „Aufhebung“, nach dem im Leben nichts verloren geht.
Ganz anders sieht es hinsichtlich des Hauptmerkmals der Naturlichkeit aus, von dem im Bogen l sowie in dessen Überarbeitung die Rede ist. Dieses Hauptmerkmal wirkt auf das praktische Leben der Menschen, also auf die Moralität ein. In dem Bogen l wird das Hauptmerkmal der Natürlichkeit der Volksreligion ausführlich und auf poetische Weise dargestellt: Hegel versucht, das Bild von einem natürlichen Leben des Menschen zu rekonstruieren, „das Bild eines Genius der Völker - eines Sohns des Glüks, der Freiheit, eines Zöglings der schönen Phantasie [...]“ (114,3). Diesem Bild des menschlichen Lebens, wie es sein sollte, stellt Hegel das Leben gegenüber, wie es in seiner Zeit tatsächlich war. Dieses andere Bild besitzt negative Merkmale (unfroh, unmutig usw.)(225). Der Gegensatz zwischen diesen beiden Bildern menschlicher Lebensmöglichkeiten hat auch einen historischen Bezug, wie immer bei Hegel: der Genius des frohen Lebens entspricht dem Leben der Griechen und der Genius des unfrohen Lebens nach Ansicht Hegels dem damaligen Leben in Deutschland. Hier erscheint das Vorbild des griechischen Lebens als eines schönen, frohen Lebens wieder, noch ausdrücklicher als es in dem Aufsatz vom 7. August 1788 der Fall war.
Hegel schildert also das Vorbild für das Leben, das von der Volksreligion befördert werden soll. Die Behandlung dieses Themas in dem Bogen l ist innerhalb der gesamten, systematischen Zusammenfassung eine Wiederaufnahme von schon erreichten und befestigten Überzeugungen, wie das auch bei den anderen Hauptmerkmalen der Fall ist. Ein Hinweis auf eine bevorstehende, speziell diesem Hauptmerkmal gewidmete Darstellung lässt sich aber in den üüberlieferten Texten nicht feststellen. Es gibt hier und dort Andeutungen, es fehlt aber eine spezielle Darstellung der Gründe für und gegen dieses Hauptmerkmal, wie diese für die anderen, religiösen Hauptmerkmale vorliegt. Das ist merkwürdig, da es sich dabei um das Hauptmerkmal handelt, das eigentlich wichtiger als alle anderen sein müßte, da die Moral Zweck der Religion ist und nicht umgekehrt. Es ist also zu schließen, dass, wenn sich Hegel so ausführlich mit der religiösen Problematik beschäftigt hat, er sich noch ausführlicher mit der moralischen Problematik beschäftigt haben müßte, die ihm besonders am Herzen lag.
Es entsteht also die Frage, in welchen Texten sich eine solche, di- rekte Beschäftigung Hegels mit der moralischen Problematik befindet, und vor allem, wann diese stattgefunden hat.
Auf die erste Frage kann es keine direkte Antwort geben, da es unter den üüberlieferten Texten aus der Tübinger Zeit keinen gibt, der eine solche, ausführliche Behandlung der moralischen Problematik enthält. Es lässt sich aber ein Hinweis gewinnen, wenn man die Stuttgarter Zeit unter die Lupe nimmt. Diese Zeit endet mit dem Verständnis der Natürlichkeit des Lebens der Griechen; und noch in den ersten Monaten der Tübinger Zeit beschäftigt sich Hegel mit diesem Gedanken. Hiermit wird also eine Verbindung zu dem Zeitpunkt in Hegels geistiger Entwicklung hergestellt, an dem die genetische Rekonstruktion auf Grund des Mangels an erhaltenen Schriften unterbrochen werden musste. Eine nähere, vertiefende Untersuchung dieses Hinweises könnte sehr aufschlussreich in Bezug auf die Klärung der Frage hinsichtlich des Zeitraumes von Hegels direkter Beschäftigung mit der moralischen Problematik sein. Da aber diese Untersuchung die ersten Tübinger Jahre betrifft, die in der Sektion B dieses ersten Teils behandelt werden, wird auch diese Frage dort erörtert.
*
1.3.3.0
DRITTES STADIUM
Die Entstehung von Hegels Programm
der Stiftung einer neuen Volksreligion
Zeitlicher Rahmen: Winterhalbjahr 1793/1794
Hauptquellen: Text 16, Bögen ’i’-’l’; Texte 25-26
Einleitende Überlegungen
Die Texte nach Text 16 offenbaren das Erreichen einer neuen Stufe in der geistigen Entwicklung des jungen Denkers. Auf der Grundlage der kantischen Auffassung einer ’Vernunftreligion’, die inzwischen veröffentlicht wurde, entwickelt Hegel in dem dritten und letzten Stadium dieser Phase (Wintersemester 1794) sein eigenes Ideal der Gründung einer neuen natürlichen und rationalen Volksreligion, um die Aufklärung des einfachen Menschen zu fördern.
In diesen Texten führt der junge Denker hauptsächlich Reflexionen über die christliche Religion durch, um die Gründe für ihr Scheitern als Volksreligion zu verstehen. Die Ergebnisse, zu denen er gelangt, sind vor allem in den Texten 25 und 26 enthalten, mit denen die erste Phase seiner geistigen Entwicklung endet.
In diesem Reflexionsprozess über die christliche Religion lassen sich drei Stufen klar unterscheiden.
*
1.3.3.1
ERSTE STUFE
„Volksreligion“ als „sinnliche und natürliche Religion“
Zeitliche Rahmen: Herbst 1793
Hauptquelle: Text 16, Bögen ’i’ bis ’l’
Das Zurückgreifen auf die Hauptbegriffe, zu denen Hegel in der ersten Stufe dieses Stadiums gekommen war, erreicht seinen Höhepunkt in den Bögen i-l, mit denen der Text 16 zu Ende geht. Diese Bögen enthalten die Ergebnisse von Hegels Überlegungen aus dem gesamten Stadium, und zwar in einer systematisch geordneten Form. Die Gedanken, die den Inhalt der vorigen Stufen bilden und als Vorstufen zu der neuen Auffassung der Volksreligion gelten, sind darin nach dem Prinzip der ’Aufhebung’ als deren ’Momente’ enthalten.
Bögen i-l
(von 103,2 bis 114,26)
In diesen Bögen setzt Hegel den Versuch fort, die Hauptmerkmale der Volksreligion festzulegen. Er ist überzeugt, dass nur eine der Zeit angepasste Form der Religion Erfolg bei dem Volk haben, dieses zur Vernunftreligion führen und dadurch dessen Moralität befördern kann.(228)
In dem mit den Worten "Wie mus VolksReligion beschaffen seyn?" beginnenden Abschnitt (103,14) sind die Hauptmerkmale der Volksreligion nach der neuen Auffassung Hegels systematisch dargestellt€.
Die Volksreligion soll auf diese Art beschaffen sein:(229)
-"I. Ihre Lehren müssen auf der allgemeinen Vernunft gegründet seyn", sie soll also ’vernünftig’ sein), wie schon Kant in seinem Begriff der "Vernunftreligion" festgelegt hatte;
-"II. Phantasie, Herz und Sinnlichkeit müssen dabei nicht leer ausgehen", sie soll also auch ’sinnlich’ und nicht nur vernünftig sein, so dass sie das ganze Volk und nicht nur wenige, gelehrte Menschen ansprechen kann.(230)
-"III. Sie mus so beschaffen seyn, dass sich alle Bedürfnisse des Lebens - die öffentliche StaatsHandlungen daran anschliessen", sie soll also ’natürlich’ sein, sie darf den "natürlichen Bedürfnissen" der Menschen, "den Trieben einer wohlgeordneten Sinnlichkeit", nicht zuwider sein(103,20-21).
Zusammengefasst, muß nach Hegel die Religion Rücksicht auf die konkrete, wirkliche Beschaffenheit der Menschen nehmen, die nicht nur aus Vernunft, sondern auch aus Sinnlichkeit besteht. Wenn das nicht der Fall ist, "sobald eine Scheidewand zwischen Leben und Lehre" besteht, "so entsteht der Verdacht - dass die Form der Religion einen Fehler habe - entweder dass sie zuviel mit Wortkrämerei umgeht, oder an die Menschen zu grosse frömmelnde Foderungen macht", wie sich Hegel darüber sehr treffend ausdrückt (109,29 ff.).
Die Religion darf also keinesfalls ein Gefängnis für den Menschen sein, sie soll ihm eher bei dem Bau des Häuschens helfen, "das der Mensch alsdenn sein eigen nennen kann", in dem er sich wohl fühlt und dessen Symbol der von Hegel mehrmals zitierte Satz aus Lessings Nathan ist.
Zu diesen Merkmalen sind die ’Öffentlichkeit’ und die ’Subjektivität’ hinzuzufügen, €die in dem Begriff ’Volksreligion’, wie Hegel ihn verstand, schon enthalten sind.(231)
Alle diese unentbehrlichen Merkmale der idealen Religion (Subjektivität, Öffentlichkeit, Vernünftigkeit, Sinnlichkeit und Natürlichkeit) charakterisieren Hegels Auffassung der Volksreligion, die fähig ist, das Volk zur Vernunftreligion zu führen und dadurch eine reine Moralität in den Menschen zu befördern.
Diese Auffassung kann als die Auffassung von einer vernünftigen, sinnlichen und natürlichen Volksreligion bezeichnet werden, womit auch die Subjektivität und die Öffentlichkeit gemeint sind. Sie ist in engem Anschluss an Kants Religionsschrift und als unmittelbare Anwendung, aber auch Erweiterung derselben zu betrachten, wie der etwas spätere, aber auf die Tübinger Freundschaftsinhalte bezogene Briefwechsel zwischen den drei Stiftkameraden bezeugt.
In den weiteren Abschnitten untersucht Hegel die verschiedenen Hauptmerkmale der Volksreligion im Einzelnen. In den Bögen i und k (103,27 bis 106,32) wird das Hauptmerkmal der Vernünftigkeit dargestellt, in dem Bogen k (107,1 bis 109,28) das der Sinnlichkeit und in dem Bogen l (109,29 bis 113,26) sowie in dem Abschnitt 114,1 ff., der nicht eigentlich zum Bogen l gehört, aber eine Überarbeitung desselben enthält ), das der Natürlichkeit.
Bei der Darstellung der Vernünftigkeit und der Sinnlichkeit der Volksreligion kommt Hegel zu keinem neuen Ergebnis. Im Grunde genommen wiederholt er, was er schon in den entsprechenden Texten geschrieben hatte, und zwar bezieht er sich hinsichtlich des Hauptmerkmals der Vernünftigkeit vor allem auf den Begriff der Vernunftreligion, hinsichtlich des Hauptmerkmals der Sinnlichkeit dagegen auf die Auffassung der Religion als ’Sache des Herzens’. In dieser Wiederaufnahme der schon vorher erreichten Ergebnisse, wenngleich in einer insgesamt neuen Gedankenkonstellation, wirkt wieder das Prinzip der ’Aufhebung’, nach dem im Leben nichts verloren geht.
Ganz anders sieht es hinsichtlich des Hauptmerkmals der Natürlichkeit aus, von dem im Bogen l sowie in dessen Überarbeitung die Rede ist. Dieses Hauptmerkmal wirkt auf das praktische Leben der Menschen, also auf die Moralität ein. In dem Bogen l wird das Hauptmerkmal der Natürlichkeit der Volksreligion ausführlich und auf poetische Weise dargestellt: Hegel versucht, das Bild von einem natürlichen Leben des Menschen zu rekonstruieren, "das Bild eines Genius der Völker - eines Sohns des Glüks, der Freiheit, eines Zöglings der schönen Phantasie [...]" (114,3).
Diesem Bild des menschlichen Lebens, wie es sein sollte, stellt Hegel das Leben gegenüber, wie es in seiner Zeit tatsächlich war. Dieses andere Bild besitzt negative Merkmale (unfroh, unmutig usw.)!). Der Gegensatz zwischen diesen beiden Bildern menschlicher Lebensmöglichkeiten hat auch einen historischen Bezug, wie immer bei Hegel: der Genius des frohen Lebens entspricht dem Leben der Griechen und der Genius des unfrohen Lebens nach Ansicht Hegels dem damaligen Leben in Deutschland. Hier erscheint das Vorbild des griechischen Lebens als eines schönen, frohen Lebens wieder, noch ausdrücklicher als es in dem Aufsatz vom 7. August 1788 der Fall war.
Hegel schildert also das Vorbild für das Leben, das von der Volksreligion befördert werden soll. Die Behandlung dieses Themas in dem Bogen l ist innerhalb der gesamten, systematischen Zusammenfassung eine Wiederaufnahme von schon erreichten und befestigten Überzeugungen, wie das auch bei den anderen Hauptmerkmalen der Fall ist.
Ein Hinweis auf eine bevorstehende, speziell diesem Hauptmerkmal gewidmete Darstellung läßt sich aber in den überlieferten Texten nicht feststellen. Es gibt hier und dort €Andeutungen, es fehlt aber eine spezielle Darstellung der Gründe für und gegen dieses Hauptmerkmal, wie diese für die anderen, religiösen Hauptmerkmale vorliegt. Das ist merkwürdig, da es sich dabei um das Hauptmerkmal handelt, das eigentlich wichtiger als alle anderen sein müsste, da die Moral Zweck der Religion ist und nicht umgekehrt€. Es ist also zu schließen, dass, wenn sich Hegel so ausführlich mit der religiösen Problematik beschäftigt hat, er sich noch ausführlicher mit der moralischen Problematik beschäftigt haben müsste, die ihm besonders am Herzen lag.
Es entsteht also die Frage, in welchen Texten sich eine solche, direkte Beschäftigung Hegels mit der moralischen Problematik befindet, und vor allem, wann diese stattgefunden hat.
Auf die erste Frage kann es keine direkte Antwort geben, da es unter den überlieferten Texten aus der Tübinger Zeit keinen gibt, der eine solche, ausführliche Behandlung der moralischen Problematik enthält. Es läßt sich aber ein Hinweis gewinnen, wenn man die Stuttgarter Zeit unter die Lupe nimmt. Diese Zeit endet mit dem Verständnis der Natürlichkeit des Lebens der Griechen; und noch in den ersten Monaten der Tübinger Zeit beschäftigt sich Hegel mit diesem Gedanken, wie wir gesehen haben. Hiermit wird also eine Verbindung zu dem Zeitpunkt in Hegels geistiger Entwicklung hergestellt, an dem die genetische Rekonstruktion auf Grund des Mangels an erhaltenen Schriften unterbrochen werden mußte. Eine nähere, vertiefende Untersuchung dieses Hinweises könnte sehr aufschlussreich in bezug auf die Klärung der Frage hinsichtlich des Zeitraumes von Hegels direkter Beschäftigung mit der moralischen Problematik sein. Da aber diese Untersuchung die ersten Tübinger Jahre betrifft, die in der Sektion B dieses ersten Teils behandelt werden, wird auch diese Frage dort erörtert.
*
3.3.2
ZWEITE STUFE
Untauglichkeit der christlichen
Religion als Vernunftreligion
Zeitlicher Rahmen: Winterhalbjahr 1794
Hauptquelle: Text 25
*
Die Lektüre der Texte 17-26 zeigt, dass sich eine Veränderung in dem Blickwinkel ereignet hat, unter dem Hegel jetzt die Problematik der Volksreligion behandelt. Er beschäftigt sich nicht mehr mit der rein theoretischen Frage nach den Hauptmerkmalen der Volksreligion, sondern mit der praktischen Frage hinsichtlich der Stiftung einer solchen Religion. Man merkt also, dass er mit der Festsetzung des Begriffs ’Volksreligion’ fertig ist und sich nun der Verwirklichung derselben zuwendet.
Im Text 17 stellt er z.B. einen Vergleich zwischen Sokrates und Jesus an. Dabei sind nicht die Schlüsse, zu denen er kommt, wichtig, sondern die Tatsache, dass er das Bedürfnis fühlte, sich mit den Persönlichkeiten der größten ’Volkserzieher’ und ’Religionsstifter’ vertraut zu machen. Dies zeigt den Wandel von der reinen Theorie zur Praxis in Hegels damaligem Denken deutlich.
Der Text 18 ist ein kurzes Notizenblatt, das sich mit der Person Jesu als Religionsstifter weiter beschäftigt.
Im Text 19 geht es wieder um etwas Praktisches, und zwar um die äußere Organisation der Kirche.
Text 20 ist interessanter, weil sich darin schon einige Punkte von Hegels Kritik an dem Christentum als Ergebnis der in den vorigen Texten geführten Überlegungen andeuten, und zwar vor allem, dass diese Religion nur als Privatreligion, aber nicht als Volksreligion geeignet sei (vgl. die Textstelle 129,23 ff.).
Auch der Text 21 enthält eine scharfe Kritik der christlichen Reli- gion, und zwar vor allem ihrer pessimistischen Anthropologie (vgl. die Textstelle 131,28 ff.(232), während im Text 22 diese Religion in einem Vergleich mit der Lebensweise der Griechen in Bezug auf die Einstellung zum Tode als Verlierer ausscheidet.
Alle diese einzelnen Kritikpunkte gegenüber der christlichen Religion finden sich in der Zusammenfassung wieder, die Hegel in den folgenden Texten 23-26 gibt.
Der Text 23 enthält dazu eigentlich nur einen Versuch. In diesem Text nimmt Hegel viele Begriffe, die zu seiner Hauptauffassung der Religion gehören, wie z.B. den Unterschied zwischen subjektiver und objektiver Religion, wieder auf. Dabei kommt er aber auch zu einem neuen interessanten Ergebnis, und zwar, dass der Staat die Aufgabe hat, die objektive Religion in eine subjektive umzuwandeln:
„Die objektive Religion subjektiv zu machen mus das grosse Geschäft des Staats seyn [...]“ (139,15-16).
Diesbezüglich fragt sich Hegel, ob die christliche Religion dazu geeignet ist(233), und in dem Versuch, eine Antwort auf diese Frage zu finden, benutzt er Begriffe, die deutlich wieder auf Mendelssohns Jerusalem hinweisen(234). Dabei handelt es sich um eine äberprüfung der christlichen Religion, die Hegel in Stichpunkten durchführt. Bei jedem Stichpunkt (z.B. ihrem geschichtlichen Fundament, oder der von ihr be- gründeten Lebensart(235) fällt Hegel ein kurzes, meistens negatives Urteil. In diesem Text kommt aber Hegel noch zu keiner endgültigen, gesamten Beurteilung der Tauglichkeit der christlichen Religion als Volksreligion. Dies findet in den etwas später entstandenen Texten 24-26 statt.
In dem Text 25 werden von Hegel die Ergebnisse seiner Überlegungen über das Christentum, die er auch im Text 24 führt, systematisiert und zusammengefasst. Aus diesem Grund kann dieser Text als Hegels ’Abrechnung’ mit dem Christentum gelten. Nachdem er die wichtigsten Gesichtspunkte aufgelistet hat(236), unter denen eine Religion betrachtet werden kann, setzt sich Hegel in diesem Text mit der grundlegenden Frage auseinander: „Welches sind die Erfordernisse einer Volksreligion in Ansehung dieser Gesichtspunkte - treffen wir sie bei der christlichen Religion an.“(237)
Hegel kommt zu dem Ergebnis, dass die christliche Religion keine Volksreligion sein kann. Grund dafür ist, dass sie bei der Aufgabe der Beförderung der Moralität in dem Menschen zum Scheitern verurteilt ist, da die Begründung des christlichen Glaubens auf Geschichte und nicht auf Vernunft beruht(238).
Die christliche Religion ist also auf die äußere Autorität der historischen Überlieferung und nicht auf die innere Autorität der menschlichen Vernunft gegründet. Die Folge davon ist, dass Christus von den Menschen als Symbol der Tugend angesehen wird(239). Diese Tugend aber den einzelnen Menschen allein durch den eigenen guten Willen nicht zugänglich ist(240).
Darüüber sagt Hegel explizit:
„Ach man hat uns überredet, dass diese Vermögen fremdartig, dass der Mensch nur in der Reihe der Naturwesen, und zwar verdorbener gehöre - man hat die Idee der Heiligkeit gänzlich isolirt, und allein einem fernem Wesen beigelegt sie mit der Einschränkung unter eine sinnliche Natur für unvereinbar gehalten.“(241)
Und an der gleichen Stelle fügt er hinzu:
„Diese Erniedrigung der menschlichen Natur erlaubte es uns also nicht, in tugendhaften Menschen uns wieder zu erkennen.“
Als „Bild der Tugend“ braucht man nach der Lehre der christlichen Religion einen „Gottmenschen“, und das widersprach Hegels Ansicht, dass die Idee des moralischen Gesetzes „wir am Ende freilich aus uns selbst holen müssen“(242).
Die Erniedrigung des Menschen ist also der Hauptgrund dafür, dass die christliche Religion die Moralität des Menschen nicht befördern kann, weil sie die Natur des Menschen nicht in ihrem positiven Wert anerkennt, sondern als etwas Verdorbenes betrachtet. Hegel konnte mit dieser Auffassung nicht einverstanden sein. Wenngleich er in einer Phase seiner Entwicklung, und zwar in dem Zeitraum Frühling 1793, unter dem Einfluss des ersten Teils von Kants Religionsschrift zu einem ähnlichen Gedanken gekommen war, hatte ihn die Rezeption der anderen Teile dieser Schrift und dann etwas später das Zurückkehren zu den alten, in der Zeit vor dieser Rezeption erarbeiteten Gedanken zu einer insgesamt weder optimistischen noch pessimistischen, sondern ausgeglichenen Anthropologie geführt. Nach dieser Menschenauffassung ist der Mensch von Natur aus weder gut noch böse; er schließt in sich beide Möglichkeiten ein, die des moralischen und die des unmoralischen Verhaltens. Dadurch wird auch die Aufgabe der Religion begründet, die darin besteht, die erste Möglichkeit zu befördern und die zweite zu unterdrücken. Deutlicher Beleg für diese ausgeglichene Anthropologie Hegels am Ende dieser Zeit ist der schon zitierte Satz „Der Mensch ist ein so vielseitiges Ding [...]“ vom Bogen h sowie die Auffassung einer „wohlgeordneten Sinnlichkeit“, die vor allem im Bogen l enthalten ist.
*
1.3.3.3
DRITTE STUFE
Die Entstehung von Hegels Lebensrogramm der Stiftung
einer neuer Volksreligion als Vernunftreligion
Zeitlicher Rahmen: Winter 1794
Hauptquelle: Text 26
Das Scheitern der christlichen Religion als Volksreligion bedeutete für Hegel gleichzeitig das Scheitern jedes historischen Glaubens bei dieser Aufgabe. Jeder historische Glaube - und nicht nur das Christentum - gründet sich auf Geschichte; deshalb, wenn das Christentum aus diesem Grund zur Volksreligion untauglich ist, ist es auch jeder andere historische Glaube.
Was man brauchte, war nach Hegels Meinung eine neue Volksreligion, die die von ihm festgelegten, unentbehrlichen Merkmale besaß und die dadurch den Menschen beibringen könnte, die Tugend in sich selbst und nicht in einem fremden, wenngleich göttlichen Wesen zu erkennen.
Die Zeit war nach seiner Überzeugung reif, um endlich die reine Tugend von der Person Jesu zu trennen und sie als etwas Menschliches, als „das Schöne der menschlichen Natur“ und nicht als etwas Göttliches zu verehren.
Diesen Gedanken spricht Hegel sehr deutlich aus im Text 26 „Jezt braucht die Menge...“, der nach dem Inhalt der letzte der zweiten Gruppe und deswegen dieses Stadiums seiner geistigen Entwicklung zu sein scheint(243):
„Daher wenn nach Jahrhunderten die Menschheit wieder Ideen fähig wird, das Interesse an dem Individuellen verschwindet, die Erfahrung von der Verdorbenheit der Menschen zwar bleibt, aber die Lehre von der Verwor- fenheit des Menschen abnimmt, und dasjenige was uns das Individuum interessant machte, selbst als Idee in ihrer Schönheit nach und nach hervortritt, von uns gedacht unser Eigenthum wird, [wir] das schöne der menschlichen Natur, was wir selbst in das fremde Individuum hineinlegten, [...] wieder als unser eignes Werk freudig erkennen, es uns wieder aneignen, und dadurch Selbstachtung für uns empfinden lernen [...]“(244)
Die neue Volksreligion soll der Religion endlich eine „eigne wahre, selb- ständige Wrde“ geben, wie es in dem letzten Satz dieses Fragments heißt:
„Das System der Religion, das immer die Farbe der Zeit und der Staats- Verfassungen annahm, deren höchste Tugend Demuth, Bewußtsein seines Unvermögens, das alles anders woher - das Böse selbst zum Theil erwartet - wird izt eigne wahre, selbständige Würde erhalten -“)
Damit fügt Hegel seinem Begriff von der Volksreligion ein weiteres Merkmal hinzu, und zwar das von deren ’Absolutheit’. Da die neue Volksreligion nicht mehr „die Farbe der Zeit und der Staatsverfassungen“ annehmen darf, kann man schließen, dass ihre Begründung nach Hegel unabhängig von der Geschichte sein muss. Darin besteht schließlich ihre „eigne wahre, selbständige Würde“. Hier ist also schon Hegels Neigung zu einer letztbegründeten Auffassung des Absoluten erkennbar, die dann in der Wissenschaft der Logik den vollständigsten Ausdruck bekommen hat. In der Tat sind die oben zitierten Sätze aus Text 26 nicht nur in ihrem gedanklichen Inhalt, sondern auch in ihren zeitlichen Bezügen so explizit („Das System der Religion [...] wird izt eigne [...] Würde erhalten“; „[...] wenn nach Jahrhunderten die Menschheit wieder Ideen fähig wird...“), dass man dahinter eine bewusste Absicht, ein Lebensprogramm erkennen kann, und zwar das Programm von der Gründung einer neuen, vernünftigen, sinnlichen, natürlichen und absoluten Volksreligion, die geeignet ist, die Moralität in dem Menschen zu befördern. Diese Absicht darf wohl als Ergebnis der ersten Periode von Hegels Jugendentwicklung (1785-1794) und als sein festes, philosophisches Lebensprogramm betrachtet werden.
*
PHILOSOPHISCH-SYSTEMATISCHES ERGEBNIS DER ERSTEN PERIODE
DER DIALEKTISCHEN ENTWICKLUNG DES HEGELSCHEN DENKENS
Die Stiftung einer neuen ethisch-religiösen Lehre
zur Vereinigung von Mensch und Natur
als das philosophische Ideal von Hegels Leben
*
Einleitende Bemerkungen
Hegels intellektuelle Entwicklung hat in seiner immanenten Dialektik überdeutlich gezeigt, dass seine Studie nicht nur einen historischen Wert hinsichtlich der Entstehung des Systems hat, sondern auch einen echten philosophischen und systematischen Wert, der im Verständnis der letzten Beweggründe dieses Systems besteht.
Zu glauben, dass es in der Entwicklung des Denkens der Philosophen um 1800 einen Sprung von der Religion zur Philosophie gibt, ist ein großer Irrtum, der oft von der Hegel-Forschung gemacht wird. Der Hegel der Zeit vor 1800 ist bereits voll und ganz philosophisch, und dies wird, wie bereits auf den vorangegangenen Seiten gezeigt wurde, in diesem Kapitel noch eindringlicher dargelegt. Zugleich wird Hegel nach 1800 die Religion immer als einen untrennbaren Bestandteil des philosophischen Denkens betrachten, das in seinem höchsten Punkt, sowohl theoretisch, als Erkenntnis des Absoluten, als auch ethisch, als Leben nach absoluten sittlichen Werten, auch für den reifen und systematischen Hegel unzweifelhaft eine volle religiöse Bedeutung annimmt.
Offensichtlich meinte der Philosoph mit Religion immer jenen Begriff der Vernunftreligion, den er in seiner letzten Tübinger Periode von Vater Kant aufgegriffen und nie aufgegeben hat. Sowohl für den jungen als auch für den reifen Hegel macht Religion nur als rationale und daher philosophische Sache Sinn, und Philosophie macht nur als Erkenntnis des Absoluten Sinn und wird daher von einem religiösen Afflatus getragen.
In seiner eigenen intellektuellen Entwicklung erkannte Hegel an einem bestimmten Punkt, dass die Begriffe der religiösen Tradition nicht mehr ausreichten, um das Absolute auszudrücken, und verwendete daher die Begriffe der Logik und der Philosophie. Auf formaler Ebene distanzierte er sich damit von den bis dahin, also um 1800, betriebenen, überwiegend religiösen Studien. Inhaltlich hat er jedoch, wie wir in der zweiten Phase dieser ersten Periode sehen werden, dieselben Inhalte und dieselben ethisch-religiösen Probleme, die er in den vorangegangenen Jahren behandelt hatte, auf eine wirklich philosophische Ebene übertragen, so dass eine sehr deutliche philosophische und inhaltliche Kontinuität zwischen den beiden Phasen besteht. Wenn man dies nicht versteht, verliert man die Möglichkeit, die Schatulle des Systems mit demselben Schlüssel zu öffnen, den sein Gründer benutzt hat, nämlich dem Schlüssel der Religion. Erst durch die Interpretation des Systems als Verwirklichung des jugendlichen religiösen Ideals erlangt es seine volle Bedeutung, die für Hegel selbst der wahre Sinn war.
Wenn nur die Dialektik geeignet ist, das "Ding an sich", d.h. jede Entwicklung in ihrer eigenen immanenten Logik, die eben dialektisch ist, zu begreifen, wie Hegel selbst in der Wissenschaft der Logik lehrt, dann kann sich die eigene geistige Entwicklung des schwäbischen Denkers dieser eisernen ontologischen Logik nicht entziehen, so wie sich auch jede andere geistige Entwicklung oder gar jede Entität in der Welt ihr nicht entziehen kann. Diese ontologische Logik zeigt deutlich eine Kontinuität in Hegels intellektueller Entwicklung, die die Ursache für die scheinbar unterschiedlichen Formen ist, die sein Denken in den verschiedenen Phasen seines Lebens annahm.
Die Hegelschen Texte der Jahre 1793-94 offenbaren, kurz gesagt, eine echte philosophische Grundstruktur, die das existentielle Problem des Menschen, der als Teil des Universums betrachtet wird, an der Wurzel packt; und sie wird die Grundlage für den gesamten weiteren Verlauf der Studien und Veröffentlichungen des Philosophen bleiben. Das Verständnis dieser ursprünglichen Grundphilosophie ist daher grundlegend, um die tiefe Bedeutung des philosophischen Systems seiner Reife zu durchdringen.
In diesen Texten versucht Hegel zu verstehen, wie der Mensch in Harmonie mit sich selbst, mit der Natur und der ihn umgebenden Gesellschaft leben kann, und arbeitet jene grundlegenden Konzepte in Bezug auf Ethik und Weltanschauung aus, die dann die Basis seines gesamten späteren philosophischen Weges sein werden.
Das sind Begriffe, die die Weltgesellschaft der Menschen noch nicht richtig verstanden hat, trotz 190 Jahren Hegelscher Forschung nach dem Tod des Philosophen 1831. Das Ergebnis dieses immer noch fehlenden Verständnisses für die tiefere Bedeutung der Hegelschen dialektischen Philosophie ist die Hauptursache für die zerrissene Welt des 20. Jahrhunderts mit ihren zwei Weltkriegen und der Möglichkeit eines dritten sowie der Umweltkrise, die zunehmend zu einer Bedrohung für das Überleben der Menschheit wird. All dies hat seine Wurzeln in der Spaltung des heutigen Menschen, in seiner Unfähigkeit, mit sich selbst, mit anderen Menschen und mit der umgebenden Natur in Harmonie zu leben. Der junge Hegel hatte zu Beginn des modernen Zeitalters ein gründliches Verständnis für dieses Problem und setzte sich im Laufe seines Lebens und Studiums ernsthaft damit auseinander. Nur eine ebenso ernsthafte und sorgfältige Auseinandersetzung mit seinem Denken kann uns in die Lage versetzen, den verlorenen Sinn für Harmonie mit uns selbst und mit dem Leben wiederzufinden.
ERSTER MOMENT
Das Hegelsche Ideal der Gründung
einer neuen natürlichen Morallehre
Verlassen wir nun das Gebiet der historischen Rekonstruktion, die immer dem philologischen Kurs, bestehend aus Daten, Quellen usw., folgen muss, um uns dem Thema streng vom philosophischen Gesichtspunkt aus zu nähern. Wir werden versuchen, die Auffassung der Welt und des menschlichen Lebens, die dem ethisch-religiösen Ideal Hegels zugrunde liegen, zu verstehen. Indem wir mit den Grundbegriffen der tragenden Struktur dieser Auffassung arbeiten, können wir anschließend in die Tiefe des Ideals vorstoßen. (245)
1. Der Hegelsche Moralbegriff
Das menschliche Wesen ist der Begriff, um den sich alle Überlegungen Hegels in den Jahren 1792 bis 1794 drehen und auf den man alle seine Begriffe beziehen muss. Es handelt sich hierbei um ein Thema, dass uns allen gemeinsam und sehr vertraut ist, und zwar um den Aspekt des Lebens, der uns allen sehr nahe steht, aus dem einfachen Grund, weil es unser Schicksal ist, das ganze Leben hindurch menschliche Beziehungen einzugehen und unser Verhalten dahingehend auszurichten. Darüber hinaus sind wir menschliche Wesen, und aufgrund dieser Identität zwischen uns und dem Begriff des menschlichen Wesens ist uns dieser bekannt und vertraut. Das menschliche Wesen ist daher der Begriff, der dem Menschen am vertrautesten und bekanntesten ist. Und dennoch, wie Hegel in der Phänomenologie später mahnen wird:
„Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt“
(GW 9, S. 26, 21).
Das ursprüngliche und grundlegende Ziel der Überlegungen Hegels ist also (in chronologischer sowie in logischer Hinsicht) die Erkenntnis des menschlichen Wesens. Das menschliche Wesen kann aber von verschiedenen Blickwinkeln aus untersucht werden: als biologisches, psychologisches, soziales Wesen usw. Der junge Hegel reflektiert besonders über den allgemeinen Begriff des menschlichen Wesens, über das Leben des Menschen überhaupt. Der Geist des jungen Studenten bewegt sich in der
„[...] Betrachtung des Menschen überhaupt und seines Lebens...“
(GW 1, S. 84, 24).
Diese Perspektive Hegels beim Studium des Menschen ist weder rein naturalistisch noch sozial-psychologisch, sie untersucht nicht einen Teilaspekt des Begriffes des Menschen, sondern reflektiert über diesen Begriff im Allgemeinen. Es handelt sich um die moralische oder ethische Perspektive, die nicht im Einzelnen die physische oder psychische Verfassung des Menschen untersucht, sondern vielmehr über sein praktisches Handeln, oder, wenn man einen Terminus mit stärkerer philosophischer Aussagekraft verwenden will, über seine Funktion in der ihn umgebenden Welt, sowohl in der natürlichen als auch sozialen Welt, nachdenkt.
Die moralische Perspektive beim Studium des Menschen entspricht im konkreten Menschen, also auf der Ebene der Realität, seiner Moralität bzw. seiner Haltung zum Leben im Allgemeinen, oder genauer gesagt, dem Sinn, den er selbst in seiner Existenz sieht.
Die Moralität selbst, als Existenzsinn, hat noch eine tiefere Bedeutung: Sie hat die Aufgabe, den Menschen in die Natur zu integrieren, indem man ihm eine Richtung für seine Lebensaktivität weist, eine Richtung, die den anderen Lebewesen bereits gleich von ihrer materiellen Konstitution gegeben wird.
So hat z.B. ein Tier sicherlich keine Probleme damit, seiner Existenz einen Sinn zu verleihen, da seine Sensibilität es von Mal zu Mal, einem bestimmten Ziel folgend, in Bewegung setzt. Der Mensch verfügt hingegen, hat es einmal seine materiellen Bedürfnisse befriedigt, nicht nur über weiteres Energiepotential, das er zur Erreichung anderer, nicht rein sinnlicher Ziele einsetzen kann, sondern gelangt er auch zur Befriedigung sinnlicher Impulse durch ethisch-soziale Prozeduren. Bei diesen Prozeduren einhüllt ein geistiger Rahmen die materielle Grundlage des Handelns und gibt ihr einen weiteren, menschlicheren Sinn.
Die Aktivität des Menschen ist daher nicht vollständig auf unmittelbare Weise materiell festgelegt, sondern ist zum Großteil unbestimmt.
Diese Unterscheidung zwischen den beiden Ebenen der Determination des Handelns kann allgemein als Unterschied zwischen ‘Materie’ bzw. unmittelbarer Determination der Tätigkeit und ‘Geist’ bzw. vermittelte Determination der Tätigkeit bezeichnet werden.
Die genaue Bedeutung der oben erwähnten Auffassung, die Moralität habe die Aufgabe, den Menschen in die Natur zu integrieren, kann also folgenderweise erläutert werden. Da der Mensch als Geist nicht unmittelbar durch die Materie in seiner eigenen Aktivität bestimmt ist, sondern sich selbst bestimmt, plant er seine eigene Lebenstätigkeit aufgrund eines bestimmten Ziels oder Zwecks. Dieser Zweck stellt den Sinn seiner Existenz dar und bildet den Mittelpunkt seiner Moralität. Somit kann der Mensch als Geist mit Hilfe der Moralität und deren theoretischen Aspekt, der Moraltheorie, eine eigene Wirkungssphäre haben, die die materiellen Wesen - von den Elementarteilchen bis zu den Tieren - unmittelbar durch ihre physische Konstitution erhalten. Auf diese Art und Weise bekommt auch der Mensch seinen Platz im großen Bild der Natur, in dem jedes Wesen seinen eigenen Wirkungskreis und seinen eigenen Lebensinhalt hat.
Die tiefere Bedeutung der Moralität besteht also darin, dass sie den Menschen, als Geist betrachtet, in die Natur einfügt. Denn die Moralität gibt dem Menschen jene Determination seiner Lebensaktivität zurück, die im Laufe der Evolution durch das Überhandnehmen der geistigen über die materielle Dimension verlorengegangen ist. In diesem Sinn kann man auch von einer ‘Wieder-Einfügung’ sprechen.
Was wir soeben erklärt haben, ist die philosophische Bedeutung des Moralbegriffs oder Ethik - der junge Hegel unterscheidet noch nicht streng zwischen diesen beiden Begriffen, so wie er es hingegen in der reifen Philosophie des Geistes machen wird - und lässt sich vor allem aus den Texten der Jahre 1792-94 herauslesen.
Was die vorgeschlagene Definition der tieferen Bedeutung dieses Begriffes betrifft, also die (Wieder-)Einfügung des Menschen in die Natur, so wird diese Bedeutung in den Texten dieser Periode nicht explizit ausgedrückt, sie soll eher als latente, implizite Überlegung Hegels betrachtet werden, als Fundament und Voraussetzung seiner expliziten Überlegungen, und es ist nun Aufgabe der Forschung, sie dem Bewusstsein zugänglich und dadurch explizit zu machen.
Das Denken des jungen Studenten arbeitete in der Tat mit implizit definierten Begriffen, die, sozusagen, die unbewusste Grundlage seiner expliziten Äußerungen bildeten. Wenn man diese implizite begriffliche Struktur nicht entsprechend interpretiert, so sind auch die explizit ausgedrückten Überlegungen in den überlieferten Texten der Jahre 1792-94 unverständlich und als Folge wird auch die philosophische Bedeutung des reifen philosophischen Systems unverständlich bleiben, dessen Wurzeln ohne jede Unterbrechung in den Manuskripten der Jugendperiode zu finden sind (246).
2. Der Hegelsche Moralbegriff und die wichtigsten Morallehren der Epoche
Nachdem wir den Hegelschen Moralbegriff bestimmt haben, müssen wir nun den Vergleich genauer untersuchen, den der junge Denker zwischen seinem eigenen impliziten Moralbegriff und den wichtigsten Morallehren der Epoche zog.
Dem Hegelschen Moralbegriff und der daraus folgenden Moralität stand die reale Moralität seiner Zeit und die damaligen Moraltheorien, die diese begründeten, gegenüber. Wie aus der Lektüre seiner damaligen Texte hervorgeht, hatte Hegel ohne jeden Zweifel bei der Ausarbeitung seines eigenen Moralbegriffs intensive Vergleiche mit diesen Moraltheorien angestellt.
Der Hegelsche Moralbegriff ist soeben erläutert worden: Die Moral muss den Menschen in die Natur integrieren, und ihm dadurch helfen, die Kluft zwischen Geist und Materie, die mit dem Entstehen des Geistes verknüpft ist, zu überwinden. Bei der Ausarbeitung seines eigenen Moralbegriffes stellt sich Hegel die Frage, ob die Moraltheorien seiner Zeit den Menschen wieder in die Natur einfügen könnten oder nicht. Deshalb zieht er einen Vergleich zwischen seinem eigenen Moralbegriff und den damaligen Moraltheorien.
Die Moralität der Menschen im damaligen Württemberg war von zwei grundlegenden Theorien geprägt: auf der einen Seite die traditionelle religiöse Moral, das protestantische, institutionelle Christentum; auf der anderen Seite die revolutionäre, von Aufklärung und Kant geprägte Morallehre. Hegel kommt dank seiner theologischen Studien im protestantischen Seminar von Tübingen in direkten Kontakt mit diesen beiden Lehren. Im Tübinger Stift fanden damals heftige Auseinandersetzungen zwischen den Hauptvertretern dieser illustren Einrichtung, der Hochburg des sogenannten ‘biblischen Supranaturalismus’, und einigen Studenten, die Kant Anhänger waren, statt. (247)
Sehen wir uns nun die Merkmale an, die Hegels Meinung nach diese beiden Moralauffassungen vereinigen bzw. voneinander unterscheiden, natürlich im Zusammenhang mit dem Moralbegriff als Einfügung des Menschen in die Natur. Dieser Moralbegriff wirkte in all seinen Überlegungen unterschwellig.
Da sich beide Lehren mit Moral beschäftigen, veranlassen sie den Menschen dazu, im Leben ein bestimmtes Verhalten zu haben, und somit der eigenen Existenz einen bestimmten Sinn zu geben. In gewisser Hinsicht fügen sie den Menschen daher in die Natur hinein, in der eben jedes Lebewesen seinen eigenen Platz hat. Laut Hegel gelingt es diesen Lehren jedoch nicht vollständig, den Menschen wieder in die Natur zu integrieren, da sie einen gewissen Riss, eine Kluft zwischen Geist und Materie, Seele und Körper offen lassen.
Nach der Morallehre des institutionellen Christentums liegt der Sinn der menschlichen Existenz nicht in diesem, sondern in einem anderen Leben, das nach dem physischen Tod des Individuums stattfinden sollte. Im Vergleich zu diesem zweiten und wahren Leben habe die irdische Existenz nur einen vorbereitenden Wert. Diese moralische Grundanschauung des institutionellen Christentums, hier natürlich sehr vereinfacht ausgedrückt und auf das Wesentliche reduziert, gibt der Existenz des Menschen einen Sinn und entspricht damit weitgehend dem Hegelschen Moralbegriff. Weil sie jedoch diesen Lebenssinn nicht in diesem Leben und in dieser irdischen Existenz sieht, lässt sie eine deutliche Trennung zwischen dem Menschen und der Natur, in der er lebt, übrig.
Aber auch die Kantische Morallehre erlaubt laut Hegel keine vollkommene Integration des Menschen in die Natur. Sie legt zwar in Wahrheit den Sinn der menschlichen Existenz in dieses Leben, insbesondere in Form der Realisierung eines rationalen Lebens,, interpretiert dann aber diesen Sinn des Lebens als Frucht einer kalten intellektuellen Realisierung von vorgefertigten und auswendig gelernten Moralregeln (Campe) oder als abstrakte Pflicht (einen Imperativ), die die Vernunft der Sensibilität und der Spontaneität auferlegen muss. Überließe man diese sich selbst, so würden sie den Menschen zu einer „unmoralischen“, also sinnlosen Existenz führen.
Hegels Meinung nach überwindet diese letzte Anschauung die noch immer vorhandene Spaltung in der Morallehre des institutionellen Christentums und scheint sie daher eher dem von ihm als Beurteilungsparameter ausgearbeiteten Moralbegriff zu entsprechen. Sie stellt jedoch die Spaltung zwischen dem Menschen und der Natur auf zwischenmenschlicher Ebene als Spaltung zwischen Vernunft und Sinnlichkeit wieder her. Für diese rein intellektuelle Anschauungsweise der Moral ist der Sinn, den der Geist als Vernunft der eigenen, auch aus Sinnlichkeit bestehenden Existenz gibt, ein Sinn, der der Handlungsrichtung widerspricht, die dem Menschen von seiner sinnlichen Komponente gewiesen wird. Sie bringt daher die vom Christentum hinterlassene Spaltung zwischen einem glücklichen, tugendhaften und bedeutungsvollen Leben im Himmel und einem unglücklichen, niederträchtigen und unbedeutenden Leben auf der Erde in den Menschen zurück: Danach wäre die Vernunft mit dem Guten und die Sinnlichkeit mit dem Schlechten gleichzusetzen. Das Ergebnis ist daher die noch nicht vollständig beseitigte Trennung zwischen Geist und Materie, Seele und Körper, und demzufolge ist der Mensch noch nicht in die Natur eingefügt, da diese im Menschen nicht nur aus Vernunft, sondern auch aus Sinnlichkeit besteht.
Daraus lässt sich schließen, dass weder die Moral des institutionellen Christentums noch die aufklärerische Moral von Campe-Kant dem Moralbegriff entsprechen, der in noch impliziter Form im Geist des jungen Philosophen wirkte.
3. Die Ausarbeitung des Ideals einer neuen natürlichen Morallehre
Auf der Basis dieser Schlussfolgerungen formuliert der junge Hegel das Ideal, das später sein gesamtes Denken beherrschen wird: Es handelt sich um den philosophischen Plan der Schaffung einer neuen Morallehre, die seinem eigenen Begriff der Moralität angemessen und daher imstande sei sollte, den Menschen vollkommen in die Natur einzufügen.
Zur Erreichung dieses Ziels musste diese Lehre den Weg weiterverfolgen, der schon vom institutionellen Christentum und Campe/Kant gegangen wurde. Das Ergebnis dieser Tradition war die Kantische Morallehre. An Hegel lag es nun, die Kluft zwischen Geist und Materie bzw. Vernunft und Sinnlichkeit, die im Kantischen System noch bestand, zu überwinden, um den Menschen vollständig in die Natur zu integrieren und dadurch den echten Sinn der menschlichen Existenz in der Welt zu verstehen.
Somit erhält also das Hegelsche Moralideal die Aufgabe der Lösung dieser Kluft zwischen Vernunft und Sinnlichkeit. Der junge Denker meint, Vernunft und Sinnlichkeit miteinander zu vereinen, indem er die Vernunft nicht als ‚kalt‘, sondern auch sinnliche Komponenten enthaltend versteht, und die Sinnlichkeit nicht als ‚schlecht‘, sondern in sich bereits vernünftig sieht. In der Sprache der Moralität bedeutet das, dass der Sinn der Existenz, den dem Menschen von der Vernunft gewiesen wird, kein Imperativ, also ein dem Menschen innerer oder äußerer Befehl, sein darf, sondern dass sich spontan aus seiner natürlichen Konstitution ergeben muss.
Es handelt sich in der Tat um die Problematik der Triebfedern bzw. Beweggründe der praktischen Vernunft und geht auf die Hegelsche direkte bzw. indirekte Aufnahme des Inhaltes des Kapitels Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft, das zur Analytik der reinen praktischen Vernunft gehört. Dieses Kapitel stand nämlich im Mittelpunkt der Diskussionen über die Grundlagen der Moralität, die damals im Tübinger Stift stattfanden, und zwar vor allem dank dem philosophischen Interesse, das der Dozent für Philosophie, Flatt, und einige der ‘Repetenten’, wie z.B. Rapp und Mauchart, diesem Thema entgegenbrachten. (248)
An einigen Stellen seiner derzeitigen Texte vergibt Hegel präzise, wenn auch nicht explizite, Bezeichnungen an die Morallehren des institutionellen Christentums und von Kant: Die erstere wird von ihm im Vergleich zu seinem eigenen Begriff von Moral und Moralität als ‚übernatürlich‘ bezeichnet, da sie den Sinn der menschlichen Existenz in einer anderen ‚übernatürlichen‘ Welt und nicht in dieser Natur, in diesem Leben sieht; die zweite Lehre wird von ihm als ‚antinatürlich‘ angesehen, da für sie der Sinn der menschlichen Existenz ein Befehl ist, den die Vernunft der Sinnlichkeit und damit der natürlichen und materiellen Seite des Menschen geben muss.
Die neue Moral muss daher seiner Meinung nach eine ‚natürliche‘ Moral sein, d.h., sie muss dem Menschen einen Lebenssinn weisen, der in der Sinnlichkeit wurzelt, die somit als einen vollberechtigten Teil der menschlichen Konstitution angesehen wird.
Dieser Sinn des menschlichen Lebens muss im Wesentlichen in der natürlichen Beschaffenheit des Menschen enthalten sein, bzw. muss die Bestimmung darstellen, die der Mensch, wie jedes andere Wesen, in dieser Natur, in dieser Welt hat. Der Sinn, den der Mensch seiner eigenen Existenz geben muss, soll also dem Sinn entsprechen, den seine Existenz ‚per natura‘ hat, er soll mit anderen Worten dem Platz entsprechen, den der Mensch im schrittweisen Auftauchen der verschiedenen Arten im Schoß der Entwicklung der Natur einnimmt.
Dieses Ideal, das Hegel in dieser frühen Periode seines Lebens ausarbeitet und später durch das reife philosophische System realisieren wird (249), entspricht dem Begriff von Moral und Moralität, der in seinem damaligen Denken latent wirkte.
ZWEITER MOMENT
Das Verständnis der menschlichen Natur als Voraussetzung
für die Gründung einer neuen natürlichen Morallehre
Die Aufgabe der natürlichen Moral ist es, dem Menschen einen Sinn seiner Existenz zu weisen, der sich allein auf seine Natur stützen soll. Denn der Mensch ist Teil des Universums und hat darin eine eigene natürliche Bestimmung, die, wie auch bei jedem anderen natürlichem Organismus, in der Struktur seines Wesens oder Natur eingeprägt ist.
Aus diesen systematischen Überlegungen zum Begriff der Moral und der Natürlichkeit lässt sich die folgende historische Schlussfolgerung ableiten: Hegel muss sich an einem bestimmten Punkt seiner frühen Denkentwicklung, auf jeden Fall nach der Erarbeitung des natürlichen Moralideals (250), mit der philosophischen Frage nach der Bestimmung der Natur des Menschen auseinandergesetzt haben (251). Denn, wenn die neue Moral dem Menschen einen Lebenssinn weisen soll, der nicht auf abstrakten oder unnatürlichen Befehlen - sei es von einer göttlichen, externen oder einer inneren, rationalen Autorität -, sondern auf seinem wahren Wesen oder Natur aufbaut, so muss man zuerst einmal genau festhalten, was man unter ‘Natur des Menschen’ überhaupt versteht.
Aber was bedeutet es, die Natur des Menschen zu verstehen? Versuchen wir, eine Antwort auf diese Frage zu geben, indem wir den impliziten Überlegungen Hegels folgen. Diese lassen sich aus den Texten dieser ersten Periode seiner Jugendentwicklung genau rekonstruieren.
DRITTER MOMENT
Das Hegelsche Ideal einer neuen rationalen Volksreligion
1. Der Hegelsche Religionsbegriff
Bei seinen Überlegungen über den Moralbegriff hat sich Hegel sicher mit der Frage nach dem eigenen Lebenssinn bzw. dem Menschen im Allgemeinen auseinandergesetzt.(252) Diese Problematik entspricht jenem Moment im Leben des heranwachsenden Menschen in dem er sich fragt: Was soll ich eigentlich mit meinem Leben anfangen?
Diese weitere Problematik des jungen Hegel ist hingegen etwas theoretischer, da sie die Determination der Natur des Menschen betrifft, also die Suche nach der eigenen Identität, die durch die geistige Reifung und die Überwindung der ursprünglichen Identität mit sich selbst verloren gegangen ist.(253) Dieser Problemkreis kann mit der Frage: „Wer bin ich?“ zusammengefasst werden.
Die Selbstbestimmung der Vernunft, denn die menschliche Suche nach einer eigenen Identität ist nichts anderes als die sich selbst bestimmende Vernunft, kann nur dann erfolgreich sein, wenn man sich mit dem direkten Gegenteil in Verbindung setzt: mit der Welt. Bei dieser Identitätssuche seitens des Menschen finden wir in der Tat das gleiche Terminuspaar und die entsprechenden Begriffe wie schon bei der Moralproblematik: der Mensch und die Natur. Bei der Moralproblematik treten der Mensch und die Natur als ‚Geist‘ und ‚Materie‘ auf, während bei dieser neuen Problematik der Religion und Metaphysik sie als ‚Vernunft‘ und ‚Welt‘ erscheinen.
An diesem Punkt treten also diese beiden Begriffe in Erscheinung: Vernunft und Welt. Die Vernunft ist auf der Suche nach der Erkenntnis seiner eigenen Identität und, um diese zu erlangen, muss sie sich mit der Welt auseinandersetzen. Aus dieser schwierigen Begegnung zwischen dem Begriff der Vernunft und dem Begriff der Welt im Menschen, d.h. in der Vernunft selbst, ergibt sich eine neue Frage, die eine Erweiterung der vorhergegangenen Frage nach der Identität des Menschen und daher die echte religiös-metaphysische Frage darstellt: „Was ist das rationale Grundprinzip, also der ‘Logos’ der Welt?“
Diese Frage nach dem rationalen Grundprinzip der Welt ist dieselbe wie zuvor („wer bin ich?“), aber sie bezieht sich nicht mehr nur auf die menschliche Vernunft, sondern auf die Welt. Jetzt ist es die Welt, die sich im Menschen die Frage stellt: „Wer bzw. was bin ich?“ Der Mensch, ein einzelner Teil der Totalität des Existierenden, scheint sich selbst zu fragen, was sein eigenes natürliches Wesen also seine eigene Vernunft sei. Die Wahrheit aber, die in diesem Anschein verborgen ist, ist, dass der Mensch das Mittel darstellt, mit dem sich die Totalität des Existierenden - die Welt, das Universum - über sich selbst, ihr eigenes Wesen hinterfragt.
Der Begriff, der in der Frage nach dem Grundprinzip der Welt steckt, ist der Begriff der Religion in Allgemeinen, oder, was das gleiche bedeutet, der Begriff der Metaphysik (der Begriff der Religion, bzw. die Religion ohne ihre Vorstellungen und mythologischen Aspekte, entspricht der Metaphysik).(254) Dieser Begriff enthält als seine einseitigen Momente sowohl die Determination der Natur des Menschen, also die Selbstbestimmung der Vernunft als Teil der Welt, als auch die Bestimmung des Wesens der Welt.
Die Determination dieser beiden Begriffe, des Begriffs der Vernunft und der Welt, ist daher nur innerhalb der Determination des Grundprinzips der Welt möglich. Dieses präsentiert sich dem Menschen als Frage nach der eigenen Identität, wenn diese nicht als einfache Frage nach der Identität des eigenen individuellen und spezifischen Seins mit einem bestimmten Charakter, einer persönlichen Geschichte formuliert wird, sondern als Frage nach dem eigenen universellen Wesen, das auch den anderen Menschen gemeinsam ist.
Diese Determination der Natur des Menschen und gleichzeitig des Grundprinzips der Welt bildet den Religionsbegriff, der im Denken des jungen Stiftlers implizit wirkte.
Schließlich versteht der junge Hegel, dass er zunächst das Grundprinzip der Welt begreifen muss, wenn er die Natur des Menschen verstehen will. Erst wenn er einmal die Antwort auf die Frage nach dem Grundprinzip der Welt gefunden haben wird, wird er imstande sein, die Frage nach der Natur des Menschen zu beantworten und somit auch die neue natürliche Morallehre zu begründen.
Auf diese Weise hat das Hegelsche Denken eine neue Phase seiner Entwicklung erreicht: der junge Philosoph ist von der Moralproblematik, die mit der Ausarbeitung des Ideals der Begründung einer neuen Morallehre gelöst wurde, zur religiösen Problematik übergegangen.
2. Der Hegelsche Religionsbegriff und die wichtigsten Religionslehren der Epoche
Nachdem Hegel die Notwendigkeit begriffen hatte, das Verhältnis zwischen Vernunft und Welt durch eine Auffassung des ersten Prinzips der Welt, also durch eine Religion, zu verstehen, vergleicht er seinen eigenen Religionsbegriff mit den entsprechenden Religions- und Metaphysiklehren seiner Epoche.(255)
Auch im Fall der Religions- und Metaphysiklehre gab es zwei Hauptsysteme zur Orientierung, einerseits die protestantische Theologie des institutionellen Christentums und andererseits die philosophisch-religiöse Auffassung von Kant.
Wie wir bereits gesehen haben, lag für den jungen Hegel die Aufgabe der Religion darin, die Beziehung zwischen der Vernunft und der Welt durch das Erfassen des Grundprinzips der Welt zu verstehen, um dann von dieser Erkenntnis den Begriff der Natur des Menschen abzuleiten. Der Begriff des Grundprinzips der Welt stellt in der Tat die Vereinigung von Mensch und Natur auf religiöser Ebene von Vernunft und Welt dar. Nur durch diese Erkenntnis kann der Mensch seine Einfügung in die Natur bewirken, da er auf diese Weise seine eigene natürliche Bestimmung, also den Sinn seiner Existenz in dieser Welt, erkennen kann.
Auf der Grundlage dieser impliziten Überlegungen beurteilt Hegel an diesem Punkt seiner gedanklichen Entwicklung den Wert der beiden wichtigsten Religionstheorien seiner Zeit. Er legt dabei folgenden Maßstab an: Die für die Gründung einer neuen natürlichen Moral geeignete Religionslehre muss eine Weltauffassung schaffen, die die Vernunft in die Welt einfügt. Sie muss daher das Grundprinzip der Welt verstehen. Der Begriff des Grundprinzips der Welt wird dann durch die Rückführung der Vernunft in die Welt zur Erkenntnis des natürlichen Wesens des Menschen führen und wird somit auf der Ebene der Moral die Einfügung des Geistes in die Materie ermöglichen.
Die religiöse Lehre der damaligen christlich-protestantischen Theologie erfasst laut Hegel ein Weltprinzip und führt daher unter diesem Aspekt die Vernunft in die Welt zurück. Denn das Grundprinzip der christlichen Religion, Gott, stellt die rationale Schöpfungsaktivität der Welt dar und die menschliche Vernunft ist davon die irdische Form. Somit sind Vernunft und Welt in der christlichen Theologie nicht zwei getrennte Entitäten, sondern zwei unterschiedliche Aspekte der einzigen Realität, vereint durch eine gemeinsame Ursache: Gott.
Die christliche Religion integriert also die Vernunft in die Welt, weil sie das erste Prinzip der Welt schafft. Diese Integration bzw. Einfügung der Vernunft in die Welt geschieht jedoch im Christentum nicht auf vollkommen rationale Art und Weise, weil das Grundprinzip der Welt gemeinsam mit anderen Determinationen vorgestellt wird, die nicht rein rational und objektiv, sondern zum Teil auch sinnlich und daher subjektiv sind. Deshalb ist die christliche Integration der Vernunft in die Welt nicht vollständig, denn diese weiteren Determinationen des Grundprinzips zur Konzeption einer Entität gelangen, die nur schwer von der aufgeklärten menschlichen Vernunft akzeptiert werden kann.
Die Kantische Religionsauffassung(256) geht Hegels Meinung nach über die Grenze der christlichen institutionellen Religion hinaus, da sie das Grundprinzip der Welt rein rational erfasst. Andererseits entgeht ihr genau das grundlegende Merkmal des Begriffs vom Grundprinzip, und zwar die Tatsache, das gemeinsame Prinzip der Welt und der Vernunft und daher ihre Vereinigung zu sein. Das Grundprinzip der Welt nach der kritischen Philosophie von Kant, die reine Vernunft, bildet in der Tat das Fundament der Erscheinungswelt und nicht das der objektiven, reellen Welt. Denn die reine Vernunft ist zwar das Grundprinzip der Welt aber in dem Sinne, dass sie dem menschlichen Subjekt durch die Kategorien die Erkenntnis der Welt erlaubt. Diese Erkenntnis bezieht sich jedoch nicht auf die Welt in ihrem an- und für-sich Sein, das ‚Ding an sich‘, sondern in ihrem Erscheinen auf die menschliche Vernunft.
Dies hat zur Folge, dass auch die kritische Philosophie von Kant die Vernunft nicht vollständig in die Welt integriert, sondern zwischen diesen beiden Aspekten eine Trennung, eine Spaltung offen lässt. Diese Lehre besagt, dass das menschliche Subjekt tatsächlich keine Möglichkeit habe, zu einer objektiven und sicheren Erkenntnis des Grundprinzips der Welt zu gelangen.
3. Die Ausarbeitung des Ideals einer neuen rationalen Volksreligion
Aus dem Vergleich zwischen seinem eigenen Religionsbegriff und den beiden damalig herrschenden Religionslehren geht Hegel bereichert hervor, und zwar mit dem Ideal der Gründung einer neuen Lehre über die Beziehung Vernunft-Welt. Denn er vereint diese beiden Auffassungen, indem er das in Einklang bringt, was darin seinem eigenen Religionsbegriff entspricht und umgekehrt alles beseitigt, was diesem nicht entspricht.
Auf der Basis der zuvor angestellten Erwägungen kann man den impliziten Gedankengang Hegels wie folgt rekonstruieren: Die Religionslehre des Christentums erkennt zwar das Grundprinzip der Welt und führt daher zu einer Einheit zwischen der Vernunft und ihrem Gegenteil, der Welt. Sie überzieht jedoch diese Einheit durch eine Vielzahl an subjektiven Vorstellungen, die sie nicht rational beweisen kann. Die kritische Metaphysik Kants wiederum setzt sich mit der religiösen Frage nach dem Grundprinzip der Welt rational auseinander, führt aber zu einem Ergebnis, das, wenn auch aus anderen Gründen, wieder innerhalb der Grenzen der menschlichen Subjektivität eingeschlossen bleibt.
Die christliche Religion ist eine ‘Volksreligion’(257), weil sie eine objektive Einheit zwischen Vernunft und Welt schafft, wenn auch innerhalb gewisser Grenzen. Die Problematik rund um das Grundprinzip der Welt löst sie in der Tat mit einer Antwort, die vom gemeinen Menschen verwendet und somit zur Volksreligion werden kann. Diese Religion ist allerdings nicht vollständig ‚rational‘, da sie den Begriff des Grundprinzips der Welt in der vorstellenden und subjektiven Form des Glaubens und nicht in der begrifflichen und objektiven Form der Vernunft ausdrückt.(258)
Die Kantische Religionsphilosophie bzw. die von Kant vorgeschlagene Lösung des Problems der Beziehung Vernunft-Welt, gibt uns insbesondere aufgrund der Überlegungen, die der Denker aus Königsberg in seiner Religionsschrift(259) durchführte, eine rein begriffliche Antwort auf diese Frage und stellt daher eine ‘Vernunftreligion’(260) dar. Da sie aber das Grundprinzip der Welt letzen Endes auf etwas Subjektives und Illusorisches (ein Ideal der reinen Vernunft) reduziert, ist sie nicht für das Volk geeignet und kann keine ‘Volksreligion’ werden, da sie nicht in der Lage ist, das allen Menschen gemeinsame Bedürfnis nach einer Vorstellung vom Grundprinzip der Welt zu erfüllen und dadurch ihre eigene subjektive Vernunft in die objektive Welt wiedereinzufügen.
Aus dieser Analyse der positiven und negativen Merkmale der beiden Hauptlösungen der religiösen Problematik geht schließlich das Hegelsche religiös-metaphysische Ideal hervor: Der junge Student nämlich formuliert explizit und unmissverständlich(261) das Ideal der Stiftung einer neuen Religion. Diese soll ‘populär’ wie die christliche Religion und ‘rational’ wie die Kantische Religionsauffassung sein.
Was das Merkmal der ‘Popularität’ betrifft, so muss die neue Religion für Hegel ein Grundprinzip der Welt erfassen, das objektiv sein soll und dadurch das Bedürfnis des gemeinen Menschen befriedigen kann, eine Antwort auf die Frage der Vernunft nach dem Grundprinzip der Welt zu geben.
Das Merkmal der ‘Rationalität’ hingegen beinhaltet, dass die neue Religion das Grundprinzip der Welt in Begriffen erfassen muss und somit ein Wissen und kein Glaube bilden soll.
Abschließende Überlegungen über die Ergebnisse Hegels aus der ersten Periode der Entwicklung seines Denkens
Durch die Verschmelzung der christlichen Religion mit der kritischen Philosophie Kants hat der junge Hegel also ca. 1794 das Ideal von der Gründung einer neuen, ethisch-religiösen Lehre zur Wiedereinfügung des Menschen in die Natur formuliert. Diese Lehre soll ‚natürlich‘ als Moral und ‚populär‘ sowie ‚rational‘ als Religion sein.
Sehen wir uns nun an, welche Verbindung zwischen diesen beiden Komponenten des ethisch-religiösen Ideals Hegels existiert.
Das Moralideal hängt vom Religionsideal ab, weil dieses durch die Erkenntnis des Grundprinzips der Welt zur Erkenntnis des natürlichen Wesens des Menschen führen muss. Denn nur das Verständnis des Grundprinzips der Welt und des spezifischen Sinnes des menschlichen Lebens auf der Welt ermöglicht die Formulierung einer natürlichen Morallehre. Der logische Übergang vom Ideal einer populären und rationalen Volksreligion zum natürlichen Moralideal erfolgt dadurch, dass zuerst die Vernunft in die Welt wiedereingefügt werden muss, um dann den Geist in die Materie zurückzuführen. Am Ende aber wird die Wiedereinfügung des Menschen in die Natur das vollendete Werk sein.
Hegel hat somit durch diese aufmerksamen Überlegungen schon in seinen Jungendjahren die stabile und bereits hochphilosophische Grundlage für seine weitere geistige Entwicklung gelegt, die nichts anderes sein wird als die Realisierung dieses ursprünglichen Ideals.
*
2.0
ZWEITE PERIODE
(1794-1806)
Der Prozess der Verwirklichung des Jugendideals
Einleitende Bemerkungen: Umrisse der immanenten Entwicklung von Hegels Denken von 1794 bis 1806
Die erste Periode der immanenten Entwicklung des Hegelschen Denkens schließt zwischen Ende 1793 und der ersten Hälfte des Jahres 1794, dem Moment der Abfassung der letzten erhaltenen Texte, die die Reflexionen des jungen „Stiftler“ über die ihm am Herzen liegenden ethisch-religiösen Probleme enthalten ihn. Das Ergebnis dieser Überlegungen ist die Formulierung des Ideals der Begründung einer neuen natürlichen, volkstümlichen und rationalen ethisch-religiösen Lehre, die den Menschen in die Natur, vor allem auf der religiösen Ebene der Vernunft und der Welt, rational wieder einsetzen kann das erste Prinzip der Welt zu begreifen, und zweitens auf der ethischen Ebene von Geist und Materie, ausgehend vom Begriff der menschlichen Natur, den natürlichen Sinn des Lebens des Menschen in der Welt zu begreifen.
Wir haben bereits gesehen, dass sowohl die traditionellen Lösungen dieses Problems, die institutionelle christliche Religion als auch die aufklärerisch-kantische Philosophie, nach Ansicht des Jugendlichen nicht alle Bedingungen für eine vollständige Wiedereingliederung des Menschen in die Natur respektieren; Aber gerade aus der Kritik der negativen Seiten dieser Lehren und der Verschmelzung ihrer positiven Aspekte gelingt es Hegel, die Bedingungen zu verstehen, die das neue religiöse Prinzip (Popularität und Rationalität) und das neue ethische Ideal ( Natürlichkeit).
Am Ende dieser ersten Periode der Entwicklung seines eigenen Denkens war Hegel gerade vierundzwanzig Jahre alt, offenbar ein wenig zu kurz, um ernsthaft eine neue ethisch-religiöse Lehre zu begründen. Tatsächlich hat er in der zweiten Periode eine Operation durchgeführt, die den Ernst und die Tiefe seines Charakters demonstriert und die dann eine entscheidende Bedeutung für seine spätere Reifung als Philosoph hatte. Diese Operation verschaffte ihm tatsächlich eine konzeptionelle Grundlage für spekulatives Denken, die es ihm wiederum ermöglichte, einige Jahre später eine neue ethisch-religiöse Lehre zu gründen, die wirklich mit der Geschichte des Menschen verbunden und daher tatsächlich geeignet war, die dritte Form von zu werden Religiosität der Menschheit, nach polytheistischer und monotheistischer Religiosität. [75]
Bis zu seinem 33. Lebensjahr fragte Hegel in der Stille seines kleinen Zimmers die Geschichte der Menschheit um Rat, wie man die neue Religion gründet, welche Konzepte man als Grundlage verwendet und so weiter. Und die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Geschichte ist für den Menschen tatsächlich das, was die Erde für den Baum ist. Wie der Baum seine Wurzeln tief in die Erde schlägt und durch sie die Nahrung aufnimmt, um zu wachsen und sich zu stärken, so muss der Mensch, um seinen Geist zu stärken und intellektuell und moralisch zu wachsen, seine Wurzeln in der Geschichte zurückverfolgen, zu der er von Geburt an gehört fest verbunden mit der Suche nach der Nahrung, die für sein eigenes spirituelles Wachstum notwendig ist.
Diese Ausgrabungsaktion nicht nur in der ethisch-religiösen, sondern auch in der philosophischen Geschichte der Menschheit auf der Suche nach den Grundlagen der neuen Form der Religiosität wurde von Hegel in den Jahren 1794-1806 durchgeführt. Belegt ist dies für die Jahre 1794 bis 1800 - hauptsächlich der Vertiefung der Religionsgeschichte gewidmet - durch die zahlreichen überlieferten Texte und Fragmente zu Themen [76]wie Das Leben Jesu (1794-95), Die Positivität der christlichen Religion (1795-96), Der Geist des Christentums und seine Bestimmung (1797-99) sowie das sehr interessante Systemfragment von 1800, das einen Text enthält Reflexionen über einst religiöse und philosophische. Für die folgenden Jahre (1801-1806) – in denen sich Hegel vor allem mit der philosophischen Geschichte der Menschheit befasste – ist dieser Prozess durch die verschiedenen Schriften und Manuskripte der Jenesezeit dokumentiert, insbesondere durch die Differenzschrift (1801), durch den Aufsatz Zu den unterschiedlichen Wegen der wissenschaftlichen Behandlung des Naturrechts (1802–03), aus dem Ethischen System (1802–03) sowie aus den systematischen Manuskripten der verschiedenen Universitätsvorlesungen, insbesondere der von 1803 bis 1806, und schließlich von einige vorbereitende Arbeiten zur Phänomenologie des Geistes (erschienen 1807).
Was den Inhalt des Denkens betrifft, hat Hegel in dieser zweiten Periode seiner eigenen geistigen Entwicklung drei Hauptoperationen durchgeführt.
Zunächst extrahierte er aus der ungeheuren Masse von Begriffen, Tatsachen, Wahrheiten, Visionen etc., die die theoretische und historische Struktur des Christentums ausmachen, das Wesen dieser Religion, also den ursprünglichen Grundkern der Botschaft Jesu, und trennte sie davon ab was dort gewesen war, wurde während der späteren historischen Entwicklung hinzugefügt (dieser Prozess fand etwa von 1794 bis 1797 statt).
Zweitens widmete er sich dem Ausdruck der grundlegenden Wahrheiten, die diesen Kern bilden und von Jesus in einer repräsentativen Form ausgedrückt wurden, in philosophischen Konzepten und schuf so dank dieser Operation die grundlegenden Konzepte seines eigenen philosophischen Systems, nämlich das Absolute und das Absolute Ethik (von 1797 bis 1802/03).
Schließlich erarbeitete der Philosoph in der zweiten Hälfte seines Jena-Aufenthaltes die erste, wenn auch noch nicht endgültige, vollständige Version seines philosophischen Systems, indem er den in diesen beiden Hauptbegriffen impliziten Begriffsgehalt systematisch entwickelte. So entstand aus der begrifflichen Entwicklung des logisch-metaphysischen Prinzips des Absoluten oder „Logos“ die Jenaer Logik-Metaphysik (1804/05) als erste Formulierung der künftigen Logikwissenschaft und die begriffliche Entwicklung des ethisch-metaphysischen Prinzips. Das moralische Ideal der absoluten Ethik oder des „Ethos“ führte zur ursprünglichen Formulierung der Philosophie des Geistes (1803/04 und 1805/06). Die systematische Vereinheitlichung dieser beiden Begriffe und Teile der Philosophie erfolgte durch die Ausarbeitung der Naturphilosophie (auch 1803/04 und 1805/06) und schließlich wurde die „Schließung“ des Systems durch die Ausarbeitung der Theorie der Natur ermöglicht der absolute Geist, der in der Philosophie des Geistes von 1803/04 noch fehlte und von Hegel um 1805/06 separat entwickelt wurde, was zu der ganzen Problematik und zur Veröffentlichung der Phänomenologie des Geistes (1807) führte. Dieses Werk schließt die sogenannte Jugendentwicklung des Philosophen ab und eröffnet die Reifezeit. die in der Philosophie des Geistes von 1803/04 noch fehlte und um 1805/06 von Hegel separat entwickelt wurde, wodurch das ganze Problem und die Veröffentlichung der Phänomenologie des Geistes (1807) entstand. Dieses Werk schließt die sogenannte Jugendentwicklung des Philosophen ab und eröffnet die Reifezeit. die in der Philosophie des Geistes von 1803/04 noch fehlte und um 1805/06 von Hegel separat entwickelt wurde, wodurch das ganze Problem und die Veröffentlichung der Phänomenologie des Geistes (1807) entstand. Dieses Werk schließt die sogenannte Jugendentwicklung des Philosophen ab und eröffnet die Reifezeit.
In dieser zweiten Periode zeigt die immanente Entwicklung von Hegels Denken eine klare dialektische Tendenz, die sich in drei Hauptphasen artikuliert.
Erste Phase (1794-1797 / 98): Er trennt die ursprüngliche Botschaft Jesu von ihrer historischen Überlieferung durch die Apostel und identifiziert in den grundlegenden Repräsentationen dieser Botschaft (das religiöse Prinzip der universellen Liebe und das ethische Ideal der Ankunft des Königreichs Gottes) der fundamentale Kern der neuen natürlichen, populären und rationalen ethisch-religiösen Lehre, die er im Begriff ist zu begründen (erste Stufe, 1794-1795). Tatsächlich versteht der junge schwäbische Denker, dass dieser ursprüngliche Inhalt der Botschaft Jesu zwar ewig wahr ist, aber die repräsentative Form, in der er von Jesus zum Ausdruck gebracht und dann über die Jahrhunderte weitergegeben wurde, nicht ewig wahr, sondern nur historisch angemessen ist bestimmten Personen und zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt ihrer Entwicklung (zweite Stufe, 1795-1796).
Zweite Phase (1797/98-1802/03): Um die historische Ausdrucksform der Ewigkeit der inhaltlichen Wahrheit anzupassen, leitet Hegel die jeweiligen philosophischen Konzepte aus den ethisch-religiösen Darstellungen des Urchristentums ab. So werden in unterschiedlichen Stadien und Entwicklungsstufen die beiden Grundbegriffe des künftigen reifen philosophischen Systems geboren, nämlich der Begriff des Absoluten als philosophischer Ausdruck der ursprünglich christlichen Darstellung des theologischen Prinzips der universellen Liebe und der Begriff der absoluten Ethik als Ausdrucksphilosophie des christlichen Sittenideals von der Ankunft des Reiches Gottes.
Dritte Phase (1802 / 03-1806): Diese beiden Konzepte in logischer und systematischer Form integrierend, erarbeitet Hegel schließlich in den letzten Jahren seines Aufenthaltes in Jenese sein eigenes philosophisches System als „Wissenschaftssystem“. Zumindest in seinen Grundzügen enthält er bereits die endgültige Form der reifen hegelschen philosophischen Konzeption. In dieser Phase (zweite Verneinung) findet also eine Rückkehr zur ersten Phase (Bejahung) statt, die vom Verständnis der ursprünglichen Botschaft Jesu dominiert wird, die überlebt, aber in eine philosophische Begriffsstruktur eingebettet ist, die sich aus den Fortschritten dank der zweiten Phase ergibt (erste Verneinung).
*
2.1
ERSTE PHASE
(1794-95)
Die wahre Bedeutung der „Göttlichkeit“
der historischen Person Jesu
*
In der ethisch-religiösen Lehre, dass etwa achtzehnhundert Jahre zuvor in den fernen Ländern Palästinas ein Mensch namens Jesus sich so mutig bekannt hatte, dass er seine Liebe zur Wahrheit mit dem Tod bezahlte, vielleicht nicht einmal ahnend, welches universelle Schicksal dieses Opfer brachte hätte., findet der junge Hegel seine eigene geistige Nahrung. Darin findet er meisterhaft die drei grundlegenden notwendigen Bedingungen der neuen ethisch-religiösen Theorie vereint, wenn auch noch nicht in begrifflicher und philosophischer Form ausgedrückt: ethische Natürlichkeit, religiöse Popularität und Rationalität.
Tatsächlich unterscheidet der junge Hegel seit den Schriften von 1794 die historische Person Jesu von der anderer Meister (z. B. Sokrates). [77] In Jesus identifiziert Hegel etwas, das den Sinn seiner Persönlichkeit verändert. Jesus ist für ihn nicht ein Lehrer unter anderen Lehrern, sondern „der Lehrer“ der Menschheit. In Jesus, so der junge Philosoph aus Stuttgart, liegt etwas Göttliches, das nicht auf die einfache Erhebung der Seele und die Reinheit der Gefühle reduziert werden kann, das jedem Meister eigen ist.
Diese Göttlichkeit der geschichtlichen Person Jesu ist jedoch nicht mit einer hypothetischen Bindung natürlicher Abstammung von einem ebenso hypothetischen Gott verbunden.Hegel war seit diesen ersten Jahren seiner philosophischen Entwicklung weit entfernt von solchen Formen inbrünstiger, aber wenig philosophischer Religiosität Vorstellung. Dies ist eine Überlegung, die man im Hinblick auf die philosophisch-religiösen Reflexionen sowohl des jungen als auch des reifen Hegel immer im Auge behalten sollte. Die Göttlichkeit Jesu besteht seiner Meinung nach darin, dass er das Wesen des Geistes des Menschen und damit die genaue Beziehung zwischen Mensch und Natur erahnt hat. Das heißt, nach Ansicht des jungen schwäbischen Philosophen war Jesus der Protagonist der Offenbarung des authentischen Sinns seiner Existenz an den Menschen jenseits der einfachen Befriedigung natürlicher Instinkte;
Deshalb können die anderen Meister der Menschheit nach Ansicht des jungen Hegels verschiedene und sogar sehr interessante Dinge lehren, aber nicht „das“, was den Menschen in erster Linie interessiert: Hat sein Leben einen Wert, einen Sinn? Oder ist es nur ein Wechselspiel aus Lust und Schmerz, Zufriedenheit und Unzufriedenheit, Langeweile und Spaß?
Dem jungen Denker zufolge hat die historische Person Jesu daher eine göttliche Bedeutung, da der Gründer des Christentums das Wesen des Geistes und damit den Sinn, den spirituellen Sinn des menschlichen Daseins in der Welt und zugleich als verstanden hat Wir werden im letzten Kapitel dieser Arbeit auch den Sinn der Welt sehen.
Jesus erreichte dieses Ergebnis durch die Konzeption des ethischen Ideals der Ankunft des Reiches Gottes auf Erden und des religiös-metaphysischen Prinzips der universellen Liebe; diese beiden Begriffe zusammen bilden das Grundgerüst der ethisch-religiösen Lehre, mit der es Jesus nach Ansicht des jungen Hegel gelungen ist, den Menschen zumindest teilweise wieder in die Natur einzusetzen.
Lassen Sie uns nun die Bedeutung dieser Lehre im Detail analysieren.
ERSTER MOMENT
Die moralische Lehre von der Wiedereinfügung des Geistes in die Materie:
das ethische Ideal der Ankunft des Reichs Gottes
Der Begriff bzw. die Darstellung der Ankunft des Reiches Gottes auf Erden ist das ethische Ideal, mit dem Jesus den Menschen auf der Ebene des Geistes und der Materie wieder in die Natur eingefügt hat. Die Ankunft des Reiches Gottes ist in der Tat der Sinn, den die Menschheit ihrer eigenen Existenz geben muss; dieser Sinn gibt dem Geist eine Bestimmung, also einen Inhalt des menschlichen Lebens, und fügt ihn so wieder in das Leben der Natur ein, in der jedes Wesen seinen eigenen Wirkungs- und damit Wirkungsbereich hat. Indem er das Ideal der Ankunft des Reiches Gottes annimmt, hört der Geist des Menschen auf, eine leere Möglichkeit zu sein, und wird zu einer wirksamen Realität.
Die Ankunft des Reiches Gottes darf nicht als eine von außen verursachte zukünftige Situation der menschlichen Gesellschaft gedeutet werden, sondern als eine gegenwärtige und zukünftige irdische Situation, die ausschließlich die Frucht menschlichen Handelns ist. Das bedeutet, dass es die Menschheit selbst ist, die das Reich Gottes auf Erden schaffen kann und muss, verstanden als die Lebenssituation, in der nicht mehr die blinde mechanische Notwendigkeit der Materie und Hass und Krieg unter den Menschen herrscht, sondern in der auf der Im Gegensatz dazu werden die Zügel der Lebensbewegung, des Werdens, vom Geist übernommen, der eine auf Liebe und Frieden basierende soziale Ordnung schafft.
Dieses von der Ankunft des Reiches Gottes ausgehende christlich-ethische Ideal ist gewiss nicht „übernatürlich“, da das Reich Gottes im irdischen Leben der Menschen stattfinden muss. Nun gilt es, über die wichtige Frage nachzudenken, ob es sich nach Hegels Meinung um ein „natürliches“ ethisches Ideal handelt, ob es also auf dem Begriff der menschlichen Natur beruht oder nicht.
Das Konzept der menschlichen Natur
in der ursprünglichen Botschaft Jesu
Die Eigenschaft des Geistes besteht darin, der leeren Möglichkeit der Zeit, also der automatischen Mechanik der Materie, einen Sinn zu geben und damit durch seine eigene Gestaltungsfähigkeit die Herrschaft zu überwinden, die die blinde Notwendigkeit der Materie über den Menschen ausübt Sein. Tal ist zB. die Bedeutung von Wundern. Sie bieten ein Bild dessen, was der Mensch aus sich selbst machen möchte, um das Beste aus seiner eigenen Spiritualität zu machen: tödliche Krankheiten heilen, lebensnotwendige Güter vermehren und so weiter. Dies alles sind Manifestationen der Überwindung der materiellen Grenzen der eigenen Existenz durch den Menschen.
Was im Urchristentum in phantasievoller Form als „Wunder“ überliefert wurde, ist dann nichts anderes als der Ausdruck des natürlichen Verlangens des Geistes, das Bedürfnis nach Materie, der Ursache des Unglücks, zu überwinden. Die Entwicklung der Medizin und der intensiven landwirtschaftlichen Produktion sowie der Lebensmittelindustrie, um nur einige Beispiele zu nennen, sind nichts anderes als die modernen, nicht imaginativen, sondern konkreten und realen Formen der entsprechenden Wunder Jesu, die offensichtlich nicht stattgefunden haben, hat es jedoch ein großes spirituelles Ideal dargestellt, das einem nicht geringen Teil der Menschheit einen Zweck, ein zu erreichendes Ziel gegeben hat und noch gibt. Es ist daher kein Zufall, dass die industrielle Revolution gerade in Ländern mit christlicher Tradition stattfand,
Die Verwirklichung des Ideals der Ankunft des Reiches Gottes hat daher ihren Baumeister im Geist des Menschen, in seiner Fähigkeit, den Dingen und der Zeit Sinn zu geben und damit die Grenzen der Materie zu überwinden. Aus dieser Sicht nimmt der Geist am Wesen Gottes selbst teil: Er schafft, im Sinne einer zweiten Schöpfung. Tatsächlich erschafft Gott Materie und dann Geist nach seinem eigenen Bild; Der Geist erschafft und modifiziert die Materie dann neu und gibt ihr einen Sinn, der den eigenen Bedürfnissen und Wünschen entspricht.
Die ursprüngliche ethische Lehre Jesu basiert daher auf einem Konzept der menschlichen Natur als eines schöpferischen Geistes, einer perfekten Kopie, wenn auch in einer endlichen und sterblichen Form, der göttlichen Kreativität. Es handelt sich um den Begriff der Vernunft, verstanden als ‚göttlicher Funke‘, wie Hegel sich in seiner eigenen Studie Das Leben Jesu ausdrückt:
“Die reine aller Schranken unfähige Vernunft ist die Gottheit selbst.[...] Unter den Juden war es Johannes, der die Menschen wieder auf diese ihre Würde aufmerksam machte – die ihnen nichts fremdes sein sollte, sondern die [sie] in sich selbst, ihrem wahren Selbst, nicht in der Abstammung, nicht in dem Triebe nach Glükseeligkeit, nicht darin suchen sollten, Diener eines großgeachteten Mannes zu seyn, sondern in der Ausbildung des göttlichen Funkens der ihnen zu theil geworden ist, der ihnen, das Zeugnis gibt, daß sie in einem erhabnern Sinne von der Gottheit selbst abstammen.” (GW1, 207, 1-11) |
Aus dieser Menschenauffassung lässt sich dann schließen, dass nach Ansicht des jungen Philosophen die ursprüngliche ethische Lehre Jesu insofern natürlich ist, als das Lebensideal, das sie dem Menschen andeutet, Ausdruck und ist Verwirklichung seiner natürlichen Essenz.
DRITTER MOMENT
Die religiöse Lehre von der Wiedereinfügung der Vernunft in die Welt:
das religiöse Prinzip der universellen Liebe
Die Auffassung der Vernunft als „göttlicher Funke“, die Grundlage der ethischen Lehre Jesu, ist das Ergebnis seiner religiösen Lehre. Tatsächlich konnte Jesus den Menschen auf der ethischen Ebene von Geist und Materie wieder in die Natur einfügen, wie er ihn bereits auf der religiösen Ebene von Vernunft und Welt dank der Konzeption des Prinzips der universellen Liebe wieder in sie eingefügt hatte.
Liebe ist die Beziehung, die Gott, den Schöpfer, mit der Welt, der Schöpfung, verbindet. Gott erschuf die Welt mit Liebe in dem Sinne, dass er die verschiedenen Organismen der Welt, die Geschöpfe, mit den Erfordernissen versorgte, die notwendig sind, um ihre lebenswichtigen Funktionen zu erfüllen. Insbesondere was den Menschen betrifft, hat Gott ihn nach seinem eigenen Bild und Gleichnis geschaffen, in dem Sinne, dass er ihn für die höchste Funktion des Universums, die schöpferische und ethische Funktion, geschaffen hat: zu diesem Zweck hat er ihn mit Geist ausgestattet. die strukturell identisch mit derselben göttlichen schöpferischen spirituellen Essenz ist.
Durch diese Konzeption, so der junge Hegel, habe Jesus den Menschen auf der religiösen Ebene der Vernunft und der Welt wieder in die Natur eingefügt und damit auch auf der ethischen Ebene die religiös-metaphysischen Grundlagen für eine Wiedereingliederung gelegt. In der Tat setzt sich der Mensch den Zweck seiner eigenen Existenz nicht willkürlich, sondern die menschliche Konstitution selbst ist Träger dieser Aufgabe, [78] also die Konstruktion dank des Geistes als Theorie verstanden und vor allem praktische Sinnschöpferschaft des Reiches Gottes auf Erden.
Die ursprüngliche ethische Lehre Jesu ist, wie wir gerade gesehen haben, „natürlich“; es ist nun fraglich, ob seine religiöse Lehre die Bedingungen des religiösen Ideals des jungen Hegel respektiert, also populär und rational ist.
Es ist zweifellos „populär“, insofern es eine Ursache oder ein erstes Prinzip der Welt (Gott) begreift und daher das natürliche Bedürfnis des Menschen befriedigt, sich wieder als Vernunft in sie einzufügen, gerade durch die Vorstellung des ersten Prinzips der Welt Welt; aber ist diese Lehre auch rational? Die Antwort auf diese Frage führte Hegel zu weiteren, sehr interessanten Überlegungen, deren Vertiefung sehr nützlich sein wird.
*
2.2
ZWEITE PHASE
(1796-97)
Das Verständnis der „Geschichtlichkeit“ Jesu
und das „positive“ Schicksal seiner Botschaft
Um zu verstehen, ob das ethische Ideal Jesu natürlich ist oder nicht, verglich Hegel es mit seinem eigenen Ideal einer natürlichen Moral; Was die Popularität des religiösen Prinzips der ursprünglichen Botschaft Jesu betrifft, scheint der junge Hegel nie daran gezweifelt zu haben, dass diese Lehre populär ist, da sie zu einer religiösen Theorie des gewöhnlichen Menschen werden kann; im Hinblick auf die Rationalität der religiösen Lehre Jesu verglich Hegel schließlich das religiöse Prinzip dieser Lehre mit dem entsprechenden aufklärerisch-kantianischen philosophisch-religiösen Prinzip. Dieser Vergleich fand etwa ab der zweiten Hälfte des Jahres 1795 statt und hatte das unmittelbare Ergebnis der Fragmente zum Thema Die Positivität der christlichen Religion, die zwischen Mitte 1795 und Ende 1796 entstanden sind.[79]
Die Frage nach der Rationalität der ursprünglichen Botschaft Jesu wurde Hegel explizit als Problem des Ursprungs der „Positivität“ dieser Religion gestellt. Mit dem Begriff „Positivität“ einer Lehre verweist der Stuttgarter Philosoph darauf, dass ihre Autorität nicht auf Argumenten ideeller und rationaler Art, sondern auf materieller und sachlicher Art beruht.
Existenz bspw. der christlichen Kirche mit ihrer wohldefinierten Struktur, die verschiedenen Prinzipien, die bereits in einem Erklärungssystem für alle Ereignisse enthalten sind, auch für solche, die sich unter Bedingungen freier Vernunft nicht für eine logische Erklärung eignen würden - wie zum Beispiel. Wunder -, stellt an sich keine frei zu diskutierende und möglicherweise zu "leugnende" Wahrheit dar, sondern eine Reihe materieller Tatsachen, wie z. das Verhältnis der Sohnschaft Jesu zu Gott, die Auferstehung Jesu usw., von starren moralischen Grundsätzen und damit verbundenen vorgeschriebenen und geregelten Verhaltensweisen, die nur empfangen, akzeptiert und ausgeführt (oder offensichtlich abgelehnt), aber nicht offen diskutiert werden können Der freie Denkprozess.
Eine solche Autorität, die letztlich nur auf der Macht von Tradition und Institution beruht, bezeichnet der junge schwäbische Philosoph kurz mit dem Begriff „Positivität“. [80]
Wenn der natürliche und volkstümliche Inhalt der ursprünglichen Verkündigung Jesu nicht geeignet ist, die positive und damit autoritäre Form zu rechtfertigen, von der diese Religion im Laufe der Jahrhunderte allmählich abgelöst wurde, was war dann das Element, das zu dieser Positivität führte? Kurzum, es geht darum, ob die christliche Religion seit ihrer Entstehung durch einen möglichen Absturz ins Positive verdorben wurde oder ihr dieser Aspekt im Laufe ihrer Geschichte zufällig hinzugefügt wurde.
Das grundlegende Konzept, das Hegel in den Fragmenten der zitierten Studie zu demonstrieren versucht, besteht darin, dass die Positivität des Christentums mit der Entstehung dieser Religion selbst und insbesondere mit einigen historischen Umständen verbunden ist, die jedoch nicht die wesentlichen Merkmale darstellen, aber nur die zufälligen davon. Diese Umstände, insbesondere aufgrund des jüdischen Ursprungs der christlichen Religion, haben nach Ansicht Hegels im Laufe der Geschichte dazu geführt, dass der repräsentative Aspekt der ursprünglichen Botschaft Jesu den konzeptionellen Aspekt überlagert hat. [81]
Tatsächlich, so der junge Denker, habe Jesus den Inhalt seiner eigenen ethisch-religiösen Intuition, ewig wahr wie natürlich, in der dem Geist seines Volkes und seiner Zeit eigenen Form ausgedrückt: der Form der Vorstellung oder Vorstellung. Er baute Vergleiche auf, benutzte Symbole, schuf Gleichnisse und so weiter. Bei seinem Tod stellten seine Jünger jüdischer Herkunft die Ausdrucksform und nicht deren Inhalt als Grundlage ihrer Interpretationen der Botschaft Jesu. So wurde die repräsentative, institutionelle und damit positive Form geboren und dann nach und nach verbreitet, in der die ursprünglich natürliche Botschaft Jesu über die Jahrhunderte überliefert wurde und auch noch zur Zeit Hegels überliefert wurde (und in dieser Form Tatsachen die gebührenden ’Auszeichnungen’, es ist immerhin noch heute überliefert!).
Wir können dann endlich verstehen, welche Antwort Hegel auf die Frage nach der Rationalität der religiösen Lehre Jesu schon in diesen ersten Jahren seiner eigenen philosophisch-religiösen Betrachtungen gegeben hat. Die Antwort auf diese Frage führte ihn zum ersten Mal zu jener sehr wichtigen Unterscheidung zwischen der repräsentativen und der begrifflichen Form des Wissens, die dann die Grundlage seiner gesamten Philosophie bleiben wird, insbesondere aus erkenntnistheoretischer Sicht. [82]Der Grundgedanke dieser Unterscheidung ist folgender: Sowohl die Repräsentation als auch der Begriff sind zwei Formen der Erkenntnis, also der gnoseologischen Beziehung zwischen Subjekt und Objekt. Die Vorstellung schließt das Objekt ein, indem sie Bestimmungen, die nicht sein Wesen ausmachen, sondern nur zufällige Züge oder gar subjektive und willkürliche Phantasien des Subjekts sind, mit anderen Bestimmungen vermischt, die sein Wesen ausdrücken. Im Gegenteil, es gelingt dem Begriff, das reine Wesen des Objekts, wie es an und für sich ist, hervorzuheben und so die subjektiven und objektiven Aspekte des Wissens vollständig zu vereinen. In der Repräsentation hingegen gelingt es Subjekt und Objekt nie, zu einer Einheit zu verschmelzen, und genau das ist überhaupt das „Schicksal“ jeder Form religiöser Erkenntnis. [83]
Im Ergebnis ist also die ethisch-religiöse Lehre Jesu nur im Sinne der der Repräsentation eigenen Rationalität rational, also, wie sich Hegel später ausdrücken wird, im Sinne des zweiten Erkenntnisgrades. [84]
Aus dieser Unzulänglichkeit des rationalen Aspekts der ursprünglichen religiösen Lehre Jesu, einer Unzulänglichkeit, die die Ausdrucksform und nicht den wesentlichen Inhalt derselben betrifft, erwächst daher im Geiste des jungen Philosophen das Bedürfnis, diese im Wesentlichen Wahre zu verstehen und auszudrücken Inhalt in der richtigen Form des Konzepts.
*
2.3
(1798-1802)
Synthese hegelianischer Reflexionen über das Christentum
sowie Umwandlung der grundlegenden Vorstellungen
der ursprünglichen Botschaft Jesu
in ihre jeweiligen philosophischen Begriffe
1796 gelangte Hegel daher zu diesem ersten Ergebnis in der Frage nach der Rationalität der ursprünglichen ethisch-religiösen Lehre Jesu: Die repräsentative, positive und „irrationale“ Form als Aberglaube dieser Lehre macht nicht ihr Wesen aus, sondern ist ein zufälliger Aspekt aufgrund seiner darstellenden Form wiederum mit den jüdischen Ursprüngen dieser Religion verbunden.
In den folgenden zwei Jahren setzt Hegel diese Überlegungen zur Rationalität der ethisch-religiösen Lehre Jesu fort und fasst einige uns überlieferte Fragmente zusammen mit dem einheitlichen Titel Der Geist des Christentums und seine Bestimmung (1797-99).
Diese Fragmente sowie der Verlauf von Hegels Denken in diesen zwei Jahren offenbaren einen doppelten Aspekt, einen historiographischen und einen philosophischen:
Die historiographische Ebene, die den Fragmenten den allgemeinen Ton gibt und in diesen zwei Jahren die am stärksten hervortretende Ebene in der Entwicklung von Hegels Denken darstellt, wird durch die Synthese gebildet, die Hegel über die Ursprünge der christlichen Religion erreicht hat. Diese Synthese ist auch das abschließende Urteil, das der junge Denker nach mindestens vier Jahren tiefgehender Reflexion, von denen die letzten beiden ausschließlich dem Vergleich zwischen ursprünglichem und abgeleitetem Christentum gewidmet waren, über diese Lehre abgegeben hat. Dieses Urteil stellt daher die endgültige und vollständige Antwort dar, die er auf die Frage nach der Rationalität der ursprünglichen Botschaft Jesu gab, die ihm nach der Niederschrift des Lebens Jesu gestellt wurde.
Hegel identifiziert zwei Komponenten, die in der ursprünglichen Predigt Jesu gleichzeitig vorhanden sind: Die erste besteht aus dem ewig wahren Inhalt seiner Botschaft und definiert den „Geist“ des Christentums (dies ist der Inhalt dieser Lehre, der bereits verstanden wurde mit dem Reflexionen von 1794 -1795); die zweite Komponente ist vielmehr die Form, mit der Jesus die ewig wahre Botschaft seiner eigenen Lehre erdacht und zum Ausdruck gebracht hat. Diese Form ist nicht ewig wahr, sondern relativ zu der historischen Periode ihres Erscheinens. Dies ist die repräsentative oder mythologisch-symbolische Form, die bereits von Hegel durch die Reflexionen identifiziert wurde, die in den der Positivität der christlichen Religion gewidmeten Fragmenten durchgeführt wurden. Diese Form wurde im Laufe der Jahrhunderte als Wert der Wahrheit durch den Inhalt ersetzt, der durch sie ausgedrückt wird, Umwandlung der ursprünglichen Botschaft Jesu von „natürlich“ in „positiv“. Wie der Inhalt der Botschaft Jesu den „Geist“ des Christentums ausmacht, so stellt die repräsentative und positive Form dessen „Schicksal“ dar, das, wie wir gesehen haben, nicht an den Inhalt der ethisch-religiösen Lehre Jesu gebunden ist, sondern zu den historischen Bedingungen seiner Geburt.
Diese Überlegungen markieren somit den Abschluss des Prozesses der eingehenden Auseinandersetzung mit dem Christentum, den der junge, aber bereits äußerst profunde Philosoph geführt hat, um zu einem historisch-wissenschaftlich fundierten und damit endgültigen Urteil über diese Religion zu gelangen. Er musste also nur noch den Weg der Geschichte verlassen und den Weg der theoretischen Reflexion beschreiten, also zum Aufbau einer neuen ethisch-religiösen Theorie übergehen, die frei von den für die christliche Lehre typischen „Mängeln“ war, die ihre ’Positivität’ verursacht haben.
Das wird der Sinn der weiteren Entwicklung des Hegelschen Denkens sein. Parallel zur Ausarbeitung des synthetischen Urteils über das Verhältnis von natürlichem „Geist“ und positivem „Schicksal“ des Christentums beginnt in der Tat Hegel in den gleichen Jahren, also um 1797/98, mit der Ausarbeitung der Grundbegriffe seiner eigenen ethisch-religiösen Lehre. Diese Operation bildet die zweite Ebene der Fragmente der betreffenden Periode, die philosophische Ebene. Sie besteht in der Enukleation der relativen philosophischen Begriffe aus den religiösen Grundvorstellungen des ursprünglichen Christentums. Tatsächlich arbeitet Hegel diese Begriffe ausgehend von den Darstellungen der universellen Liebe und der Ankunft des Reiches Gottes aus, deren Ausdrucksform er vom Repräsentativen ins Begriffliche übersetzt.
Den logischen Inhalt der immanenten Entwicklung des Hegelschen Denkens in dieser langen dritten Phase der zweiten Periode (1798 - 1803) bilden also die verschiedenen Stadien, in denen der schwäbische Denker die Grundvorstellungen der ethisch-religiösen Lehre Jesu in ihre übertrug jeweiligen Begriffe. Es gibt drei Phasen, die erste von 1797-98 bis 1799, die zweite um 1800 und die dritte schließlich von 1801 bis 1802.
Am Ende dieses Prozesses gelangte Hegel zu der Konzeption sowohl des populär-rationalen religiösen Prinzips als auch des natürlichen ethischen Ideals der neuen ethisch-religiösen Theorie, deren Begründung er seit der Tübinger Zeit vorgeschlagen hatte. Dies ist in der Tat der Moment, in dem Hegel wieder aus seinem „Eintauchen“ in die Geschichte herauskommen und damit beginnen konnte, sein jugendliches Ideal zu verwirklichen. Die Geschichte hat den Menschen genährt, der sie demütig um Rat gefragt hat.
Bevor er die christlichen Wurzeln seines eigenen Denkens zurückverfolgte, hatte Hegel das Problem, ein religiös-metaphysisches Prinzip für die Wiedereingliederung der Vernunft in die populäre und rationale Welt zu konzipieren; dieses Prinzip wiederum diente ihm dazu, das Wesen des Geistes zu erkennen und damit die neue natürliche Moral, sein grundlegendes und ursprüngliches Ideal, zu formulieren. Zwischen dem religiös-metaphysischen Prinzip und dem ethischen Ideal besteht, wie wir im Hinblick auf die erste Periode der Entwicklung des Hegelschen Denkens gesehen haben, eine genaue logische Beziehung: Die Formulierung des ethischen Ideals hängt tatsächlich vom Verständnis des Religiösen ab Prinzip.
*
ERSTES STADIUM
(1797/98 - 1799)
Betrachten wir nun den Inhalt der ersten Stufe dieser von Hegel vollzogenen Umwandlungsoperation der religiös-metaphysischen Vorstellung der universellen Liebe und der ethischen Vorstellung der Ankunft des Reiches Gottes, die nach Auffassung von der Stuttgarter Philosoph, die Geist-„Jesus“-Botschaft.
ERSTER MOMENT
Umwandlung des religiösen Prinzips:
von der Darstellung der universellen Liebe
zum Begriff der Einheit der Gegensätze
Auf der Grundlage der Abhängigkeit des ethischen Ideals vom religiös-metaphysischen Prinzip unternimmt Hegel den ersten Schritt in diesem Prozess der Umwandlung christlicher Vorstellungen in ihre jeweiligen philosophischen Konzepte in Bezug auf das Verständnis des in der Darstellung der universellen Liebe operierenden Begriffs.
Das grundlegende Konzept, das diese Phase beherrscht, ist das folgende: Liebe, jede Form von Liebe, hat die Fähigkeit, zwei Gegensätze zu vereinen.
So äußert er sich dazu:
“[…] denn sie ist die lebendige Beziehung der Wesen selbst; […] die Liebe selbst spricht kein Sollen aus; sie ist kein einer Besonderheit entgegengesetztes Allgemeines; nicht eine Einheit des Begriffs, sondern Einigkeit des Geistes, Göttlichkeit; Gott lieben ist sich im All des Lebens schrankenlos im Unendlichen fühlen; in diesem Gefühl der Harmonie ist freilich keine Allgemeinheit; denn in der Harmonie ist das Besondere nicht widerstreitend, sondern einklingend, sonst wäre keine Harmonie;[…] nur die Liebe hat keine Grenze; was sie nicht vereinigt hat, ist ihr nicht objektiv, sie hat es übersehen oder noch nicht entwickelt, es steht ihr nicht gegenüber.“ (W1, 362-363) |
Noch deutlicher wird der schwäbische Philosoph in dem von Nohl zu Recht mit dem Titel "Die Liebe" überlieferten Fragment "...welchem ????Zwecke denn alles Übrige dient...", das ausdrücklich zu diesem Thema gewidmet ist:
„Wahre Vereinigung, eingentliche Liebe findet nur unter Lebendigen statt, die an Macht sich gleich und also durchaus füreinander Lebendige, von keiner Seite gegeneinander Tote sind; sie schließ alle Entgegensetzungen aus, sie ist nicht Verstand, dessen Beziehungen das Mannigfaltige immer als Mannigfaltiges lassen und dessen Einheit selbst Entgegensetzungen sind; sie ist nicht Vernunft, die ihr Bestimmen dem Bestimmten schlechthin entgegensetzt; sie ist nichts Begrenzendes, nichts Begrenztes, nichts Endliches, sie ist ein Gefühl, aber nicht ein einzelnes Gefühl; aus dem einzelnen Gefühl, weil es nur ein Teilleben, nicht das ganze Leben ist, drängt sich das Leben durch Auflösung zur Zerstreuung in der Mannigfaltigkeit der Gefühle und um sich in diesem Ganzen der Mannigfaltigkeit zu finden; in der Liebe ist dies Ganze nicht als in der Summe vieler Besonderer, Getrennter enthalten; in ihr findet sich das Leben selbst, als eine Verdoppelung seiner selbst, und Einigkeit desselben; das Leben hat, von der unentwickelten Einigkeit aus, durch die Bildung den Kreis zu einer vollendeten Einigkeit durchlaufen; der unentwickelten Einigkeit stand die Möglichkeit der Trennung und die Welt gegenüber; in der Entwicklung produzierte die Reflexion immer mehr Entgegengesetztes, da sim befriedigten Triebe vereinigt wurde, bis sie das Ganze des Menschen selbst ihm entgegensetzte, bis die Liebe die Reflexion in völliger Objektolosigkeit aufhebt, dem Entgegengesetzten allen Charakter eines Fremden raubt und das Leben sich selbst ohne weiteren Mangel findet. In der Liebe ist das Getrennte noch, aber nicht mehr als Getrenntes, [sondern] als Einiges, und das Lebendige fühlt das Lebendige.” (W1, 245-246) |
Es war notwendig, diese Passagen vollständig zu zitieren, da sich in ihnen die ursprüngliche Formulierung der Dialektik klar und eindeutig wiederfindet. Begriffe wie „Beseitigung von Grenzen“, „Überwindung des Endlichen“, „Aufhebung der Reflexion“ usw. sie sind dem Kenner des reifen Hegelschen Denkens und insbesondere der Wissenschaft der Logik vertraut, da sie nicht nur in gleicher Bedeutung, sondern sogar in gleicher sprachlicher Formulierung ein wenig überall in diesem Teil des Hegelschen philosophischen Systems zu finden sind.
Der einzige Unterschied zwischen dem in diesen frühen Fragmenten vorhandenen Begriff der Dialektik und dem des philosophischen Reifesystems betrifft den Begriff der „Vernunft“, den Hegel auf dieser Stufe seiner eigenen Gedankenentwicklung noch nicht vom Begriff der „Vernunft“ getrennt hat. Intellekt“, wie aus dem ersten Teil der zweiten zitierten Passage hervorgeht; in der Wissenschaft der Logik hingegen, wenn er die Operation der Umwandlung der Darstellungen des Christentums in ihre jeweiligen Begriffe hinter sich gelassen haben wird, wird es der Begriff "Vernunft" sein, offenbar in einer völlig neuen und ursprünglichen Bedeutung die Geschichte der Philosophie, um die verbindende Funktion zu übernehmen, die in den frankofortesischen Fragmenten der Liebe zugeschrieben wird.
Auf dieser Stufe drückt Hegel daher im Begriff der »Liebe« jede mögliche Form der Überwindung der Gegensätze und damit der Einigung aus. Die Art der Liebe, die hier hervorzuheben ist, ist insbesondere die Bindung Gottes an die Geschöpfe in der religiösen Lehre Jesu. Liebe ist das Prinzip, nach dem Gott die Welt erschaffen hat. Nach diesem Prinzip sind die einzelnen Organismen füreinander geschaffen und es besteht daher eine enge wechselseitige Abhängigkeitsbeziehung. Diese Beziehung macht die Rationalität aus, die der Natur zugrunde liegt. Sie ist das Ergebnis des Handelns Gottes nach dem Prinzip der Liebe und damit die Einheit, die den Beziehungen zwischen den vielen und unterschiedlichen Organismen der Welt zugrunde liegt. Diese Organismen scheinen gegensätzlich zu sein, aber in Wirklichkeit sind sie vereint, vereint.
Das ist das grundlegende Konzept dieser ersten Stufe der Enukleationsoperation des philosophischen Konzepts, das der christlichen Darstellung der Liebe innewohnt. Gottes Liebe zu den Geschöpfen, das religiös-metaphysische Prinzip der Lehre Jesu, wird so zum Begriff der einigenden Rationalität, die dem Konstruktionsprozess der Natur innewohnt. Diese Rationalität manifestiert sich als Einheit der Gegensätze und als ihre gegenseitige Abhängigkeit, die Grundlage ihres scheinbaren Gegensatzes.
Hier liegt, wie gesagt, der Ursprung des Begriffs der Dialektik und insbesondere der ursprünglichen Formulierung des „ontologischen“ Wertes, den der Begriff der „Idee“ in der reifen Philosophie Hegels und insbesondere in ihrer Logik haben wird.
In dieser ersten Stufe der begrifflichen Umwandlungsoperation der religiös-metaphysischen Darstellung der Lehre Jesu hat Hegel tatsächlich die Grundlagen für die Formulierung des Begriffs der logischen (oder absoluten) Idee gelegt. Das heißt, er begann, das darin enthaltene philosophische Konzept von der christlichen Darstellung der universellen Liebe zu unterscheiden; dieser Begriff wird dann am Ende dieses Enukleationsprozesses die absolute oder logische Idee sein.
Das in der Darstellung der universellen Liebe implizierte Konzept ist daher die Einheit der Gegensätze, die vereinigende Rationalität, die dem Weltbildungsprozess zugrunde liegt. Es ist die universelle Dialektik, das Konstruktionsprinzip nicht nur des zeitlich und räumlich begrenzten Universums, das in der Evolutionsreihe den Menschen als seine vorläufige letzte Gestalt hat, sondern des Seins als Wesen, unabhängig von Zeit und Ort, in dem es sich befindet wird gebaut. Weitere Erläuterungen zu diesem ontologischen Wert der Idee werden im Hinblick auf den ersten Moment der dritten Periode gegeben, in der dieser Begriff diskutiert wird.
Betrachten wir nun den entsprechenden Schritt Hegels in der Umwandlung der ethischen Vorstellung von der Ankunft des Reiches Gottes in den relativen Begriff.
Umwandlung des ethischen Ideals:
von der Darstellung des Reichs Gottes
zum Gemeinschaftsbegriff
Entsprechend der Formulierung des religiösen Prinzips der universellen Liebe als Einheit der Gegensätze im ontologischen Sinne führt Hegel eine Reihe von dialektischen Überlegungen zur ursprünglich christlichen Vorstellung von der Ankunft des Reiches Gottes an: dem ersten Kern der Zukunft In diesen Jahren entstand die Philosophie des objektiven Geistes, der, wie sich später zeigen wird, den ursprünglichen Kern und nicht zufällig auch den bedeutendsten der Philosophie des Geistes ausmacht. Dies sind isolierte Anwendungen des ontologischen Prinzips der Einheit der Gegensätze auf Inhalte, die sich auf den Begriff der menschlichen Gemeinschaft beziehen, also auf das von Jesus in seinem ideellen Aspekt definierte ethische Universum „Reich Gottes“.
Dieses Prinzip wendete er zunächst auf den Begriff der Eltern-Kind-Beziehung an, dessen Behandlung erstmals in dem erwähnten Fragment über die Liebe (... welches ??Zwecke denn alles Übrige dient...) und dann auftaucht wird mehr oder weniger ausführlich in den verschiedenen aufeinanderfolgenden Entwürfen der Philosophie des objektiven Geistes zurückkommen. [87]
„Weil die Liebe ein Gefühl des Lebendigen ist, so können Liebende sich nur insofern unterscheiden, als sie sterblich sind, als sie diese Möglichkeit der Trennung denken, nicht insofern, als wirlich etwas getrennt ware, als das Mögliche mit einem Sein verbunden ein Wirkliches ware. An Liebenden ist Keine Materie, sie sind ein lebendiges Ganze […] Das Eigenste vereinigt sich in der Berührung, in der Befühlung bis zur Bewußtlosigkeit, der Aufhebung aller Unterscheidung; das Sterbliche hat den Charakter der Trennbarkeit abgelegt, und ein Keim der Unsterblichkeit, ein Keim des ewig sich aus sich Entwickelnden und Zeugenden, ein Lebendiges ist geworden. Das Vereinigte trennt sich nicht wieder; die Gottheit hat gewirkt, erschaffen. Dieses Vereinigte aber ist nu rein Punkt, der Keim, die Liebenden Können ihm nichts zuteilen, daß in ihm ein Mannigfaltiges sich befände; […] Der Keim wendet sich immer mehr zur Entgegensetzung los und beginnt, jede Stufe seiner Entwicklung ist eine Trennung, um wieder den ganzen Reichtum des Lebens selbst zu gewinnen. Uns so ist nun: das Einige, die Getrennten und das Wiedervereinigte. Die Vereinigten trennen sich wieder, aber im Kind ist die Vereinigung selbst ungetrennt worden.” (W1, 246-249) |
Im selben Fragment findet sich im nächsten Absatz die dialektische Behandlung der Begriffe Eigentum und Recht, Besitz und Gemeingebrauch; diese Begriffe werden dann auch Bestandteil der Philosophie des objektiven Geistes sein. [88]
In dem Fragment Grundentwurf zum „Geist der Christenheit“ [89] nach Schüler aus dem Herbst 1798 findet sich die dialektische Behandlung der strafrechtlichen Begriffe Schuld, Strafe und Recht. [90] Auch diese Begriffe werden später einen Teil der endgültigen Philosophie des objektiven Geistes bilden. [91]
In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass der logische Übergang von der dialektischen Behandlung der Eltern-Kind-Beziehung zu den strafrechtlichen Begriffen in diesem Fragment identisch ist mit dem Übergang, der dann in der endgültigen Ausarbeitung der Philosophie des Rechts erfolgen wird der objektive Geist vom Begriff der Familie bis zu dem der bürgerlichen Gesellschaft. Dies stellt einen weiteren Beweis für die Kontinuität der Entwicklung von Hegels Denken dar und ergänzt die zahlreichen anderen Beweise, die ich in meinen beiden früheren Hegel-Monographien anführte.
Abschließend möchte ich auf eine weitere sehr wichtige Tatsache hinweisen, die uns auf den Übergang zur zweiten Stufe dieser Phase vorbereitet: In dem eben erwähnten Fragment Fundamental Project... faßt Hegel dialektisch den eigentlichen Begriff des "Reiches von". Gott", das von ihm als Gesamtheit konzipiert wird, die die Begriffe des Eltern-Kind-Verhältnisses, des rechtlichen Eigentums- und Gebrauchsverhältnisses, des strafrechtlichen Verhältnisses von Strafe, Schuld und Recht etc.
Hegel drückt begrifflich die Darstellung des „Reiches Gottes“ als aus
“Das Reich Gottes ist der Zustand, wenn die Gottheit herrscht, also alle Bestimmungen und alle Rechte aufgehoben sind.” (W 1, 311) |
Im folgenden Absatz bestimmt er noch deutlicher die dialektische Beziehung zwischen Gott und der Gemeinschaft:
„Gott ist in nichts Isoliertem, sondern in lebendiger Gemeinschaft, die im Individuum betrachtet Glaube an die Menscheit ist, Glaube ans Reich Gottes- Glaube ist das Individuelle gegen das Lebendige- nicht die Gesetze Gottes herrschen, den Gott und seine Gesetze sind nicht zweierlei.”(W1, 312) |
Dieses Konzept der Identität zwischen Gott und seinen Gesetzen ist sehr wichtig, da es die Grundstruktur des Konzepts des absoluten Geistes darstellt, basierend auf der Identität zwischen individuellem Geist (den Gesetzen) und dem Absoluten (Gott), die bekanntlich - aber dafür nicht bekannt! -, [92] schließt das Hegelsche philosophische System.
Kurz gesagt, was sich langsam herausbildet, ist das Thema der Beziehung zwischen dem Individuellen und dem Universellen in der ethischen Sphäre. Dieses Verhältnis, vom menschlichen Subjekt aus betrachtet, wird um 1800 der Begriff des „religiösen Lebens“ sein; vom objektiven Standpunkt der Göttlichkeit oder des Allgemeinen betrachtet, wird es 1802 der Begriff der „absoluten Ethik“ sein, der später im reifen Hegelschen System eine große Rolle spielen wird.
Lassen Sie uns jedoch vorerst den logischen und chronologischen Weg respektieren, der von uns verlangt, die zweite Stufe der Hegelschen Operation der Umwandlung der ursprünglichen christlichen Darstellungen in ihre jeweiligen philosophischen Konzepte zu analysieren.
(1800)
Diese Stufe der Entwicklung von Hegels Denken markiert den Moment des Übergangs im Sinne einer Verbindung und nicht eines Bruchs zwischen Reflexionen überwiegend religiöser Natur und solchen überwiegend metaphysischer und philosophischer Natur. [93] Tatsächlich ändert sich weder die Problematik noch der Sinn der Hegelschen Überlegungen, sondern die Form, in der sie zum Ausdruck kommen. Es herrscht nicht mehr die repräsentative Form religiösen Wissens, sondern die begriffliche Form der Philosophie.
Sie bildet den Kern und das Zentrum der Hegelschen Gedankenentwicklung auch deshalb, weil zum ersten Mal erscheint, was dann das Grundmerkmal aller weiteren Gedankenentwicklungen sein wird: die Systematik. Tatsächlich ist die Schrift, die die Hauptquelle dieser Phase darstellt, das sogenannte Systemfragment (Systemfragment). Der Titel macht deutlich, was diesen Text von anderen uns überlieferten Frühschriften unterscheidet.
Hegel selbst war sich übrigens in dem heute berühmten Brief an Schelling vom 2. November 1800 durchaus bewusst, dass in dieser Periode seiner eigenen geistigen Entwicklung eine wesentliche Wandlung in der Art der Konstruktion seiner eigenen Weltanschauung vor sich ging so interpretierte er seine eigene jüngste spirituelle Entwicklung:
„In meiner wissenschaftlichen Bildung, die von untergeordnetern Bedürfnissen der Menschen anfing, mußte ich zur Wissenschaft vorgetrieben werden, und das Ideal des Jünglingsalters mußte sich zur Reflexionsform, in ein System zugleich verwandeln; ich frage mich jetzt, während ich noch damit beschäftigt bin, welche Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen zu finden ist.”(Br. P. 27) |
Das Systemfragment wurde am 14. September desselben Jahres fertiggestellt, also nur vierzig Tage vor dem Schreiben dieses Briefes. Die autobiographischen Überlegungen Hegels, die er seinem Freund und zukünftigen Kollegen gegenüber äußerte, beruhen offenbar auf den in der letzten Periode gemachten geistigen Fortschritten und sind in der systematischen Schrift enthalten, von der leider nur der letzte Teil erhalten ist.
Das grundlegende Merkmal dieses Stadions ist daher, zumindest formal gesehen, sicherlich Systematik. Sehen wir uns nun an, was der gedankliche Inhalt dieser Systematik ist, dh was die logische Passage ist, die diese Stufe von der vorherigen unterscheidet.
In den Texten der vorigen Stufe zeigt Hegel, dass er verstanden hat, dass in der repräsentativen Form, mit der Jesus das religiös-metaphysische Prinzip der universellen Liebe konzipiert und zum Ausdruck gebracht hat, der Begriff der Einheit der Gegensätze als universelles ontologisches Prinzip verborgen ist. Nun geht er einen weiteren Schritt weiter, indem er den in der Darstellung der universellen Liebe enthaltenen Begriff genauer bestimmt: es ist der Begriff der Vereinigung von Mensch (als Vernunft) und Gott (als Welt). Hegel in der Tat in den um 1800 angestellten Überlegungen [95]und dann am 14. September desselben Jahres mit der Schließung des Fragment-Systems kulminierend, versteht er, dass das religiöse Prinzip der Lehre Jesu die Identität ist zwischen der Vernunft des Menschen – schon gar nicht verstanden als dem Intellekt des endliche Formen der Reflexionsphilosophie, sondern als spekulative Vernunft der religiösen Erkenntnis - und der unendliche Geist, der sich in der Natur durch ihre verschiedenen Organismen entwickelt und ausbreitet. Dieser unendliche Geist ist „Gott“, allerdings im pantheistischen und nicht-fideistischen Sinne dieses Begriffs. [96]
Das ist der grundlegende Inhalt dieser zweiten Stufe der Umwandlung der Darstellung des religiös-metaphysischen Prinzips der universellen Liebe in den entsprechenden Begriff. Offensichtlich ist es notwendig, diesen Begriff genauer zu bestimmen, jedoch ist dies auch sehr schwierig. Erstens, weil das Systemfragment, wie bereits erwähnt, stark verstümmelt zu uns gekommen ist: Von den 47 ManuskriptBögenn des Originals besitzen wir derzeit nur zwei, genau 32 und 47. Zweitens gibt es einen anderen Grund, ein logisches und kein rein philologischer Natur, was die Lektüre und Interpretation dieses Textes außerordentlich erschwert:
Folglich hat diese Schrift weder die diskursive Einfachheit der präsystematischen Schriften, die vor 1800 geschrieben wurden, noch die logische Strenge der nachfolgenden systematischen Schriften. Stattdessen haben wir es darin mit den empirischen Begriffen zu tun, die der bisherigen Denkform eigen sind und die dazu neigen, allmählich die eindeutige Klarheit zu erlangen, die dem systematischen Denken eigen ist. Diese Klarheit erreicht Hegel im Systemfragment jedoch nur teilweise, da die noch weitgehend religiöse Sprache, die er hier anwendet, offensichtlich nicht geeignet ist, den ohnehin dezidiert philosophisch-systematischen Gehalt seines Denkens auszudrücken.
Aus diesem Gegensatz zwischen philosophischem Gedankeninhalt und religiöser sprachlicher Ausdrucksform leitet sich die erwähnte Schwierigkeit bei der Interpretation dieses Hegelschen Textes ab. Versuchen wir jedoch, auf Grund des verfügbaren Materials den Fortschritt, den Hegel in diesem Stadium gemacht hat, so genau wie möglich zu bestimmen.
Umwandlung des religiösen Prinzips:
aus dem ontologischen Begriff der Einheit der Gegensätze überhaupt
zum theologischen Konzept der Einheit der Gegensätze Mensch-Gott
Was die Umwandlung der religiös-metaphysischen Vorstellung betrifft, so ist der grundlegende Begriff der ersten Stufe die Einheit der Gegensätze im Allgemeinen, während er auf dieser zweiten Stufe zur Einheit der Gegensätze Mensch-Gott wird.
Tatsächlich definiert Hegel im Systemfragment alles, was existiert, als „Leben“. Er unterscheidet dann zwei Ebenen der Zugehörigkeit zum Leben: die Ebene der Individualität, von ihm als „endliches Leben“ definiert, und die Ebene der Universalität, definiert als „unendliches Leben“:
„Das ungeteilte Leben voraugesetzt, fixiert, so können wir die Lebendigen als Äußerung des Lebens, als Darstellungen desselben betrachten, deren Mannigfaltigkeit, die eben, weil Äußerung gesetz werden, zugleich gesetzt, und zwar als unendlich gesetzt wird, die Reflexion dann als ruhende, bestehende, als feste Punkte, als Individuen fixiert;-ider ein Lebendiges voraugesetzt, und zwar uns die Betrachtenden, so ist das außer unserem beschränkten Leben gesetzte Leben ein un-endliches Leben von unendlicher Mannig-faltigkeit, unendlicher Entgegensetzung, un-endlicher Beziehung; als Vielheit eine un-endliche Vielheit von Organisationem, Indi-viduen, als Einheit ein einziges organisiertes getrenntes und vereinigtes Ganzes - die Natur.” (W1, 420) |
Das Leben enthält in sich sowohl die Einheit der einzelnen Einzelwesen als auch ihren Gegensatz:
„[…] das Leben kann eben nicht als Vereinigung, Beziehung allein, sondern muß zugleich als Entgegensetzung betrachtet [werden]“ (W1, 422) |
Von diesem Standpunkt aus schließt dann Hegel:
„[…]ich müßste mich ausdrücken, das Leben sei die Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung […].“ (W 1, 422) |
Es handelt sich um einen Ausdruck, der die aufkommende Dialektik unmissverständlich ankündigt und unmittelbar auf die ausgereifte Wissenschaft der Logik verweist. [97]
Der Mensch gehört dem endlichen Leben an, aber gerade indem er das Leben selbst ist, hat er die Fähigkeit, aus dem endlichen Leben zum unendlichen Leben, das heißt zu Gott, aufzusteigen:
„die Natur nicht selbst Leben, sondern ein von der Reflexion obzwar aufs würdgiste behandeltes fixiertes Leben ist, […] das Natur betrachtende, denkende Leben noch diesen Widerspruch, diese einzige noch bestehende Entgegensetzung seiner selbst gegen das unendliche Leben […] dies denkende Leben hebt aus der Gestalt, aus dem Sterblichen, Vergänglichen, unendlich sich Entgegengesetzten, sich Bekämpfenden heraus das Lebendige, frei vom Vergehenden, die Beziehung der Mannigfaltigkeit […] allebendiges, allkräftiges, unendliches Leben, und nennt es Gott […]. „(W1, 420-421) |
Diese Operation, das unendliche Leben aus dem endlichen Leben durch ein Wesen zu extrahieren, das demselben endlichen Leben angehört – der Mensch – macht nach Hegels Meinung das Wesen der Religion aus:
„Diese Erhebung des Menschen[…] vom endlichen Leben zum unendlichen Leben ist Religion.“ (W1, 421) |
Der Mensch ist daher dadurch gekennzeichnet, dass er „Vernunft“ oder „Religion“ ist (im Gegensatz zu Intellekt und Philosophie) und eine der Äußerungen des endlichen Lebens ist; Gott hingegen ist das unendliche Leben, das heißt der aus verschiedenen Individuen zusammengesetzte Organismus, der allgemein „Natur“ oder „Welt“ genannt wird.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass Hegel in diesem Text und Kontext Folgendes schreibt:
„Die Philosophie muß eben darum mit der Religion aufhören[…].“ (W1, 422-423) |
Tatsächlich kritisiert der Stuttgarter Philosoph, da er noch keine spekulative Philosophie ausgearbeitet hat, auf dieser Stufe der Entwicklung seines eigenen Denkens die Philosophie als eine dem Intellekt eigene Erkenntnisform, die die Gegensätze trennt, ihr die Religion gegenüberstellt, die stattdessen vereint seiner Meinung nach die Gegensätze.
Diese Auffassung wird sich ändern, wenn er während seines Aufenthalts in Jen seine eigene Philosophie ausarbeitet, die dank der Formulierung der dialektischen Logik den spekulativen Charakter der Religion annehmen wird, dh ihre Fähigkeit, die Gegensätze Mensch-Gott zu vereinen.
Obwohl Mensch und Gott scheinbar in einem unauflöslichen Gegensatz zueinander stehen, da das eine Leben endlich, das andere unendlich ist, sind sie in Wirklichkeit eins. Tatsächlich gibt es eine Identität zwischen ihnen, die Grundlage und Wahrheit ihres scheinbaren Gegensatzes, die darin besteht, dass beide „Leben“ sind.
Die Endlichkeit des Menschen und die Unendlichkeit Gottes sind also nur die zwei verschiedenen Ebenen ihrer unterschiedlichen Zugehörigkeit zum Leben. Das endliche Leben ist der Teil, das unendliche Leben ist das Ganze.
Gerade diese Identität, die dem Gegensatz zwischen Mensch und Gott zugrunde liegt, ermöglicht die religiöse Erhebung vom endlichen zum unendlichen Leben:
„Dieses Teilsein des Lebendigen hebt sich in der Religion auf, das beschränkte Leben erhebt sich zum Unendlichen, und nur dadurch, dass das Endliche selbst Leben ist, trägt es die Möglichkeit in sich, zum unendlichen Leben sich zu erheben.“ (W1, 422)
|
Dank der Religion kann der Mensch also zu Gott, das heißt zum unendlichen Leben, aufsteigen. Im Akt dieser Vereinigung sind die beiden Gegensätze nicht mehr zwei, sondern eins, sie sind nicht mehr getrennt, sondern vereint. Diese Erhebung ist, wie Hegel deutlich macht, nichts Zufälliges, sondern Notwendiges. Nur der Grad, in dem ein bestimmter Mensch oder ein bestimmtes Volk aufhört, ins Unendliche aufzusteigen, ist etwas Zufälliges. Damit die Erhebung stattfinden kann, ist dies jedoch notwendig.
Der junge Denker äußert sich dazu:
„Religion ist irgendeine Erhebung des Endlichen zum Unendlichen als einem gesetzten Leben; und eine sulche ist notwendig, denn jenes ist bedingt durch dieses; aber auf welcher Herde der Entgegensetzung und Vereinigung die bestimmte Natur eines Geschlechts von Menschen stehenbleibe, ist zufällig in Rücksicht auf die unbestimmte Natur.“ (W1, 426) |
Der logische Übergang dieser Stufe ist dann, dass der allgemeine und abstrakte Begriff der vorherigen Stufe – die Einheit der Gegensätze – nun zum spezifischen Begriff der Einheit zwischen Mensch und Gott im eben erläuterten Sinne geworden ist. Der Mensch und Gott, das endliche Leben und das unendliche Leben, Vernunft und Welt werden in der Religion eins: obwohl sie scheinbar Gegensätze sind, bestehen sie in Wahrheit aus derselben Grundsubstanz, die sie in ihrem Aspekt der Totalität ist ist Gott oder unendliches Leben (alles Lebendige) und in seinem Teilaspekt ist es unter anderem der Mensch oder endliches Leben.
So wie der im vorigen Stadium formulierte Begriff der Einheit der Gegensätze dem ontologischen Wert der absoluten Idee entspricht, so entspricht dieser Begriff der spezifischen Einheit der beiden gegensätzlichen Menschengötter dem theologischen Wert, der in Hegels reifer Philosophie steht, insbesondere in der Wissenschaft der Logik, wird es das logisch-metaphysische Prinzip der Idee haben. Die Bedeutung dieses theologischen Werts besteht darin, dass Gott, also die logische Ursache der Welt, weder ausschließlich ein Vernunftbegriff (der logisch-formale Wert der der Kantischen Philosophie eigenen Gottesidee) noch eine Entität außerhalb der Vernunft ist Welt und Außen der Herrschaft der Vernunft (metaphysisch-unkritischer Wert der der institutionellen christlichen Religion eigenen Vorstellung von Gott). Gott ist vielmehr die untrennbare Einheit von Vernunft und Welt, Denken und Sein,
Weitere Erläuterungen zum theologischen Wert des Begriffs der absoluten Idee werden in dem entsprechenden Kapitel zur dritten Periode gegeben, das speziell der Diskussion dieses Begriffs gewidmet ist. An dieser Stelle war nur der Hinweis angebracht, dass der theologische Wert der absoluten Idee, der von Hegel ausgehend von der Ausarbeitung der Logik/Metaphysik von 1804/05 seine volle Erläuterung erfährt, im Systemfragment von 1800 seine erste explizite Formulierung findet.
Der Begriff der Einheit der Mensch-Gott-Gegensätze bildet somit den grundlegenden Inhalt der zweiten Stufe der Umwandlung der ursprünglich christlichen Darstellung der universellen Liebe in den entsprechenden philosophischen Begriff; den entsprechenden Begriff sehen wir nun in der Umwandlung der Darstellung des ethischen Ideals der Ankunft des Reiches Gottes.
Umwandlung des ethischen Ideals:
vom Gemeinschaftsbegriff zum religiösen Leben
Wir befinden uns immer noch im Jahr 1800 und die Hauptquelle ist auch in diesem Fall das Systemfragment. Der grundlegende Begriff dieser Stufe ist, was die Umwandlung des ethischen Ideals betrifft, das „religiöse Leben“. Hegel vereint die verschiedenen bisherigen Versuche, das Prinzip der Einheit der Gegensätze, also die entstehende Dialektik, auf die menschliche Gemeinschaft anzuwenden. Er vereint sie jedoch aus einer noch subjektiven Sicht, also aus der Sicht des Menschen und seiner Beziehung zur Gottheit: es ist die Sicht der Religionsphilosophie, also der denkenden Betrachtung des religiösen Phänomens.
In Anlehnung an einen von Hegels eigenen glücklichen Ausdrücken kann religiöses Leben definiert werden als
„[...] ein Lebendigerhalten oder als ein Beleben derselben [...].“ (W1, 424) |
Sie besteht darin, dem Dasein einen Sinn zu verleihen, sie ist die höchste Manifestation des menschlichen Geistes, der seine eigenen Lebensmöglichkeiten, seine eigene materielle Verfassung organisiert und plant.
Um die Wechselbeziehung zwischen dem religiösen Prinzip und dem ethischen Ideal und insbesondere die Abhängigkeit des zweiten vom ersten zu unterstreichen, stellt Hegel klar, dass der Grad der Glückseligkeit, also die Einheit des Menschen mit sich selbst und mit der umgebenden Welt und damit auch des Bewusstseins des Sinns seines Lebens innerhalb des natürlichen und sozialen Universums, das ein Volk erreicht, hängt gerade von der Art der Beziehung ab, die es mit der Gottheit aufbaut, das heißt von dem Grad der Vereinigung von Vernunft und Welt, der durch das Verstehen erreicht wird Gottes, der logischen Ursache der Welt. Diese Beziehung zwischen Mensch und Gottheit, also zwischen endlichem Leben und unendlichem Leben, wiederum hängt nach einem typischen dialektischen Zirkel von der moralischen Verfassung der Menschen, vom Grad der Glückseligkeit ab.
Dies sind offensichtlich zwei verschiedene Arten von Sucht. Die erste Abhängigkeit, die des ethischen Ideals vom religiösen Prinzip, ist eine »logische« Abhängigkeit; die zweite Abhängigkeit, die des religiösen Prinzips von den ethischen Lebensbedingungen, ist vielmehr eine »historische« Abhängigkeit. So beginnt sich Hegels außerordentliches Verständnis der Dialektik innerhalb der geschichtlichen Welt zu bilden, die dann ab 1807 ihre größten Früchte tragen wird, zunächst mit der Phänomenologie des Geistes und dann mit den großen historischen Rekonstruktionen der geschichtsphilosophischen Universitätsvorlesungen und allgemein in Bezug auf die verschiedenen Bereiche der historischen Erfahrung der Menschheit.
Der Grundbegriff dieser zweiten Stufe von Hegels Operation, die ethische Darstellung des ursprünglichen Christentums in den entsprechenden philosophischen Begriff zu übersetzen, ist daher das Ideal des religiösen Lebens. Dieses Ideal fügt den Geist wieder in die Materie ein, hat aber immer noch eine Grenze: den subjektiven Standpunkt. Der religiös lebende Mensch ist immer noch ein Mensch, also ein endliches, begrenztes empirisches Subjekt. Die Vereinigung mit Gott, mit dem unendlichen Leben ist also noch nicht abgeschlossen.
Andererseits ist diese Einschränkung des Ordenslebens kein Zufall, sondern unvermeidlich. Wie Hegel sich selbst ausdrückt, indem er eines der bedeutendsten Konzepte anwendet, das in der Zeit zwischen 1795 und 1800 ausgearbeitet wurde, ist es das „Schicksal“ des religiösen Lebens:
„Im religiösen Leben […], aber an sein Schicksal erinnert, vermöge dessen es auch Objectives als Objektives bestehen müssen oder gar selbst Lebendiges zu Objekten machen.“ (W1, 424) |
Kurzum, im religiösen Leben kann die Vereinigung von endlichem Leben und unendlichem Leben nicht vollständig erreicht werden, da der einzelne Mensch darin noch nicht ankommt, um das unendliche Leben in sich zu erkennen und also eine noch bestehende Schranke zwischen dem Endlichen und dem zu beseitigen unendlich, Subjektivität und Objektivität usw. Im religiösen Leben kann jene Vereinigung von Subjektivität und Objektivität nicht stattfinden, die Hegel im Systemfragment wie folgt definiert:
„Diese vollständige Vereinigung in der Religion, eine sulche Erhebung des endlichen Lebens zum unendlichen Leben, so dass sowenig Endliches, Beschränktes, dh rein Objectives oder rein Subjektives übrigbleibe als möglich […].“ (W1, 425-426) |
Wenn wir die spätere Sprache von Hegel übernehmen, könnten wir sagen, dass die zugrunde liegende logische Struktur des religiösen Lebens „Reflexion“ und nicht vollständige „Spekulation“ ist; es entwickelt sich auf der Ebene des An sich und für uns, nicht an sich und für sich.
Diese „absolute“ Ebene (d. h. Identität eines subjektiven und objektiven Aspekts im logischen Satz) kann nur erreicht werden, indem es gelingt, die Elemente der religiösen Erfahrung, also der Empirie, vollständig beiseite zu lassen – wenn auch einer Empirie, die bereits dem Unendlichen und zugewandt ist also zur eigenen Selbstüberwindung - und zur Stufe der reinen Begriffe, zum ’Schattenreich’, wie Hegel sich diesbezüglich in einer nicht nur klaren Definition der Logik ausdrückt, wie Hegel es immer für den Wer ist möchte es wirklich verstehen, aber auch äußerst suggestiv:
"Das System der Logik ist das Reich der Schatten, die Welt der einfachen Wesenheiten [...]." (GW21, 42, 30-31 ) |
Dieser weitere Schritt nach vorn bildet den Grundinhalt der nächsten Stufe der immanenten Entwicklung des Hegelschen Denkens. Darin geht der junge schwäbische Philosoph vom reflektierenden zum spekulativen Wissen über: Dann wird seine Sprache zur idealistischen Philosophie und sein sehr professionelles Leben ändert sein Gesicht: Übergang an die Universität Jena, Beginn der akademischen Tätigkeit, Herauskommen aus der Bildungsisolation, Eintritt in die philosophische Kontroverse.
All dies war nur möglich dank der bereits gelungenen Konzeption der Grundstruktur des philosophischen Systems, zu der Hegel durch seine historisch-religiösen Studien gelangt war.
Tatsächlich ab etwa 1801 zumindest in der Nussschale eines metaphysischen Prinzips, um der toten Materie des logisch-metaphysischen Wissens der Zeit neuen Geist einzuhauchen, und eines ethischen Ideals, um die kalten Glieder zu beleben der Ethik Kantian und Fichtian. Bevor wir jedoch zur dritten und letzten Stufe übergehen, ist es gut, zunächst die wichtige Frage zu klären, ob das Systemfragment Hegels erstes System darstellt oder nicht.
Aus den bisher erzielten Ergebnissen scheint mir geschlossen zu sein, dass Hegels erstes System in diesem Fragment tatsächlich existiert, wenn auch sicherlich noch nicht entwickelt. [98]Tatsächlich befasst es sich sowohl mit der menschlichen Welt (ethisches Ideal des religiösen Lebens) als auch mit der natürlichen Welt (Prinzip des unendlichen Lebens und der Natur als Organismus); vor allem dann aber auch die Vorstellung der Beziehung zwischen Mensch und Natur durch die Vorstellung der Einheit der Gegensätze Vernunft und Welt in Gott verstanden als unendliches oder alles lebendiges Leben. In dieser Konzeption vereint Hegel, wenn auch innerhalb der oben erwähnten subjektiven und reflexiven Grenzen, die drei Begriffe der Metaphysik und Theologie: den Begriff der Seele, der Welt und Gottes, um diese drei grundlegenden Aspekte des Seins in einer einzigen Übersicht zu vereinen.
Ich glaube, wir können daher mit Sicherheit behaupten, dass das Systemfragment Hegels erstes System ist, in dem Sinne, dass es zum ersten Mal im Korpus der erhaltenen hegelschen Schriften darin vorhanden ist, die grundlegende einheitliche konzeptionelle Struktur jedes philosophischen Systems. und damit auch des reifen Hegelschen. Bis zum Auffinden der zahlreichen fehlenden Bögen muss die weitere Frage unbeantwortet bleiben, nämlich ob es sich auch um ein vollständiges philosophisches System handelt, in dem alle Einzelteile auch tatsächlich entwickelt sind.
(1801-1802/03)
Der nächste logische Schritt in Hegels Denken besteht darin, der Identität von Mensch und Gott, dem Ergebnis des notwendigen Erhebungsprozesses vom endlichen Leben zum unendlichen Leben, einen bestimmten Namen zu geben und insbesondere dann das zwischen Gott als bestehende objektive Verhältnis zu bestimmen eine Gesamtheit und der Mensch als Teil. Die Einheit der Mensch-Gott-Gegensätze wird dann zum Begriff des Absoluten, den Hegel vor allem durch die Lektüre der Schriften seines ehemaligen Universitätsstudenten Schelling anerkennt.
Im Januar 1801 traf Hegel in Jena ein. Am 14. September des Vorjahres vollendete er das Fragment des Systems und hielt im Wintersemester 1801/02 die erste Vorlesung in Logik und Metaphysik an der Universität Jena. In dem Jahr, das zwischen dem Winter 1800/01 und dem Winter 1801/02 verging, bildete die Konzeption des Begriffs die dritte Stufe des Umwandlungsprozesses der religiösen Darstellung der universellen Liebe in den logisch-metaphysischen Begriff des absoluten Muss gelegt werden. Dieses Konzept, wenn auch noch nicht in seiner endgültigen Fassung, muss dem obigen Kurs zugrunde gelegen haben (vgl. Düsing 1988).
Hegel konnte dieses Konzept dank des eingehenden Studiums der idealistischen Philosophie der Zeit ausarbeiten. Aus dieser Studie entstand die Ende Juli 1801 veröffentlichte und in der ersten Hälfte desselben Jahres konzipierte Abhandlung über den Unterschied zwischen Fichtes und Schellings philosophischem System. Dieses Werk zeugt von Hegels profunder Kenntnis der bis dahin von Kant, Fichte, Schelling und Reinhold veröffentlichten Schriften, insbesondere der Metaphysik, sowie einiger anderer Schriften kleinerer Autoren, und stellt die Hauptquelle für die Rekonstruktion der von ihm gemachten geistigen Fortschritte dar in diesem Stadium). [99]
Darüber hinaus arbeitete Hegel mit Schelling an der Herausgabe der kritischen Zeitschrift für Philosophie zusammen, und die beiden jungen Lehrer waren enge Kollegen an der Universität Jena. Hegel hatte also die Gelegenheit, durch Gespräche mit seinem alten Studienfreund sowohl mit dem philosophischen Problem der Zeit als auch mit der avantgardistischsten Lösung dieses Problems, nämlich mit der Philosophie Schellings selbst, in Berührung zu kommen. Hegel hat in der Tat, auch als ihn ab 1803 die Entwicklungen seines eigenen Denkens dazu führten, sich philosophisch von seinem Freund zu distanzieren, seine ursprüngliche Meinung, die in dem Aufsatz von 1801 zum Ausdruck kam, nie geändert, nämlich dass Schelling näher sei als Fichte, Reinhold, Jacobi usw. zur exakten Lösung des von der Kantischen Philosophie offengelassenen Problems des Verhältnisses von Vernunft und Welt, also des sogenannten "Dings an sich". Er erkannte jedoch bald die Grenze, die Schellings philosophisches System noch beeinträchtigte, und beseitigte sie durch sein eigenes philosophisches System).[100]
Die wichtigste Tatsache, die in Bezug auf Hegels Verlegung von Frankfurt nach Jena hervorzuheben ist, nämlich der Übergang von der Studienzeit, die noch von kategorialen Themen und Werkzeugen aus dem Bereich der Religion dominiert wurde, zu der Periode, die von rein philosophischen kategorialen Themen und Werkzeugen dominiert wurde, lautet: Hegel hätte den philosophischen Stoff der damaligen Zeit nie ganz persönlich und originell aufarbeiten können, wäre er nicht schon mit seiner eigenen ursprünglichen Welt- und Menschenauffassung in Jena angekommen ausgedrückt in philosophischen Begriffen. Er würde bestenfalls Schellings Verteidiger in der hitzigen akademischen Polemik werden, die damals das häufigste Mittel intellektueller Kommunikation war. Der Stuttgarter Philosoph hingegen mit seiner eigenen ’Weltanschauung’,
Analysieren wir nun zunächst den logischen Fortschritt, den Hegel auf der religiös-metaphysischen Ebene gemacht hat, dann vertiefen wir den auf der ethisch-moralischen Ebene, der auf der ersteren beruht.
(1801)
Umwandlung des religiösen Prinzips:
aus dem theologischen Konzept der Einheit der Gegensätze Mensch-Gott
zum logisch-metaphysischen Begriff des Absoluten
1797-1799 verwandelte Hegel die christliche Darstellung der universellen Liebe in den Begriff der Einheit der Gegensätze; 1800 wird die Einheit der Gegensätze zur Einheit von Mensch und Gott als endliches Leben bzw. unendliches Leben; schließlich wird 1801 dank des Studiums der zeitgenössischen Philosophie und insbesondere der von Schelling die Einheit von Mensch und Gott, endlichem Leben und unendlichem Leben zur logisch-metaphysischen Einheit oder Identität von Subjekt und Objekt: das Absolute ). [101]
Das Absolute ist die Identität von Subjekt und Objekt, von Denken und Sein, in dem Sinne, dass es der Name ist, den Hegel dem 1800 konzipierten Begriff der Einheit von endlichem Leben und unendlichem Leben, von Vernunft und Gott gegeben hat. Bereits im System Fragment wir tatsächlich, zusätzlich zu dem endlich-unendlichen kategorialen Paar, findet es dieses Subjekt-Objekt. [102]
Was noch in der zweideutigen und unreinen Form der Religion ausgedrückt wurde, drückt sich jetzt in der eindeutigen und reinen Form des philosophischen Begriffs aus. Diese Ausdrucksform stellt jedoch nichts weiter als eine Umwandlung der bisherigen Religionssprache in philosophische Termini dar und schon gar keinen völlig neuen Gedanken im Kontext der Hegelschen Gedankenentwicklung, wie es etwa den Anschein hat. aus der folgenden Definition des Absoluten:
„Das Absolute selbst aber ist darum die Identität der Identität und der Nichtidentität.“ (GW4, 64, 13-14 ) |
Einerseits erinnert diese Definition unmittelbar an das Leben als Einheit von Einheit und Nichteinheit im Systemfragment, andererseits verkündet sie unmissverständlich die dialektische Konzeption der Wissenschaft der Logik.
Dieser Sprachwechsel beinhaltet zwar keine wesentliche Änderung des Grundgedankens Hegels, verbirgt aber auch einen logischen Bedeutungswechsel: Die subjektive und reflektierende – also religiöse – Haltung oder Sichtweise wird zugunsten der Sichtweise aufgegeben objektiv und spekulativ - also logisch-metaphysisch; also ist das Objekt nicht mehr in seinem An-sich-Sein oder für uns bekannt, sondern in seinem An-und-sich-Sein:
„In der absoluten Identität ist Subjekt und Objekt auf einander bezogen, und damit vernichtet; insofern ist für die Reflexion und das Wissen nichts vorhanden." (GW4, 63, 23-25 ??) |
Gott oder Welt ist die Gesamtheit natürlicher Individuen, ihrer Teile; es ist der Geist, der sich durch diese Teile entwickelt, ihre unsichtbare und doch gegenwärtige Einheit. Unter diesen Teilen ist die menschliche Vernunft die Fähigkeit, sich zu diesem Geist zu erheben und ihn zu verstehen, dank der Tatsache, dass er aus derselben göttlichen Substanz besteht. Diese Substanz ist dann die Einheit oder Identität, in der sich sowohl die Gottnatur (Welt) als auch der Mensch (Vernunft) befinden. Es ist die Schellinghsche „absolute Identität“.
In dem Systemfragment kann zwar behauptet werden, dass darin bereits, wenn auch nur implizit, ein den Begriffen des endlichen Lebens und des unendlichen Lebens übergeordneter Begriff vorhanden ist, der jedoch zumindest im gleichen Begriff des Lebens ist Teile, die auf uns gekommen sind, behandelt Hegel diesen Begriff nicht getrennt und scheint ihn daher auch nicht von seinen beiden Erscheinungsformen zu trennen. Das heißt, er scheint sich mehr auf die beiden Gegensätze und auf den Prozess ihrer Wiedervereinigung durch die Erhebung des Endlichen ins Unendliche zu konzentrieren als auf ihre ursprüngliche Vereinigung vor der Spaltung, also darauf, dass beide Leben sind. Wahrscheinlich gelangte er zu dieser ursprünglichen Identität von Endlich und Unendlich erst ab der jenesischen Zeit, also aus dem intensiven Studium der Schellinghschen Philosophie, und nicht vorher,
Hegel hingegen kann durch den Begriff der absoluten Identität die im Fragment des Systems noch vorhandene Trennung zwischen Vernunft und Welt, endlichem Leben und unendlichem Leben, die nun nicht mehr zwei getrennte Entitäten sind, endgültig aufheben, sondern nur zwei verschiedene Aspekte der einzigen Substanz, die durch sie geschieht und sie existieren lässt. Diese Substanz ist die absolute, also Vernunft nicht im subjektiven Sinne der menschlichen Vernunft, sondern im objektiven Sinne von „Gott“ im Spinozschen Sinne von „causa sui“.
Diese dritte Stufe der Operation der Enukleation des in Jesu Darstellung der universellen Liebe implizierten Begriffs entspricht dem logischen Wert der absoluten Idee. Der in den vorangehenden Stufen bestimmte ontologische und theologische Wert wird in den logischen Wert eingerechnet, der auf diese Weise nicht nur logisch-formal ist, sondern logisch-substantiell und damit logisch-metaphysisch wird, in dem von Hegel in den Einführung in die Wissenschaft der Logik.
Dieser Begriff des Absoluten wird später von Hegel als absolute Idee bestimmt und zum populären und rationalen Religionsprinzip seiner neuen ethisch-religiösen Theorie werden. Die neue Religionstheorie wird, soweit sie in völlig metaphysischen und logischen Begriffen ausgedrückt wird, die Wissenschaft der Logik sein. Die ursprüngliche Formulierung des Begriffs der absoluten Idee existiert jedoch bereits 1801 als Ausdruck in logischer Form des Begriffsinhalts des theologischen Prinzips, das die Weltanschauung des Systemfragments von 1800 begründet.
*
ZWEITE STUFE
(1802)
Umwandlung des ethischen Ideals:
vom Ideal des religiösen Lebens zur absoluten Ethik
Wenden wir uns nun Hegels Umwandlung der ethischen Vorstellung von der Ankunft des Reiches Gottes in den entsprechenden Begriff zu. Er entspricht offensichtlich der dritten Stufe der Umwandlung des religiös-metaphysischen Prinzips, also des Begriffs des Absoluten, da er auf diesem Begriff begründet und dadurch ermöglicht wird.
Das religiös-metaphysische Prinzip dieser Stufe ist der Begriff des Absoluten, dh der Identität von Vernunft (oder Subjekt) und Welt (oder Objekt); das entsprechende ethische Ideal ist der Begriff der absoluten Ethik als Einheit im praktischen Handeln von Individualgeist und Universalgeist. Lassen Sie uns nun auf artikulierte Weise sehen, was dies bedeutet und welche logische Beziehung zwischen diesen beiden Konzepten besteht.
Bereits 1800 bestimmte Hegel in seinem ersten, noch in einer Mischform von Religion und Philosophie konzipierten System das Verhältnis zwischen dem religiösen Prinzip der Wiedereingliederung der Vernunft in die Welt und dem ethischen Ideal der Wiedereingliederung des Geistes in die Materie. Das religiöse Leben, ein ethisches Ideal, hängt vom Grad der Erhebung des Menschen zu Gott ab, oder vielmehr von dem religiösen Prinzip, in dem sich diese Erhebung ausdrückt. Diese Erhebung hat in der Tat mehrere Grade; sie muss notwendigerweise stattfinden, weil der Mensch als endliches Leben von Gott bedingt ist, der unendliches Leben ist; Das Ausmaß, in dem es auftritt, ist jedoch zufällig. Der Erhebungsgrad des Endlichen ins Unendliche, den die Menschheit durch den Schellingh-Hegelschen Begriff der absoluten Identität erreicht hat, ist der höchste Grad des reinen Begriffs.
„[…] Und so dem, was etwa auch moralische Vorschrift einer Aufopferung des empirischen Wesens oder der Begriff formeller Abstraction war, eine philosophische Existenz geben, un also der Philosophie die Idee der absoluten Freyheit, und damit das absolute Leiden oder deny speculattag, der sonst historische war, und ihn selbst, in der ganzen Wahreit und Härte seiner Gottlosigkeit wiederherstellen […]. (GW4, 414, 5-9 ) |
Entsprechend dem Bewusstsein, den Begriff der absoluten Einheit zwischen Mensch und Gott im Begriff der absoluten Identität gefasst zu haben, entwickelt Hegel das Bewusstsein, dass menschliches Handeln, das heißt der Sinn, den der Mensch seiner eigenen Existenz gibt, weiter eine soziale Ebene, die intersubjektive Lebensform, die sich ein Volk gibt, sind keine rein zufällige und willkürliche Tatsache, sondern Manifestationen des Absoluten.
Das religiös-metaphysische Prinzip des Absoluten führt also zu diesem Ergebnis: Der Mensch als reine Vernunft ist die absolute Identität von Subjekt und Objekt, Menschsein und Gott; das daraus abgeleitete moralische Ideal lautet dann: Das Handeln des Menschen hängt vom Grad der Erhebung des Menschen zu Gott ab, und da dieser Grad nach der Perspektive der Schellingh-Hegelschen Philosophie der der totalen Identität ist die beiden, die menschliche Handlung ist folglich die gleiche Handlung wie Gott.
Menschliches Handeln und göttliches Handeln fallen also in dem Augenblick zusammen, in dem es dem empirischen Menschen gelingt, sich durch wahre philosophische Erkenntnis zu Gott, zum absoluten Sein zu erheben.
Dies ist der grundlegende Sinn des ethischen Ideals der absoluten Ethik, das Hegel in den ab dem Wintersemester des Jahres 1802 mit Unterbrechungen abgehaltenen naturrechtlichen Vorlesungen erstmals in Wortform und in Schriftform darlegte in der Abhandlung Über die Weisen der wissenschaftlichen Behandlung des Naturrechts von 1802/03.
Abschließend ist das Ideal der absoluten Ethik der begrifflich endgültige Ausdruck der Darstellung der Ankunft des Reiches Gottes, mit der Jesus den Menschen auf der ethischen Ebene von Geist und Materie wieder in die Natur eingefügt hatte. In der Tat will Hegel durch dieses Ideal die Überzeugung zum Ausdruck bringen, dass die vom Menschen auf Erden erbaute objektive Welt, also die Welt des Geistes, nicht die zufällige Frucht des willkürlichen Wirkens zufälliger Individuen ist, sondern die Manifestation der Gottheit selbst, des Absoluten.. Das Volk, das für Hegel für diese Jahre nicht die einfache mathematische Summe einzelner Individuen, sondern ihre organische Einheit ist, hat im Begriff der Sittlichkeit seine eigene grundlegende begriffliche Bestimmung, [103]es ist der höchste Ausdruck dieses Absoluten.
Das ist der Grundbegriff alles bisher Gesagten und das Grundergebnis der immanenten Entwicklung des Hegelschen Denkens bis 1802/03: das ethische Ideal, das sich der Mensch stellen muss, also der Sinn, dass Menschsein muss ihrer eigenen Existenz verleihen, dürfen nicht willkürlich und unbegründet sein, das heißt auf bloßer empirischer Subjektivität beruhen, sondern müssen in der Ethik des Volkes wurzeln, die als solche die Manifestation des Absoluten darstellt und daher die Ethik selbst sein muss der absoluten, absoluten Ethik.
Da aber die absolute Ethik den Sinn der Welt, also die Richtung ihrer Entwicklung darstellt, und der Mensch die höchste Form des Lebens und damit der Selbstdarstellung des Absoluten darstellt, ist der Sinn des menschlichen Daseins in der Welt, am Moment, in dem das Individuum durch Religion oder Philosophie von seiner eigenen empirischen Subjektivität zur absoluten aufsteigt, fällt mit demselben Weltgefühl zusammen.
Wir werden über die tiefe philosophische Bedeutung der von Hegel vollbrachten, aber bereits in der ursprünglichen Botschaft Jesu vorhandenen Vereinigung zwischen Religion und Moral, Gott und Mensch, Absolutheit und Ethik, Weltgefühl und menschlichem Daseinssinn sprechen Welt, über die Rekapitulation der Bedeutung von Hegels philosophischem System im Lichte seiner Genese. Fürs Erste genügt es, die Geburt der beiden Grundbegriffe des Hegelschen philosophischen Systems illustriert zu haben: des logisch-metaphysischen Begriffs des Absoluten und des moralisch-ethischen Begriffs der absoluten Ethik, beide abgeleitet aus der Umwandlung der entsprechenden Grundvorstellungen von ursprünglichen Christentum in ihre jeweiligen philosophischen Konzepte.
Mit der Formulierung des Ideals der absoluten Ethik 1802/03 endet die dritte und letzte Stufe der zweiten Phase der immanenten Entwicklung des Hegelschen Denkens.
(1802/03-1806)
Der Aufbau des ersten vollständigen philosophischen Systems,
wenn auch noch nicht endgültig
Der Aufsatz Über die Weisen der wissenschaftlichen Behandlung des Naturrechts, der die ursprüngliche Formulierung des Begriffs der absoluten Ethik enthält, ist die letzte der sogenannten „kritischen Schriften“ Hegels, d Kantischen und Fichtschen Philosophie sowie mit den anderen philosophischen Adressen der Zeit, wie z. Schulzes Skepsis formte, verstärkte und festigte die beiden Grundbegriffe seiner Philosophie: das religiös-metaphysische Prinzip des Absoluten und das moralisch-ethische Ideal der absoluten Ethik.
Gegen Ende des Jahres 1802 und Anfang des Jahres 1803 wurde eine neue Phase in der Entwicklung des Denkens des jungen Philosophen eingeleitet. Kritische und kontroverse Veröffentlichungen enden nicht nur, weil Schelling, mit dem Hegel die Kritische Zeitschrift der Philosophie herausgab, Jena verlässt, sondern vor allem aus einem tieferen und immanenteren Grund zur Entwicklung des Hegelschen Denkens. Tatsächlich beginnt Hegel, nachdem er in den ersten drei Jahren seines Aufenthaltes in Jena durch die Vertiefung des Denkens der idealistischen Philosophie der Zeit die wichtigsten kategorialen Werkzeuge derselben gemeistert hat, nun, sein eigenes Denken in a völlig systematisch und autonom, das heißt, langsam sein eigenes endgültiges philosophisches System aufzubauen.
Dieser Prozess artikuliert sich nach einem ganz bestimmten Plan: Hegel entwickelt den Gedankeninhalt, der in den beiden Grundprinzipien seiner Philosophie, dem Absoluten und der absoluten Ethik, enthalten ist, die durch die in den Jahren 1797-1803 durchgeführte Transformationsoperation erhalten wurden.
Die Entwicklung der in diesen Begriffen impliziten Gedankeninhalte ist in der Tat das grundlegende Merkmal der Entwicklung von Hegels Denken von 1803 bis 1805/06, dem Datum, aus dem die Ausarbeitung seines ersten vollständigen Systems zurückgeht [104, wenn auch noch nicht endgültig. Hierzu ist zwar Folgendes klarzustellen: Das Systemfragment von 1800 ist Hegels „erstes“ System im oben erläuterten Sinne, aber es ist weder vollständig noch offensichtlich endgültig; das durch die Manuskripte von 1805/06 gebildete System ist vielmehr das erste „vollständige“ System, da es alle grundlegenden Kapitel des Hegelschen philosophischen Systems enthält, aber noch nicht endgültig ist, da es nicht die neueste von Hegel herausgegebene Fassung darstellt selbst; die Enzyklopädie von 1830 ist schließlich als das vollständige und endgültige philosophische System anzusehen.
Diese Entwicklung führte den Stuttgarter Philosophen zum Aufbau eines eigenen philosophischen Systems. Insbesondere die Entwicklung des im Begriff der absoluten Ethik enthaltenen Begriffsinhalts (den Hegel, wie wir sehen werden, als erster entwickelt hat) führte zur Formulierung seiner ersten vollständigen Philosophie des objektiven Geistes im System der Ethik ( 1802/03). Die Entwicklung des im Begriff des Absoluten impliziten Begriffsgehalts führte vielmehr zur Formulierung der ersten "realen Philosophie" (Naturphilosophie + Philosophie des Geistes), bestehend aus den relativen systematischen Fragmenten von 1803/04 und 1805/06 sowie die in der Handschrift Logik / Metaphysik von 1804/05 enthaltene Urfassung der Zukunftswissenschaft der Logik.
Für Hegel reichte die Entwicklung des im logisch-metaphysischen Prinzip und im ethischen Ideal enthaltenen Begriffsinhalts jedoch nicht aus, um sein eigenes philosophisches System aufzubauen. Er musste einen dritten Begriff konzipieren, der als trait d’union zwischen dem Begriff des Absoluten und dem der absoluten Ethik fungierte: den Begriff des „absoluten Geistes“. Dieser Begriff wurde zum Grundprinzip seiner gesamten Philosophie und grenzte ihn nicht nur deutlich vom Denken Kant’s und Fichtes ab, von dem sich Hegel spätestens seit der Jenaer Zeit entschieden distanziert hatte, sondern auch vom Idealismus Schellings, der ebenfalls bis ab 1802/03 war es sein fester Bezugspunkt.
*
ERSTES STADIUM
(1802/03)
Die Entfaltung des im ethischen Ideal der absoluten Sittlichkeit
enthaltenen begrifflichen Inhalts:
die Entstehung der Philosophie der Sittlichkeit
als der neuen natürlichen Morallehre
Wir stehen am Ende des Jahres 1802. Neulich hat Hegel das moralisch-ethische Ideal der absoluten Ethik konzipiert. Zusammen mit dem religiös-metaphysischen Prinzip des Absoluten bildet es die Grundlage seines Denkens: einerseits Ethik, Wiedereingliederung des Menschen in die Natur auf der Ebene von Geist und Materie, andererseits Metaphysik, Wiedereingliederung des Menschseins in der Natur auf der Ebene von Vernunft und Welt. Aber das Ergebnis dieser beiden Teiloperationen muss die totale Wiedereingliederung des Menschen in die Natur sein. In Richtung der Suche nach dem Verständnis der Modalitäten dieser totalen Reintegration entwickelt sich das Denken unseres Philosophen von diesem Moment an bis 1806, dem Jahr, in dem dieses Ziel durch die erste Formulierung des vollständigen Systems erreicht wird, wenn auch nicht doch endgültig.
Der Begriff der absoluten Ethik bedeutet, dass das praktische Handeln des einzelnen Individuums nicht etwas rein Individuelles ist, sondern das Handeln des Absoluten, das sich durch es manifestiert. Dieser Grundauffassung folgend konstruiert Hegel die begriffliche Struktur der menschlichen Welt als Verwirklichung des Göttlichen, das heißt des Absoluten. So entstand mit dem sogenannten System der Ethik (1802/03) die erste systematische Formulierung der späteren Philosophie des Geistes.
In diesem Manuskript legt Hegel also den Teil seiner Philosophie offen, der, wie wir aus der ersten Phase seiner Gedankenentwicklung wissen, für ihn am wichtigsten war, nämlich der ethische Teil. Es ist unmöglich, hier eine vollständige Synthese des Textes zu liefern, da es sich bereits um ein sehr komplexes Werk handelt, dessen Präsentation und kritische Untersuchung ein spezifisches Studium erfordern. Es ist jedoch angebracht, im Folgenden zumindest einige grundlegende Punkte anzugeben.
Zunächst einmal bewegt sich Hegel hinsichtlich der angewandten Methode noch im kategorialen Apparat der Schellinghschen Identitätsphilosophie. Er beschreibt wahres Wissen als eine Einheit von Anschauung und Begriff, ersteres als Erkenntnisform des Allgemeinen und letzteres als Erkenntnisform des Individuellen. Er verwendet auch streng schellinghische sprachliche Ausdrücke und verwandte Konzepte (Subsumtion, Macht usw.).
Die Identität von Anschauung und Begriff ist die Idee und insbesondere, was die ethische Philosophie betrifft, die Idee der absoluten Ethik. So eine Idee
„[…] Das Zurüknehmen der absoluten Realität in sich, als in einer Einheit; so dass dieses Zurüknehmen und diese Einheit absolute Totalität ist; ihre Anschauung ist ein absolutes Volk; ihr Begriff ist das absolute Einsseyn der Individualitäten.“ (GW5, 279, 20-23 ) |
Diese Bestimmung der Idee der absoluten Ethik ist aus drei Gründen wichtig:
- zunächst zeigt sich, dass schon Hegel Erkenntnis dialektisch konstruiert, also nach der triadischen Bewegung der Ausgangsposition, der Verneinung und schließlich der Rückkehr zu sich selbst; [105]
- Zweitens geht daraus hervor, dass Hegel bereits einen Begriff der absoluten Realität hat, dh der ersten, die sich entwickelt und zu sich selbst zurückkehrt, aber es scheint nicht, dass er bereits eine genau definierte Vorstellung davon hat wird in der Handschrift Logik und Metaphysik von 1804/05 sein;
- Endlich identifiziert Hegel im absoluten Volk das synthetische Moment, also die Wiederkehr der absoluten Wirklichkeit in sich. Deshalb ist er bis Ende 1803 noch nicht zum Begriff des absoluten Geistes gelangt, der in den Manuskripten der Geistesphilosophie von 1805/06 vielmehr den Moment der Wiederkehr der absoluten Wirklichkeit in sich ausmachen wird.
Diese drei grundlegenden Aspekte des Systems der Ethik zeigen, dass es eine zentrale Position in der Entwicklung von Hegels Denken zwischen den Studien einnimmt, die vollständig als „jugendlich“ definiert werden können, da sie noch nicht die endgültige Konzeption des Systems enthalten, und reif Studien, in denen diese Konzeption vollständig und vertieft entwickelt wird.
Tatsächlich stellt dieses Manuskript bereits in seinen Grundzügen die grundlegende Hegelsche Vorstellung dar, dass das Absolute aus sich herauskommt, um in der ethischen Welt, also in der menschlichen Arbeit, zu sich selbst zurückzukehren, aber es fehlen sowohl die logisch-metaphysischen Prämissen als auch die philosophischen Schlussfolgerungen. Kurz, man spürt darin das Fehlen der Formulierung der dialektischen Logik und des Begriffs des absoluten Geistes, dh der Philosophie als Selbsterkenntnis des Absoluten.
Daraus kann geschlossen werden, dass das System der Ethik den Kern des Hegelschen philosophischen Systems enthält, jedoch ohne die Schwarte als äußere Hülle. Gleichwohl ist es gerade Hegels extreme Konzentration auf die ihm am Herzen liegenden Grundthemen seines eigenen Denkens, die das betreffende Manuskript auch für eine korrekte Interpretation des endgültigen philosophischen Systems besonders interessant und lehrreich machen.
Ja, wir überraschen Hegel darin in einer der ersten systematischen Versionen, vielleicht sogar in der ersten systematischen Version seiner eigenen Theorie der absoluten Ethik, die dann den zentralen Teil des reifen philosophischen Systems bilden wird.
Hier sind alle Themen formuliert, die Hegel später in dem der „Sittlichkeit“ gewidmeten Kapitel behandeln und in den rechtsphilosophischen Grundzügen vertiefen wird (Anerkennung, Liebe, Familie, Arbeit, bürgerliche Gesellschaft, Staat, Verfassung etc.). erstmals im Rahmen der systematischen Konzeption der ’Rückkehr der absoluten Wirklichkeit zu sich selbst’.
Mit dem System der Ethik haben wir es also mit einer sozusagen „frischen“ Version der so wichtigen Hegelschen Theorie der absoluten Ethik zu tun, die weder durch die bisweilen starre Anwendung der Prinzipien der Dialektik noch verunreinigt ist von jenen Zögern und von jenen Ängsten, die durch Iltings Studien hervorgehoben wurden, die dann schließlich die revolutionäre und befreiende Bedeutung der ethisch-politischen Philosophie des Ex-Stiftlers überschatteten. [106]
Um genau diesen Sinn hervorzuheben, möchte ich den Leser hier darauf aufmerksam machen, dass Hegel in dem oben zitierten Satz von „absoluten Menschen“ spricht. Dieses Konzept ist sehr wichtig, da es den Kenner des Hegelschen Denkens, der auch ein skrupelloser Interpret und gleichzeitig dem authentischen Geist seiner philosophischen Botschaft treu sein will, zu dem Schluss führt, dass Hegel, als er vom Volk als schrieb als Inkarnation des Absoluten dachte er nie an ein bestimmtes historisches Volk, noch an das preußische im besonderen.
Das an dieser Stelle dem Substantiv „Volk“ angehängte Attribut „absolut“ bietet eine klare und eindeutige Vorstellung von der ursprünglichen und grundlegenden Bedeutung des Hegelschen Begriffs „Volk“: Das Volk ist für den schwäbischen Philosophen eine sich selbst erkennende Gemeinschaft derselbe Begriff von ’absolut’, der im ’Volksgott’ einen äußeren und konkreten Aspekt erhält, wie er zu Beginn des letzten Abschnitts des Manuskripts schreibt:
„[…] Das Individuum, ist als besonderes Bewußtsein schlechthin dem Allgemeinen gleich; und this Allgemeinheit, welche die Besonderheit schlechthin mit sich vereinigt hat, ist die Göttlichkeit des Volkes, und dieses Allgemeine in der | ideale Form der Besonderheit angeschaut, ist der Gott des Volkes; er ist eine ideelle Weise es anzuschauen." (GW5, 326, 9-13 ) |
Damit ist klar, dass für Hegel die Zugehörigkeit zu einem Volk nicht auf einer Blutsbande oder jedenfalls einer natürlichen Art beruht, sondern auf einer religiösen und damit geistigen Bindung. Eine Religion zu haben, also eine gemeinsame Mentalität, das zeichnet ein Volk aus.
Daher sind die Menschen, die es schaffen, zur wahren Religion, zur absoluten Religion zu gelangen, die absoluten Menschen. Das ist die Bedeutung des Hegelschen Ausdrucks „absolute Menschen“. Das absolute Volk verwirklicht vollkommen die Wiederkehr der absoluten Realität in sich. [107] Absolutheit ist, kurz gesagt, kein Recht, das aufgrund eines genetischen Faktors erworben wird, sondern aufgrund eines präzisen historischen spirituellen Faktors, das heißt, es ist gelungen, seitens der Mitglieder einer Gemeinschaft absolute Religion zu erreichen. [108]
Tatsächlich versteht der Stuttgarter Philosoph vollkommen, dass die Grundlage der Ethik in der Religion (offensichtlich im weiten Sinne des Begriffs) zu finden ist, und skizziert nicht zufällig in der letzten Ergänzung des Manuskripts das Verhältnis zwischen den verschiedenen Formen von Staat und Religion. Dies sind nur einige Hinweise, die jedoch sehr wichtig sind, da sie uns zeigen, welchen Weg er in der Jenesezeit eingeschlagen hatte, bevor er nach den von Ilting hervorgehobenen historischen Ereignissen seinen Kurs änderte.
In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass von „Zusatz“ gesprochen werden muss, da aus dem Originalmanuskript, das in der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrt wird, deutlich wird, dass vom Wort „Kolonisierung“ bis zum Ende der Text beginnt hinzugefügt und durch eine Zeile vom Rest des Manuskripts getrennt. Die Entwicklung des Begriffs der absoluten Ethik in der betreffenden Handschrift erreichte damit den Begriff der Reproduktion des Volkes durch die Kindererzeugung und entwickelte nicht das Thema des Verhältnisses von Volk und Religion. Dieses Problem muss Hegel zu einem späteren Zeitpunkt in Übereinstimmung mit der Frage nach der Begründung der Ethik und damit mit der Entwicklung des im Begriff des Absoluten impliziten Gedankeninhalts vorgelegt werden (siehe nächste Stufe).
Der letzte hinzugefügte Teil soll sich daher mehr auf die als Fortsetzung des Systems der Ethik überlieferten, nicht notwendigerweise auf 1803 zurückgehenden Seiten beziehen, die gerade das Thema des Verhältnisses von Mensch und Religion betreffen, als auf das Manuskript des Systems der Ethik, die, gerade soweit sie nur die Ethik betrifft, also den objektiven Geist und nicht den absoluten, mit Recht beim Begriff des Volkes stehenbleibt. Erst die Veröffentlichung des Manuskripts im fünften Band der GWs stellte schließlich eine originalgetreue Veröffentlichung des Textes dar. Frühere Veröffentlichungen des Zusatzes als Bestandteil des Textes ohne Angabe (außer bei Mollat,
In dieser abschließenden Ergänzung des Manuskripts überprüft Hegel verschiedene Regierungsformen, insbesondere Monarchie, Aristokratie und Demokratie, und kommt zu dem Schluss, dass dies der Fall ist
"[...] In der Demokratie zwar absolute Religion, aber unbefestigte, oder verschmutzte Naturreligion [...]" (GW5, 361, 17-18) |
und weiter dann klärt er das
„[…] Die Religion muss rein sittlich seyn;“ (GW5, 361, 20-21) |
Dies sind unvollständige Sätze und Gedanken, die schwer zu interpretieren sind, da das Manuskript an dieser Stelle aufhört und nicht zufällig. Tatsächlich dürfte es Hegel auf dieser Stufe der Entwicklung seines eigenen Denkens nicht gelungen sein, eine Antwort auf die Frage nach der absoluten Religionsform zu geben, die geeignet ist, die absolute Regierung eines absoluten Volkes zu stützen und zu begründen.
Das System der Ethik bleibt daher ohne authentischen Abschluss, da Hegel auf dieser Stufe der Entwicklung seines eigenen Denkens keine Antwort auf die ihm gestellte Frage geben kann, die er am Ende des Manuskripts formuliert, nämlich wie man absolute Ethik, Demokratie, wie er sie definiert, begründen kann. Das Manuskript hört eigentlich auf, wenn es darum geht, die geeignete Religionsform zu finden, um eine absolute Ethik zu begründen. Es muss offensichtlich die absolute Religion sein, nach folgendem Schema:
Es ist daher eine Aufgabe für Hegel um 1803, über den Begriff der absoluten Religion nachzudenken und eine solche Religion auszuarbeiten, um eine Antwort auf die abschließende Frage nach dem systematischen Aufbau der absoluten Ethik im System der Ethik zu geben. Tatsächlich bildet diese Forschung die Hauptachse der Entwicklung des Denkens des Philosophen in den kommenden 2-3 Jahren, bis wir um 1805 zu dem Schluss kommen werden, dass nur die Philosophie, insbesondere die Philosophie als eine Wissenschaft, die er langsam ausarbeitet, dies kann es sei die absolute Religion.
Betrachten wir nun den Weg, der den schwäbischen Denker zu dieser sehr interessanten Schlussfolgerung führte.
(1803-1805)
implizit im religiös-metaphysischen Prinzip des Absoluten:
die Geburt der Logik als absolute Religion
Vom Moment des Abschlusses des Ethiksystems an, etwa in der ersten Hälfte des Jahres 1803, begibt sich Hegel auf den Weg zur Suche nach der absoluten Religion. Offensichtlich ist dies keine leichte Aufgabe, andererseits hatte er bereits in früheren Jahren verschiedene Überlegungen angestellt, etwa am Ende der französisch-bürgerlichen Zeit in Bezug auf das Verhältnis von endlichem Leben und unendlichem Leben und auf die Erhebung aus dem ersten zum zweiten, die ihm jetzt eine große Hilfe sein werden.
Das Grundproblem der Suche nach einer absoluten Religion stellt sich ihm als die noch allgemeinere Frage nach der Erkennbarkeit des Absoluten. Wenn das Absolute nicht erkennbar ist, wird es nicht einmal eine absolute Religion geben, sondern nur relative Religionen.
Hegel hat dieses Problem etwa in der zweiten Hälfte des Jahres 1803 bis zur zweiten Hälfte des Jahres 1805 behandelt. Die sozusagen »offizielle« Antwort darauf findet sich in der berühmten Phänomenologie des Geistes, erschienen 1807, aber ausführlicher, wenn auch fragmentarisch, bereits in den Vorjahren. Viel interessanter für uns sind jedoch die „inoffiziellen“ Antworten, als fragmentarische oder unveröffentlichte, die in den verschiedenen Werken der mehr oder weniger direkten Vorbereitung auf die Phänomenologie enthalten sind, also in der sogenannten „Werkstatt“ Hegels, d. h. in dieser Sammlung von Manuskripten, Fragmenten, Skizzen etc. die der Philosoph aus verschiedenen Gründen nicht veröffentlicht hat, die aber jedenfalls, sicherlich in „originellerer“ und „frischerer“ Form als die veröffentlichten Werke, den Fortschritt der langsamen, aber stetigen Entwicklung seines Denkens enthalten.
Vor allem ein Fragment ist in dieser Hinsicht von zentraler Bedeutung, da es eine Skizze der Religionsgeschichte der Menschheit enthält. Darin rekonstruiert Hegel diese Geschichte, indem er einen Fortschritt von relativen und historischen Formen der Religion zu ihrer absoluten und universellen Form identifiziert. Diese Form, mit der nach dem schwäbischen Denker die religiöse Entwicklung der Menschheit endet, stellt die Philosophie dar, die also mit der absoluten Religion zusammenfällt. [109]Dieses Fragment ist zu Recht unter dem Titel Fortsetzung des „Ethischen Systems“ überliefert, da es perfekt mit der anderen Handschrift verknüpft ist, insbesondere mit ihrer abschließenden Ergänzung, die sie abschließt. Hinsichtlich der Datierung ist es, da das dazugehörige Manuskript derzeit verschollen ist, nicht möglich, den genauen chronologischen Zeitpunkt der Abfassung durch eine graphologische Studie zu bestimmen. Inhaltlich ist es jedoch in die Zeit von 1802 bis 1805 einzuordnen. [110]Ja, gerade in dieser Zeit - um die Wahrheit zu sagen, jedoch um ein Jahr verschoben, also von 1803 bis 1806 - vollzog sich die vollständige Ausarbeitung der Hegelschen Philosophie in der begrifflichen, wenn nicht sprachlichen, so doch fast endgültigen Form die Abfassung des Manuskripts der Logik/Metaphysik, der Phänomenologie des Geistes als ihrer Propädeutik und der Manuskripte der Philosophie der Natur und des Geistes als „reale“ Teile des Wissenschaftssystems.
Das Fragment Fortsetzung des „Systems der Ethik“ bietet eine sehr präzise Antwort auf das Problem der Suche nach der absoluten Religion, das am Ende des Manuskripts zur Philosophie der Ethik von 1802/03 ungelöst geblieben war, das vorwegnehmend oder annehmend Ergebnisse der Konstruktion des Systems, insbesondere der Begriff der Philosophie als Wissenschaft, charakteristisch sowohl für Logik / Metaphysik als auch für Phänomenologie.
Ihre Abfassung kann daher, je nachdem, ob sie unter dem Gesichtspunkt der Antizipation oder der Vorannahme dieser Ergebnisse interpretiert wird, unmittelbar vor der Abfassung der vorgenannten Manuskripte (d. h. zwischen dem Abschluss des Ethiksystems und dieser Abfassung) stattgefunden haben ) oder danach. Im ersten Fall dürfte es dann in der zweiten Hälfte des Jahres 1803, im zweiten Fall um 1805/06 angesiedelt sein. Offensichtlich ist auch eine dritte Lösung möglich, nämlich dass dieses Fragment von Hegel in der Zeit der Abfassung der verschiedenen jenesischen Systematikhandschriften, also zwischen 1803 und 1806, geschrieben wurde, auch wenn diese Hypothese von einem logischen und immanenten Standpunkt aus zutrifft wenig Relevanz, da ohnehin die Problematik des Vorschusses bzw. der Übernahme der Ergebnisse des Systems offen und zu definieren bliebe.
Eines steht jedoch fest: Das Fragment Fortsetzung des ’Systems der Ethik’ gehört zu jener Gruppe von kurzen Texten und Fragmenten, die alle mehr oder weniger direkt auf das Zukunftsthema des absoluten Geistes, also der Formen (Kunst, Religion, Philosophie) und die Grade (Polytheismus, Monotheismus, Idealismus) der Präsentation des Absoluten für das menschliche Bewusstsein. [111] Diese Problematik ist offenbar das Grundproblem, mit dem sich Hegel in der Zeit von 1803 bis 1806 konfrontiert sah und dessen praktisch endgültige Ergebnisse das gerade dem absoluten Geist gewidmete Schlußkapitel der Philosophie des Geistes von 1806 enthält.
In der vorliegenden Arbeit wird die Hypothese aufgestellt, dass die Abfassung des Fortsetzungsfragments des „Ethischen Systems“ nach Hegels Abfassung der Manuskripte von 1803-05 erfolgte, dh wir gehen von dessen Standpunkt aus dieses Fragment setzt die Ergebnisse voraus, die der Stuttgarter Philosoph in der betreffenden Zeit erzielt hat. Der Grund dafür liegt darin, dass mehrere im Fragment enthaltene Begriffe, allen voran sein Grundbegriff der Philosophie als absoluter Religion, aber beispielsweise auch die bereits deutlich dialektische Struktur, nach der die historische Entwicklung der Religion aus der Form der ursprüngliche Identität zur endgültigen Versöhnung durch das zentrale Moment der Opposition und der Spaltung,
Vergleicht man dieses Fragment mit den anderen der vorgenannten Gruppe, z. Mit dem Fragment... es ist nur die Form (1803/04) oder Des göttlichen Dreiecks (1804) ist deutlich zu erkennen, dass Hegel in ihnen viel problematischer ist, das heißt, er erweist sich als immer noch auf der Suche nach einer Antwort zur absoluten Frage der Religion. In dem Fragment Fortsetzung des „Systems der Ethik“, wie übrigens auch in den anderen C. Science von 1805, ist er dagegen entschieden kategorisch und sicher, dass absolute Religion Philosophie, dh „Wissenschaft“ im spekulativen Sinne sei dialektische Philosophie, nicht Religion als solche noch Kunst.
1804 scheint Hegel daher zumindest nicht klar und deutlich zu dem Schluss gekommen zu sein, dass die Philosophie, seine eigene Philosophie, die Erkenntnis des Absoluten ist, da die Philosophie des Geistes von 1803/04 das Schlusskapitel noch nicht enthält auf dem absoluten Geist, in dem eben diese Vorstellung entblößt und enthalten sein wird. Sie enthält, um die Wahrheit zu sagen, eine Andeutung davon im Fragment... es ist nur die Form, die deutlich zeigt, wie Hegel auf den endgültigen Abschluß der Philosophie als adäquate Erkenntnis des Absoluten zuging, dort aber noch nicht angekommen war alles und explizit.
Tatsächlich enthält die Philosophie des Geistes erst in der Fassung von 1805/06 das Kapitel über den absoluten Geist in seiner praktisch endgültigen Form und offenbart damit, dass Hegel inzwischen zu diesem Schluss gelangt war, nämlich zu dem Verständnis, dass das wahre und Eine endgültige Erkenntnis des Absoluten kann nur durch spekulatives philosophisches Denken erlangt werden, indem diese Konzeption an ihrem endgültigen Platz innerhalb des Systems eingefügt wird, das heißt im dritten Absatz, der der Philosophie gewidmet ist, des Kapitels über den absoluten Geist. Hegel muss also um 1805/06 zu dem endgültigen Schluss gekommen sein, wonach die spekulative Philosophie zur Erkenntnis des Absoluten führt, daher erscheint die Datierung 1805 für das Fragment „Fortführung des ‚Ethischen Systems‘“ am wahrscheinlichsten, wie es ist auch das logischste.
Die Abfassung des fraglichen Fragments und damit Hegels definitive Antwort auf die Frage nach der Suche nach der absoluten Religion ist im Lichte dieser Interpretation dann eher in die Zeit der Abfassung des Fragments C. Wissenschaft (1805) und des Kapitels einzuordnen zum absoluten Geist der Philosophie des Geistes von 1805/06 als in der Zeit der Abfassung der beiden anderen Fragmente.
Abschließend lässt sich festhalten, dass die verschiedenen Texte, die Hegel in der zweiten Hälfte seines Aufenthaltes in Jena verfasst hat, den Weg der Ausarbeitung der Auffassung von der Philosophie als der einzig möglichen Form authentischer und damit wissenschaftlicher Erkenntnis des Absoluten markieren. Diese Auffassung findet ihren deutlichsten Ausdruck in dem Fragment Fortführung des „Systems der Ethik“ in historischer Perspektive und in dem Kapitel über den absoluten Geist der „Philosophie des Geistes“ von 1805/06 in systematischer Perspektive. Die Phänomenologie des Geistes (1807) wird dann versuchen, diese beiden Perspektiven zu vereinen, die jedoch in Hegels reifem und endgültigem philosophischen System getrennt bleiben werden: Die systematische Perspektive wird ihre eigentliche Formulierung im Kapitel über den absoluten Geist der Enzyklopädie finden,
Der Beitrag der wichtigsten dieser Texte zum Fortgang der Entwicklung des Hegelschen Denkens soll weiter unten untersucht werden; es genügt vorweg, vorwegzunehmen, dass sie verschiedene Stationen auf Hegels Weg markieren, von seiner eigenen, im Systemfragment von 1800 ausdrücklich formulierten Vorstellung von Frankfurt, das heißt, dass die Philosophie mit der Religion enden müsse, bis zur endgültigen, in einer Form formulierten Vorstellung für den privaten Gebrauch bestimmt in dem Fragment „Fortführung des Ethischen Systems“ (1805) und in einer für den öffentlichen Gebrauch bestimmten Form in der Phänomenologie des Geistes (1807), dass die Religion mit dem absoluten Wissen, also mit der Philosophie enden muss.
Das Absolute ist nicht Substanz, sondern Subjekt:
die Geburt des Hegelschen philosophischen Systems als
„System der spekulativen Philosophie“
In der immanenten Entwicklung seines eigenen Denkens gelangte Hegel daher gegen Mitte des Jahres 1803 zu der Notwendigkeit, das Absolute zu verstehen, um dann eine absolute Religion zu gründen, die wiederum die Grundlage der absoluten Ethik ist. Ein solches Programm kann er nun durchführen dank der neuen Struktur seines eigenen Denkens, das doch nicht mehr das immer noch Religiöse und Repräsentative des Fragments des Systems ist, sondern das dezidiert philosophisch-begriffliche, das für die deutsche idealistische Philosophie typisch ist der Zeit und insbesondere seines Schelling-Hochschulkollegen.
Der erste Schritt Hegels zur Ausgestaltung der Philosophie als absoluter Religion besteht in der Tat in der Überwindung der noch Schellinghschen Position der Identitätsphilosophie, in deren Perspektive er das Problem der Erkenntnis des Absoluten seit 1801 betrachtet hatte dieser Punkt. Moment. Tatsächlich offenbaren Hegels jenesische Schriften bis etwa 1803 die logische Grundstruktur von Schellinghs Philosophie.
Nach dieser Philosophie ist das Absolute die Identität von Subjekt und Objekt, die sich aufspaltet in subjektives Subjekt-Objekt, das die Philosophie der Intelligenz belebt, und objektives Subjekt-Objekt, das die Philosophie der Natur belebt. Nach Schelling haben wir Intuition und kein Wissen um das Absolute an sich, also nicht in seinen besonderen Erscheinungsformen. Diese Intuition tritt insbesondere in der Kunst auf, einem Phänomen, in dem der Mensch die Einheit zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen bewusst und unbewusst erfasst, d woraus das Absolute gerade besteht.
Diese Schellinghsche Auffassung kann Hegel gegen die zweite Hälfte des Jahres 1803 nicht mehr akzeptieren, da die Schlußfolgerungen, zu denen er in den Jahren 1802/03 durch die Theorie der absoluten Ethik gelangt ist, ihr widersprechen. Die absolute Ethik setzt nämlich die Kongruenz zwischen individuellem Handeln und universellem Handeln voraus, und das bedeutet, dass sich das Absolute im menschlichen Leben nicht als intuitive ästhetische Tatsache, in der Ekstase des künstlerischen Schaffens oder Entfaltens, sondern als begriffliche Tatsache im Wissen manifestieren muss ist in der „Tätigkeit, zu der prinzipiell jeder Mensch Zugang hat, sofern er bereit ist, die „Anstrengung des Begriffs“ auf sich zu nehmen, wie Hegel sich in der Phänomenologie des Begriffs ausdrückt Geist (FS, 121).
In der Tat, wenn dies nicht der Fall wäre, dh wenn die Präsentation des Absoluten nur in der künstlerischen Erfahrung stattfinden würde, würde es ein Privileg weniger Auserwählter bleiben und der großen Mehrheit der Menschheit verwehrt bleiben. Das ästhetische Moment der Schöpfung und der künstlerischen Verwirklichung liegt nämlich außerhalb der Logik, außerhalb des individuellen Gewissens, es hängt nicht von einem Willensakt und damit von der Freiheit ab, zu der jeder Mensch Zugang hat, unabhängig von Rasse, Nationalität, Staat, Gesellschaft usw. Wenn tatsächlich die Vorstellung des Absoluten, das heißt des Allgemeinen, im Menschen, also im Einzelnen, an der Stelle der Gleichgültigkeit zwischen Unbewusstem und Bewusstem, Natur und Geist, also in der Nacht, wo „alle Kühe sind schwarz", um in diesem Zusammenhang einen anderen berühmten Hegelschen Ausdruck zu gebrauchen (FS, 68), die als Voraussetzung der absoluten Ethik notwendige Kongruenz zwischen individuellem Handeln und universellem Handeln bliebe in der Hand des Zufalls, der künstlerischen Inspiration des Augenblicks, und wäre daher kein allein vom Menschen abhängiger Freiheitsakt. Ethik setzt aber die Freiheit, Unabhängigkeit und Autonomie des Menschen, seine Verantwortung voraus, kann also jedenfalls nicht auf einer mehr oder weniger zufälligen Handlung beruhen, zumal wenn es sich um eine absolute Ethik handelt eine Ethik, die prinzipiell für alle Menschen gilt.
In einer absoluten Ethik, die wirklich eine solche ist, muss sich das Absolute grundsätzlich jedem Menschen darstellen können und nur der einzelne Wille muss sich entscheiden können, es sich darstellen zu lassen, es in sich aufzunehmen, durch die „Anstrengung“. des Begriffs“, also bereit sein, ihn zu kennen, ihn zu kennen.
Ab 1803 sah sich Hegel daher mit dem Widerspruch zwischen seiner eigenen ethischen Philosophie, die auf dem Begriff der absoluten Ethik basierte, und der theoretischen Philosophie Schellinghs konfrontiert, die bisher die Grundlage seines eigenen Philosophierens gewesen war. Er findet die Lösung dieses Widerspruchs, identifiziert die Schwachstelle der philosophischen Konzeption des ehemaligen Universitätsstudenten und überwindet sie in einer neuen Konzeption des Idealismus. Hegels Kritik basiert auf der Überlegung, dass Schellings Philosophie in Bezug auf das Absolute auf einem „äußeren“ Standpunkt verharrt, das Absolute in seinen subjektiven und objektiven Manifestationen bloßstellt, aber das Absolute nicht als „es ist“ erfasst an sich. Insofern ist es eine ‚reflektierende‘ Perspektive in Bezug auf das Absolute,
Es ist diese grundlegende Intuition, die Hegel im Laufe der Jahre entwickelt hat und langsam sein eigenes philosophisches System als „Selbstdarstellung des Absoluten“ und nicht als Darstellung desselben durch das reflektierende und philosophierende Subjekt geschaffen hat. Kurz gesagt, es ist eine Frage des Verständnisses seitens des jungen Lehrers, dass, wenn man zu einer vollen nachweisbaren Erkenntnis des Absoluten gelangen will, die wahre Wissenschaft ist und daher im Prinzip das Erbe aller werden kann, es ist notwendig, dass es nicht das philosophierende Subjekt ist, die verschiedenen Begriffe aufzudecken, die die Struktur des Absoluten ausmachen, sondern dass sie sich selbst aufdecken, einen aus dem anderen entwickeln. Nur so wird das Ergebnis, also die Erkenntnis des Absoluten, eine objektive Wissenschaft sein, die jedem Menschen verständlich ist,
Die logische Erkennbarkeit des Absoluten ist in der Tat die Voraussetzung der Absolutheit der Ethik, also auch ihrer Erreichbarkeit für jeden Menschen, also letztlich wahrer Demokratie, wie Hegel sich im abschließenden Zusatz zum System der Ethik ausdrückt.. Nur von einem solchen "höheren Standpunkt", nicht subjektiv, sondern objektiv, nicht reflektierend, sondern spekulativ, können wir dann eine wahre Erkenntnis des Absoluten haben, also zum Verständnis der Grundlagen der absoluten Ethik gelangen, d die Kongruenz zwischen handelndem individuellen und universellem Handeln. [112]In der Tat wird der Mensch, der zu diesem wahren Verständnis des Absoluten gelangt ist, so von seinem eigenen endlichen Wesen zu seinem unendlichen Wesen, von seiner eigenen subjektiven Empirie zu seiner eigenen Absolutheit erhoben, indem er „Eins“ geworden ist. mit dem Absoluten, nach der schon von Hegel am Ende der frankofortesischen Zeit ausgearbeiteten Auffassung. „Das Absolute zu kennen“ bedeutet durch die Philosophie als Wissenschaft tatsächlich „das Absolute zu sein“, da das Absolute seiner Definition nach keine besondere Entität sein kann, sondern etwas „Loses“ sein muss, gemäß der „Etymologie des“. Begriff "absolut", getrennt von bestimmten Entitäten, aber dennoch in ihnen vorhanden. Wenn die subjektive Vernunft das Absolute wissenschaftlich versteht, also einer immanenten Selbstdarstellungslogik folgt, sie lässt alles Empirische, Subjektive usw. und lässt jenes Lose, Gesonderte in sich darstellen, das in jedem Wesen vorhanden ist. Dabei ist sie nicht mehr die Vernunft des einzelnen Menschen, sondern das Absolute an sich, das nun im subjektiven Geist des Einzelnen vorhanden ist. Dadurch hat der Einzelne das Allgemeine in sich aufgenommen, er hat sich zum Allgemeinen erhoben. Auch sein Handeln wird also ebenso wie sein Wissen nicht das Handeln eines bestimmten empirischen Individuums sein, sondern das Handeln des absoluten Individuums, und dieses Handeln wird das eigentümliche Handeln aller Individuen sein, die diese Erhebungsform erreicht haben. So hat Hegel durch die Konzeption der Philosophie als Wissenschaft die absolute Ethik begründet. Dabei ist sie nicht mehr die Vernunft des einzelnen Menschen, sondern das Absolute an sich, das nun im subjektiven Geist des Einzelnen vorhanden ist. Dadurch hat der Einzelne das Allgemeine in sich aufgenommen, er hat sich zum Allgemeinen erhoben. Auch sein Handeln wird also ebenso wie sein Wissen nicht das Handeln eines bestimmten empirischen Individuums sein, sondern das Handeln des absoluten Individuums, und dieses Handeln wird das eigentümliche Handeln aller Individuen sein, die diese Erhebungsform erreicht haben. So hat Hegel durch die Konzeption der Philosophie als Wissenschaft die absolute Ethik begründet. Dabei ist sie nicht mehr die Vernunft des einzelnen Menschen, sondern das Absolute an sich, das nun im subjektiven Geist des Einzelnen vorhanden ist. Dadurch hat der Einzelne das Allgemeine in sich aufgenommen, er hat sich zum Allgemeinen erhoben. Auch sein Handeln wird also ebenso wie sein Wissen nicht das Handeln eines bestimmten empirischen Individuums sein, sondern das Handeln des absoluten Individuums, und dieses Handeln wird das eigentümliche Handeln aller Individuen sein, die diese Erhebungsform erreicht haben. So hat Hegel durch die Konzeption der Philosophie als Wissenschaft die absolute Ethik begründet. Es wird also nicht das Handeln eines bestimmten empirischen Individuums sein, sondern das Handeln des absoluten Individuums, und dieses Handeln wird das eigentliche Handeln aller Individuen sein, die diese Form der Erhebung erreicht haben. So hat Hegel durch die Konzeption der Philosophie als Wissenschaft die absolute Ethik begründet. Es wird also nicht das Handeln eines bestimmten empirischen Individuums sein, sondern das Handeln des absoluten Individuums, und dieses Handeln wird das eigentliche Handeln aller Individuen sein, die diese Form der Erhebung erreicht haben. So hat Hegel durch die Konzeption der Philosophie als Wissenschaft die absolute Ethik begründet.
Für die Grundstruktur des idealistischen philosophischen Systems und damit des Seins, die es widerspiegeln will, bedeutet dies:
"[...] die Darstellung Gottes ist, wir er in ewig seinem Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist." (SW 21, 34, 9-11 ) |
Insofern sich das Absolute in der wissenschaftlichen Philosophie dem Menschen darbietet, kehrt es, nachdem es sich in der Natur gestaltet hat, in seine ursprüngliche Form zurück, die nicht materiell sein kann, also Raum und Zeit unterworfen ist, da es bei diesem Zufall nicht sein würde. aufgelöst’, es wäre eine Entität, aber es muss die ideale Form des Begriffs, des Denkens sein. Nur wenn das Absolute so begriffen wird, ist es nicht ein Drittes gegenüber Natur und Geist, sondern ihre Einheit, die ihnen das Dasein gibt, die ihr den eigentümlichen Charakter der Äußerung (Natur) oder Verinnerlichung (der Geist) gibt. aus ein und demselben Stoff. So gedacht ist das Absolute dann nicht einmal mehr als ’Substanz’, also als etwas Statisches wie Spinoza nach identitätsphilosophischer Auffassung zu betrachten,
Diese Grundkonzeption wird in der Hegelschen Entscheidung vorausgesetzt, erstmals für das Sommersemester 1803 einen Kurs über die ganze Philosophie als System der spekulativen Philosophie anzukündigen und nicht mehr wie bisher nur über die beiden entsprechenden Teile bzw. zur Logik / Metaphysik und zur Philosophie der Ethik (in diesem zweiten Fall handelt es sich um den naturrechtlichen Unterricht). [113] Die Fragmente der Philosophie des Geistes von 1803/04, die den von Hegel angekündigten Lehren zugrunde liegen, werden in der Tat mit der römischen Zahl „III.“ eingeleitet. und, wie Cantillo erklärt,
"[...] dies bedeutet in Übereinstimmung mit der Unterrichtsmitteilung vom Winter 1803/04, dass die Philosophie des Geistes den dritten Teil des Systems bilden sollte." [114]
Da das Fragment, auf das sich Cantillo bezieht, aus dem Winter 1803/04 stammt [115], muss geschlussfolgert werden, dass Hegel spätestens in dieser Zeit bereits die Darstellung seines eigenen philosophischen Systems in der triadischen Form konzipiert hatte später auch endgültig. Kimmerle äußert sich hierzu in seiner Studie zur Chronologie der jenesischen Schriften Hegels:
„Wesentlich ist auch, dass in diesem Fragment eine von Hegel erstmals für das Wintersemester 1803/04 angekündigte ‚Philosophie des Geistes‘ aufgestellt wird, so dass hier die Geburtsstunde des ‚Dreiklangs Idee, Natur‘ vorliegt ‚Geist‘ im Hegelschen System der Philosophie“ (S. 158).
Diese Schlussfolgerungen, zu denen uns die beiden aufmerksamen Gelehrten des Jenese Hegel führen, lassen uns zu einem weiteren Schluss kommen, nämlich dass Hegel in dieser Zeit zumindest in groben Zügen seine eigene Auffassung des Absoluten bereits formuliert und sich daher bereits endgültig davon gelöst haben muss Schellinghs Konzeption der Identitätsphilosophie, sonst hätte er seine eigene Konzeption der Entwicklung des Absoluten als Subjekt durch Natur und Geist nicht ausgearbeitet. Diese Auffassung wird vielmehr in den erhaltenen Fragmenten der Natur- und Geistesphilosophie sowie in den verschiedenen Ankündigungen der von Hegel an der Universität Jena in jenen Jahren abgehaltenen Philosophiekurse vorausgesetzt. [116]
Zusammenfassend: im Herbst 1803, auch korrespondierend mit der Ankündigung eines Kurses über Philosophiae universae delineationem des Sommersemesters und eines weiteren über Philosophiae speculativae Systema (complectens Logicam et Metaphysicam, philosophiam naturae et philosophiam mentis) des nächsten Wintersemesters, führt Hegel eine sehr wichtige konzeptionelle Operation durch: Er versteht die Einheit, die zwischen der menschlichen und der natürlichen Welt besteht, und vereint die Fragmente der Philosophie des Geistes (das frühere System der Ethik) und der Philosophie der Natur in einem einzigen System der Spekulation Philosophie, die die adäquate Form der Darstellung und Erkenntnis des Absoluten enthält.
An diesem Punkt der Konstruktion seines eigenen philosophischen Systems stellte sich Hegel daher vor:
Was ihm nun bleibt, ist die Konstruktion des Absoluten an sich herauszuarbeiten und dann auf Grund der eben gewonnenen neuen Ergebnisse das Problem der Hebung des Menschen vom endlichen (oder relativen) Bewußtsein zum unendlichen (oder absoluten) in Angriff zu nehmen ) Bewusstsein. ), nach der präzisen Definition der Frage nach der Erkennbarkeit des Absoluten, die er bereits im Systemfragment von 1800 angedeutet hat.
*
ZWEITE STUFE
(1804/05)
Die phänomenologische Frage nach der adäquaten Form
der Präsentation des Absoluten für das menschliche Bewusstsein
Nachdem Hegel den im ethisch-moralischen Ideal der absoluten Ethik impliziten Begriffsgehalt entwickelt und damit praktisch schon den Realteil seines eigenen philosophischen Systems aufgebaut hat, kehrt Hegel etwa um 1804/05 zu der 1803 ungelösten Frage nach der Begründung der Absolutheit der Ethik durch die absolute Religion. Die Ausarbeitung des ersten Versuchs, das System der Philosophie als Selbstentblößung des Absoluten zu konstruieren, unterbricht tatsächlich noch einmal an der Schlußstelle und gerade bei der Formulierung des Begriffs der Begründung der absoluten Ethik, also am Schluß der Fragmente über die späteren Themen der künftigen Philosophie des objektiven Geistes. [117]Erfreulicherweise ist ein Fragment erhalten, das Hegel im Wintersemester 1803/04 laut Kimmerle gegen dessen Ende und damit gegen Anfang des Jahres 1804 verfasst hat, [118] in dem der Philosoph das Thema der Beziehung zwischen Einzelbewusstsein und absolutem Bewusstsein, insbesondere wie kann absolutes Bewusstsein dem Einzelbewusstsein präsent werden. Es geht um das Fragment... es geht nur um die Form. [119]
Hegel stellt sich die Frage, was die geeignete Form sein sollte, um die Präsenz des Absoluten im Einzelbewusstsein zu sichern und es zum absoluten Bewusstsein zu erheben. Er untersucht verschiedene Möglichkeiten und bezieht sich sowohl auf die Religion als auch auf die Kunst.
In Bezug auf die Religion kommt der schwäbische Denker zu folgendem Schluss:
"[...] die Gestalten aber, darin dise lebendigen Einzelnen sich als absolutes Bewußtseyn anschauen, die steiferen der Religionen sind wesentlich wirkliche in der Geschichte existirende, nicht absolut freye Gestalten [...]" (GW6, 330, 10-13 ) |
Die Religion kann also aufgrund ihrer unaufhebbaren Verankerung im realen geschichtlichen Leben, also aufgrund der Tatsache, dass sie etwas Relatives zur Geschichte und nicht des Absoluten ist, das Absolute als solches im individuellen Bewusstsein nicht sicherstellen und damit zum Bewusstsein erheben... absolut.
Auch zur Kunst äußert sich Hegel negativ:
„Die Kunst, welche jener Liebe, jener romantischen Thaten, und diesen geschichtlichen Gestalten und diesem Vernichten des Bewußtseins Gegenwart gibt, kann solchem ??Innhalt sein Thema, daß er keine Gegenwart hat, sondern nur absolute Sehnsucht die bene Formhmen durch." (GW6, 331, 13-16 ) |
Es ist daher notwendig, einen anderen Weg zu finden, der es dem Absoluten ermöglicht, sich dem einzelnen Bewusstsein in reiner Weise, also ohne jene empirischen Elemente von Kunst und Religion, zu präsentieren. Kurz gesagt, Hegel versteht, dass es notwendig ist, die „Darstellungsform“ des Absoluten an seine „Empfangsform“ durch das einzelne Bewusstsein anpassen zu können.
Die Darstellungsform des Absoluten für das Einzelbewußtsein muß die Form der Allgemeinheit, das heißt der Reinheit und Absolutheit sein, da das Absolute die subjektive und objektive Vernunft ist; "Aufgelöst" von jeglichen Inhalten. Daher muss auch ihre Rezeptionsform die reine der Allgemeinheit und Absolutheit sein.
So äußert sich Hegel in den letzten erhaltenen Sätzen darüber, da das Fragment leider unvollständig (ohne Anfang und ohne Ende) überliefert ist:
„Der Innhalt in dem das absolute Bewußtsein erscheint, muß sich von seiner Sehnsucht, von seiner Einzelnheit sterben ein Jenseits der Vergangenheit und der Zukunft hat befreyen, und der Weltgeist nach der Form der Allgemeinheit ringen; der blosse Begriff des absoluten Selbstgenusses muss aus der Realität in die er sich als Begriff versenkt hat, erhoben [werden], und davon er sich selbst die Form des Begriffes, reconstruirt er die Realität seiner Existenz und wird absolute Allgemeinheit. (GW6, 331, 16-22 )
|
Dies sind die letzten Worte des Fragments. Es ist ersichtlich, zu welchem ??zumindest vorläufigen Schluss Hegel gelangt, nämlich dass, wenn die Darstellungsform Allgemeinheit ist, wie dies die Form des „Weltgeistes“ ist, so auch seine Rezeptionsform sein muss das Einzelbewusstsein.
Abschließend muss das einzelne Bewusstsein das Absolute in Form von Universalität akzeptieren. Nur so ist es möglich, dass sich das Absolute dem einzelnen Bewusstsein darstellt und dieses somit zum absoluten Bewusstsein aufsteigt.
Es ist also klar, dass Hegel mit diesen Überlegungen der Lösung des Grundproblems sehr nahe gekommen ist, das ihn daran gehindert hatte, das System der Ethik zu schließen, nämlich das Problem der Begründung der absoluten Ethik, insbesondere der Frage, wie man es schafft, den Menschen zu führen empirisch zu sein, zum Absoluten aufzusteigen, so dass seine Handlung zur Handlung des Absoluten selbst wird und schließlich zur Handlung des empirischen Individuums wird.
Um dieses Ziel zu erreichen, ist es daher notwendig, die Form der Erkenntnis des Absoluten mit der Seinsform des Absoluten zu vereinen, die die der Allgemeinheit, des Begriffs ist, wie Hegel sich an der zitierten Stelle ausdrückt.
Leider können wir nicht wissen und werden es vielleicht nie erfahren, ob Hegel in der Fortsetzung des jetzt verlorenen Fragments mit eigenen Überlegungen noch weiter gegangen ist und so zu dem weiteren Schluss gelangt ist, dass diese Form nur die der Philosophie sein kann. Dann hätten wir in diesen Fragmenten von 1803/04 bereits Hegels erstes vollständiges philosophisches System. In der Tat würden sie deutlich, wenn auch sicherlich noch nicht in der klaren und deutlichen Form des reifen Systems zum Ausdruck gebracht, die Vorstellung von der Philosophie als der einzigen Form der Rezeption des Absoluten enthalten, die geeignet ist, die Erhebung des einzelnen Bewusstseins zum absoluten Bewusstsein zu erreichen ; dies durch das konzeptionelle Verständnis der Form des Absoluten, das sowohl der Kunst als auch der Religion überlegen ist.
Diese Vermutung wird dadurch gerechtfertigt, dass sich Hegel im letzten erhaltenen Satz des Fragments in diesem Sinne ausdrückte, obwohl er den Ausdruck „Philosophie“ nicht in Bezug auf die adäquate Darstellungsform des Absoluten für das einzelne Bewusstsein gebrauchte.
*
DRITTE STUFE
(1805)
Die absolute Religion ist Philosophie
Die Fortschritte der Jahre 1803-05 erlauben es Hegel nun, die Frage nach der Herausbildung einer absoluten Religion auf der Grundlage einer absoluten Ethik endgültig zu lösen. Diese Lösung ist ausdrücklich in dem Fragment Fortsetzung des „Systems der Ethik“ enthalten, das die Schließung des Systems der Ethik darstellt, also seine Fortsetzung nach der Unterbrechung, die durch das Auftauchen der obigen Frage verursacht wurde.
In diesem von Rosenkranz überlieferten Fragment [120] [121] zeichnet der Stuttgarter Philosoph den Weg der Menschheit nach, der vom Standpunkt der ursprünglichen, aber unbewußten Identität des Geistes mit sich selbst aus aufsteigt, zunächst zum Gesichtspunkt der Spaltung und schließlich der endgültigen und bewussten Versöhnung. Dieser Weg stellt den Grundsinn der Religionsgeschichte der Menschheit dar, die Hegel in die folgenden drei Phasen einteilt: natürliche polytheistische Religion (erste Phase, ursprüngliche Identität), christliche monotheistische Religion (zweite Phase, Spaltung) und schließlich Philosophie, also ihre Philosophie Idealismus (dritte Phase, Versöhnung).
Den spirituellen Inhalt der dritten Phase bildet die letzte Stufe, die die Menschheit im religiösen Prozess der Erhebung vom endlichen Bewusstsein zum unendlichen Bewusstsein erreicht, das heißt im Übergang vom Standpunkt des empirischen und subjektiven Bewusstseins zum reinen und absolutes Bewusstsein. Hegel definiert diesen Standpunkt mit folgenden Worten:
„Nach- | dem nun der Protentanismus die fremde Weihe ausgezogen, kann der Geist sich als Geist in eigener Gestalt zu heiligen und die ursprügliche Versöhnung mit sich in einer neuen Religion wagen, inche der unendlichen Schmerzen herstellen und die ganzen Schwes abüines a weltommensatz, sich auflöst, wenn es nämlich ein freies Volk geben und die Vernunft ihrer Realität als einen sittlichen Geist wiedergeboren Haben WIRD, der die Kühnheit Haben kann, auf eigenem Boden und aus eigener Majestät sich seine ne blindhén eine Gestalt. in der Kette der absoluten Nothwendigkeit, an der sich die Welt forbildet. Jeder Einzelne kann sich zur Herrschaft über eine größere Länge dieser Kette allein erheben, wenn er erkennt, wohin die große Nothwendigkeit will und aus dieser Erkenntniß die Zauberworte aussprechen lernt, die ihre Gestalt hervorrufen. Diese Erkenntniß, die ganze Energie des Leidens und des Gegensatzes, der ein paar tausend Jahre die Welt und alle Formen ihrer Ausbildung beherrscht hat, gleichzeitig in sich zu schließen und sich über ihn zu erheben, diese Erkenntniß zu erheben. (Or. dt. 140-1411 jetzt auch in GW5, 465, 1-17 ) |
Hegel stellt daher an dieser Stelle klar, dass die „dritte Form der Religion“ der Menschheit die Philosophie sein muss, da diese die eigentliche Form der Vernunft, d Stufe der Menschheit nach der natürlichen oder polytheistischen Religion und der übernatürlichen oder monotheistischen). [122]
Rosenkranz äußert sich diesbezüglich zu dem ihm noch vorliegenden Text wie folgt:
„Obwohl nun Hegel damals den Protestantismus für eine eben so endliche Form des Christenthums hielt, als den Katholicismus, so ging er doch nicht, wie Viele seiner Zeitgenossen, zum Katholicismus über, sondern glaubte, aus dementhumung der Philosophie und der Philosophie durch gerade Form der Religion sich hervorheben werde.“ (Originaltext S. 140 jetzt auch in GW5, 464, 20-24 ) |
Der Aufstieg der Philosophie zum religiösen Führer der Menschheit markiert somit die Erreichung des höchsten Grades in der Erhebung vom endlichen Leben zum unendlichen Leben, das heißt, den Grad der Identifizierung des endlichen Lebens mit dem unendlichen Leben, des Menschen mit Gott der individuelle Geist, der dem Menschen innewohnt, mit dem absoluten Geist, der im ganzen Universum gegenwärtig ist.
Auf diese Weise löst Hegel das Problem, das am Ende des Ethiksystems auftauchte und das ihn daran gehindert hatte, die erste Version seiner ethischen Philosophie abzuschließen. Tatsächlich bestand dieses Problem in der Notwendigkeit, das individuelle Handeln mit der allgemeinen Ethik in der absoluten Ethik zur Deckung zu bringen, wie es der Philosoph erstmals auch in der Abhandlung über die mannigfaltigen wissenschaftlichen Behandlungsmethoden des Naturrechts von 1802 formuliert hatte um zur Ausarbeitung einer absoluten Religion als Grundlage dieser Ethik zu gelangen, gemäß dem, was zum ersten Mal 1803 im schriftlichen System der Ethik ausgearbeitet wurde. Zusammenfassend fährt Hegel mit folgenden Überlegungen fort:
In der im Fragment enthaltenen Fortsetzung des „Systems der Ethik“ wird dieses Problem gelöst, da die Philosophie als absolute Religion einerseits die Erhebungsform des endlichen Menschen zum unendlichen Leben, zum Absoluten, durch die Erhebung ist des Bewußtseins vom empirischen zum reinen, andererseits führt diese Erhebung den empirischen Menschen zur Identifikation mit dem Absoluten, und damit wird auch sein Handeln nicht mehr nur ein individuelles Handeln sein, sondern ein absolutes Handeln, ein ethisches Handeln.
Die Tatsache, dass das vorgenannte Fragment den Titel Fortsetzung des „Systems der Ethik“ trägt, ist daher kein Zufall, da dieses Fragment tatsächlich Hegels Wiederaufnahme und Abschluss der ursprünglichen Version seiner eigenen Philosophie des objektiven Geistes, des Systems der Ethik, darstellt. Dieses Fragment dann entspricht in historischer Perspektive dem, was im System die Philosophie des absoluten Geistes sein wird, also die Begründung auf systematischer Ebene der Absolutheit der Ethik.
Dies ist nicht das einzige Fragment, das den weiteren konsequenten Schritt Hegels dokumentiert, aber es gibt noch weitere, wie zB. alle Fragmente, Etüden, Lektionen etc. die dann von Hegel für den Entwurf der Phänomenologie des Geistes verwendet und in diese integriert werden. Ja, gerade das phänomenologische Thema, also der Weg des einzelnen Menschen (Einzelbewußtsein) und der Menschheit überhaupt (Allbewußtsein) von der empirischen Erkenntnis zur absoluten Erkenntnis, enthält die Hegelsche Antwort auf die Frage von 1803 Begründung der absoluten Ethik durch eine ebenso absolute Religion.
(1805/06)
Der „Abschluss“ des Systems
durch den Begriff des ’absoluten Geistes’:
die Entstehung von Hegels erstem vollständigen,
aber noch nicht endgültigen philosophischen System
An diesem Punkt der immanenten Entwicklung seines eigenen Denkens, wir befinden uns 1805/1806, schließt Hegel das im Entstehen begriffene philosophische System durch die systematische Ausarbeitung der im Fragment „Fortführung des ‚Systems der Ethik‘“ exponierten Auffassung der Philosophie als absoluter Religion ab.. Tatsächlich enthält es die Darstellung dieser Auffassung in historischer Form, dh nach der chronologischen Entwicklung der wichtigsten religiösen Auffassungen.
Hegel stellt jedoch bereits zu Beginn dieses Fragments klar, dass es sich nicht nur um eine chronologisch-historische Entwicklung, sondern auch um eine systematische und philosophische Entwicklung handelt, in dem Sinne, dass die logisch-dialektische Artikulation des Religionsbegriffs seine historische Entwicklung bestimmt, bilden die Form seiner Manifestation im Laufe der Zeit:
„Die Religion muss […] nach den allgemeinen drei Dimensionen der Vernunft […] weltgeschichtlich in folgenden drei Formen auftreten: 1) in der Form der Identität, in ursprünglicher Versöhntheit des Geistes und seines Reellseins in der Individualität; 2) in der Form, daß der Geist von der unendlichen Differenz seiner Identität anfange und aus ihr eine relative Identität rekonstruiere und sich versöhne; 3) diese Identität [...] wird das Einssein der Vernunft in Geistesgestalt und derselben in ihrem Reellsein [...]. (Ros.... GW5,...) |
Es ist daher klar, dass für Hegel bereits seit dem Schreiben dieses Fragments die historische Abfolge der drei Hauptformen der Religion der systematischen Struktur des Vernunftbegriffs gemäß dem folgenden dialektischen Schema entspricht, bereits geboren, wenn auch noch nicht vollständig gereift: ursprüngliche Identität (Versöhnung), Opposition, auf höherer Ebene wiedergewonnene Identität, einschließlich des Gegenteils (Versöhnung).
In dem zitierten Fragment entwickelt Hegel eher die Seite der historischen Entwicklung, wonach das erste Moment der natürlichen Religion (Polytheismus), das zweite der christlichen Religion (oder Monotheismus überhaupt) und das dritte der absoluten Religion oder Philosophie (Idealismus) entspricht.. Die systematische Seite der Frage entwickelt er stattdessen in der Philosophie des Geistes von 1805/06. [123]
Dieser Teil des Hegelschen philosophischen Systems in Jena enthält gegenüber der Version von 1803/04 einige Unterschiede, deren wichtigste zweifellos die Hinzufügung des noch fehlenden, obwohl darin erwähnten, Schlusskapitels über den absoluten Geist ist, [124] in der Vorgängerfassung von 1803/04. Das bedeutet also, dass Hegel in den Jahren 1804/05 diese Theorie endgültig ausgearbeitet und nun in sein System eingefügt, vervollständigt und abgeschlossen hat.
Sehen wir uns nun an, welche Bedeutung dieser Zusatz des Kapitels über den Begriff des „absoluten Geistes“ durch Hegel für sein eigenes philosophisches System hat.
In dem erwähnten Kapitel mit dem Titel C. Kunst, Religion und Wissenschaft, von dem das erwähnte Fragment C. Wissenschaft eine Vorstufe darstellt, legt Hegel die drei „Formen“ der Darstellung des Geistes an sich selbst aus, wobei Geist offensichtlich nicht Verstand sein soll das individuelle Wesen, sondern der universelle Geist, die absolute Essenz, die von ihrer Äußerlichkeit in der Natur in sich selbst zurückkehrt.
Der schwäbische Denker äußert sich dazu:
„Der absolut Freye Geist, der seine Bestimmungen in sich zurükgenommen, bringt nun eine andre Welt hervor; eine Welt, welche die Gestalt seiner selbst hat; wo sein Werk abgeschlossen ist in sich ist und er zur Anschauung seiner gelangt. (GW8, 277, 9-12 ) |
Diese Selbsterzeugung oder Selbstanschauung des Geistes geschieht auf drei verschiedenen Wegen, die auch als Stufen zu interpretieren sind, nach dem bereits gebildeten dialektischen Schema Unmittelbarkeit – Vermittlung – zur Unmittelbarkeit vermittelte Rückkehr.
Die erste Modalität ist die Kunst. Es ist der Geist, der sich auf unmittelbare, formale Weise empfindet:
„Sie ist die Form, der der Inhalt unmittelbar gleichgültig ist, und sterben sich in jedem herumwerfen könnte- jedes als Unendliches zur Anschauung bringen kann;“ (GW8, 278, 12-14 ) |
Diese Eigentümlichkeit der Kunst macht sie ungeeignet, das Wesen des Geistes zu erfassen, da dieses Wesen nicht etwas Formales, Unmittelbares ist, sondern ein Inhalt, das Ergebnis einer Vermittlung:
„Sein Element ist die Anschauung, aber sie ist die Unmittelbarkeit, welche nicht vermittelt ist – dem Geiste ist diß Element daher unangemessen. Die Kunst kann daher ihren Gestalten nur einen beschränkten Geist geben. Schönheit ist Form, | sie ist die Täuschung der absoluten Lebendigkeit, die sich selbst genügt, und in sich geschlossen und vollendet sey. Diß Medium der Endlichkeit; die Anschauung kann nicht das Unendliche fassen; es ist nur gemeynte Unendlichkeit. [...] Es ist nicht die Nothwendigkeit, - nicht die Gestalt des Denkens darin; - die Schönheit ist Verschmutzung der Schleyer, der die Wahreit bedekt, als die gleiche Darstellung. [...] der Künstler fodert daher haüffig, daß das Verhältniß zur Kunst nur Verhältniß zur Form sey, und von dem Inhalt zu abstrahiren sey; (GW8, 279, 15 - 27; 280, 1-3) |
Kunst ist also in sich selbst widersprüchlich, einerseits strebt sie danach, das Absolute, das Geist ist, zu erfassen; andererseits aber beansprucht es, es in der unmittelbaren Form der Anschauung zu erfassen, die ganz unzulänglich ist, um die Form des Geistes, die Vermittlung, Gedanke, Notwendigkeit ist, „vorzustellen“.
Hegel greift daher sowohl das Thema als auch die Terminologie und auch die Schlussfolgerungen des Fragments von 1805/06 auf... es ist nur die Form von 1803/04, zeigt jedoch, dass er zu einer viel präziseren Systematisierung gelangt ist. Dies zeigt sich deutlich darin, dass er statt Einzelbeispielen eine Grundsatzbegründung auf hohem Abstraktionsniveau vornimmt: Er bezieht sich nicht auf diese oder jene Kunstform, sondern auf die Kunst selbst, in seinem Konzept. Tatsächlich ist es der Kunstbegriff selbst, der die Notwendigkeit in sich trägt, zu etwas Höherem, zur Religion, überzugehen.
So drückt sich Hegel in seiner charakteristischen lapidaren Sprache aus, die die der großen systematischen Reifewerke inzwischen zweifellos vorwegnimmt:
„Die Kunst ist in Wahrheit, Religion.“ (GW8, 280, 7 ) |
Tatsächlich stellt sich der Geist in der Religion nicht in einer unmittelbaren, äußeren, schönen Form dar, sondern schon als Inhalt:
„In der Religion aber wird der Geist sich Gegenstand, als absolut allgemeines, oder als aller Natur [, des] Seyns und Thuns, und in der Gestalt des unmittelbaren Selbsts- das Selbsts ist allgemeines Wissen, und die Rükkehr dadurch in sich.“ (GW8, 280, 17-20 ) |
Wie in der Kunst bewegt sich Hegel auch in der Religion auf einem hohen Abstraktionsniveau, ohne Kompromisse mit der empirischen Realität einzugehen. [125]
In der Tat bezieht er sich nicht auf diese oder jene historische Religion, sondern auf die absolute Religion und greift damit das grundlegende Thema auf, das sich nach der Ausarbeitung des Begriffs der absoluten Ethik eröffnet hat.
Tatsächlich lautet die Fortsetzung der eben zitierten Passage so: